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Das geistliche Lied des 14. und 15. Jahrhunderts

Reinhard Strohm
  • Ein transkulturelles Repertoire

    Geistliche Lieder des Mittelalters, vor allem Weihnachtslieder wie In dulci jubilo oder Joseph, lieber Joseph mein (Joseph dearest, Joseph mine), sind heute vielen Menschen in aller Welt bekannt, innerhalb und außerhalb der ehemals „abendländischen“ Tradition. Diese Bruchstücke einer sonst fast vergessenen Kulturwelt scheinen wenig von ihrem familienfreundlichen Charme verloren zu haben, auch wenn die ihnen zugeordnete musikalische Praxis heute völlig anders ist: Die Lieder werden kaum mehr erlernt und gesungen, sondern abgespielt und in den Medien verbreitet. Die transkulturelle Wanderung des Repertoires könnte aber bereits mit dessen Ursprüngen zusammenhängen, denn es entstand und verbreitete sich von Anfang an als Alternative zum strikten kirchlichen Ritus (auch im aufführungspraktischen Sinn), so als ob es von vornherein zur Veränderung bestimmt gewesen sei. In der Neuzeit überstanden geistliche Lieder die Konfessionsunterschiede (z. B. durch Textanpassungen) und die Säkularisierung (z. B. durch Neudichtungen und Reformen); sie gelangten in andere Kontinente und werden seit dem 20. Jahrhundert auch in Popsongs verwandelt (z. B. durch musikalische Bearbeitungen). Und Textanpassungen, Neudichtungen, Reformbewegungen, musikalische Bearbeitungen kennzeichnen bereits das spätmittelalterliche Repertoire.

  • Europäische geistliche Liedrepertoires

    Im Spätmittelalter existierte längst ein überregionaler Fundus geistlicher lateinischer Lieder. Viele der älteren Lieder waren Tropen zum Benedicamus domino, die am Ende von Vesper oder Matutin gesungen wurden und somit in klösterlichen Gemeinschaften zu Hause waren. Bestimmte Tropen und Conductus wie Ad cantus leticie oder Verbum patris hodie, die z. T. noch auf das aquitanische Repertoire des 12. Jahrhunderts zurückgehen, waren vom Mittelmeerraum bis England im Gebrauch.[1] Die Überregionalität von Liedern erfährt heute zu wenig Beachtung, da die Forschung sich an nationalsprachlichen Grenzen orientiert. Sogar eine deutsche Leise wie Christ ist erstanden war immerhin von Siebenbürgen bis in die Niederlande bekannt; lateinische Übersetzungen zirkulierten auch in anderen Sprachgebieten. Dabei ist nicht immer sicher, ob Quellenhinweise auf ein Lied Christus surrexit sich auf das Singen des lateinischen Textes beziehen oder ob volkssprachlich gesungen wurde und nur der Hinweistext die lateinische Form wählt.[2] In einem Handschriftenfragment des ehemaligen Dominikanerklosters von Košiče (Slowakei, ehemals ungar. Kassa) ist neben einfachen mehrstimmigen Gesängen und Ars nova-Sätzen die einstimmige Melodie von Christ ist erstanden mit Worten in vier Sprachen unterlegt: lateinisch (Christus surrexit), Ungarisch, Tschechisch (Buoh wssemohucy) und Polnisch.[3]

    Seit der Mitte des 14. Jahrhunderts entstanden lateinische Cantionen in Böhmen, Mähren, Schlesien, Polen, dem deutsch-österreichisch-schweizerischen Raum und den Niederlanden.[4] Die Schaffung neuer lateinischer Lieder, oft in weltlichen Strophen- und Refrainformen, verlief parallel zu einem vergleichbaren Zuwachs neuer Texte für den traditionellen Kirchenchoral (z. B. in der Form von Tropen), neuer Reimgebete und geistlicher Dichtungen für den individuellen Gebrauch (vgl. Kap. Betrachtung und Gebet und Kap. Patris sapientia). Im 14. Jahrhundert waren monastische Institutionen besonders produktiv. Einen klösterlichen Hintergrund hat wahrscheinlich die Fronleichnams-Cantio Jesus Christus nostra salus, die irrig Jan Hus (ca. 1369-1415) zugeschrieben wurde und heute in einer Bearbeitung Martin Luthers bekannt ist (Jesus Christus, unser Heiland).[5] Dieses aus Böhmen stammende Lied findet sich schon im 15. Jahrhundert auch im österreichischen Raum (» A-Wn Cod. 4494), im Rheinland (Trier), in Westpreußen (Danzig) und in Dänemark.[6] Das tschechische „geistliche Volkslied“ Jesu Kriste, ščedrý kněže – eine der nur vier volkssprachlichen Cantionen, die im Jahr 1408 von der Prager Synode zum Singen zugelassen wurden – ist in der Melodie vielleicht ursprünglich mit der deutschen Leise Nu bitten wir den heiligen geist verwandt (» A. Dorotheenspiel).[7]

    Viele lateinische und volkssprachliche Lieder zu Weihnachten, Ostern, zur Marienverehrung und zu festlichen Gelegenheiten wie Prozessionen und Wallfahrten entstanden vor 1400 in Südeuropa: die Cantigas de Santa Maria, die italienische Lauda, die Pilgerlieder des katalonischen Llibre Vermell von Montserrat (E-MO Ms. 1). In England begann um 1400 die Praxis des Carol-Singens: nicht zum Tanz (carole = Tanzlied), sondern zu Andachten, Kollegienfesten und Umzügen.[8] Im Gegensatz zu den meisten Liedrepertoires auf dem Kontinent ist die englische Carol des 15. Jahrhunderts überwiegend mehrstimmig überliefert. Seit etwa 1390 dichteten in den Niederlanden Mitglieder der devotio moderna, der Beginen und Begarden, der Laienbruderschaften und Bettelorden neue lateinische Lieder, die z. T. religiöse Mystik und Innerlichkeit ausdrücken, so wie es auch in einem Zweig der Lauda des 15. Jahrhunderts zu beobachten ist.[9]

  • Lied und Liturgie

    Die geistlichen Lieder Zentraleuropas erklangen – soweit sie gesungen wurden – hauptsächlich in Gottesdiensten, daneben aber auch im weltlichen und privaten Bereich. Lateinische Cantionen wurden an Festtagen vom Schülerchor vorgetragen und in klösterlichen Codices gesammelt, wo man ihre relative Unabhängigkeit vom kirchlichen Ritus manchmal anerkannte, manchmal verschleierte.[10] Im südböhmischen Hohenfurter Graduale (» CZ-VB Ms. 42) von 1410 ist die Cantio Ave yerarchia nicht nur „in Adventu ad Missam Rorate“ rubriziert, sondern außerdem als Interpolationstropus zur Antiphon Salve regina verwendbar gemacht.[11] Denn eine verbreitete Funktion dieser Cantio war die eines Tropus zur Sequenz Mittit ad virginem, die in den Adventsmessen (Rorate-Messen) böhmischer Bruderschaften gesungen wurde. Die Verbindung mit dem Salve regina scheint hingegen eine lokale Erfindung. In derselben Handschrift, fol. 53r–59v, ist das Weihnachtslied Dies est leticie sogar als Gloria-Tropus verarbeitet.[12]

    Die Verwendung der Lieder in der rituellen Praxis lässt sich oft aus den Liedtexten selbst ermitteln. Auch die Liedtitel und Rubriken in liturgischen Ordinarien und Gradualien geben über den Gebrauch Aufschluss und in nichtkirchlichen Quellen geht der traditionelle Verwendungszweck eines Liedes nicht selten aus dem Zusammenhang hervor.[13] Auch zeitgenössische Predigten, geistliche Traktate, Schul- und Kirchenordnungen sowie Chroniken und andere literarische Quellen geben bisweilen über den rituellen Kontext Auskunft. Eine systematische Studie, die sich auf solche „Paratexte“ stützt, wurde 1968 von Johannes Janota vorgelegt.[14] Seine grundsätzliche Frage gilt dem Verhältnis zwischen Lied und Liturgie. Er kommt zu dem Ergebnis, dass dem Ritus hinzugefügte Gesänge schlechthin keinen liturgischen Status besaßen, außer wenn sie vom Priester oder der Schola auf Lateinisch im Zusammenhang mit einer liturgischen Handlung (actio liturgica) gesungen wurden und bischöfliche Approbation besaßen. Alle von anderen Teilnehmern beigesteuerten Gesänge, wie vor allem Kirchenlieder in der Volkssprache, hatten nur den Rang von frommen Übungen (pia exercitia).[15] Einschränkend muss zwar anerkannt werden, dass einige der älteren volkssprachlichen Lieder, wie eben z. B. Christ ist erstanden oder die deutschsprachigen Lieder im Seckauer Ordinarius von 1345 (» A. Gesänge zu Weihnachten), durch Aufnahme in kirchliche Ordinarien und Gradualien als Teile der Liturgie akzeptiert waren.[16] Hinsichtlich der musikalischen Gattungsgeschichte bestätigt sich jedoch, dass im 14. Jahrhundert noch innerhalb des lateinischen Repertoires ein Übergang vom offiziellen Ritus zur frommen Übung erfolgte: Der Tropus musste zusammen mit einem liturgischen Trägertext erklingen, während die Cantio, auch wenn sie formal gesehen ein Tropus war, ohne Trägertext anderweitig eingesetzt werden konnte (» A. Kap. Zur kulturellen Bedeutung).

  • Gesungene Praxis

    Keineswegs alle geistlichen Lieder waren zum Singen bestimmt. Bei sehr vielen Dichtungen war der Gesangsvortrag fakultativ oder stellte sich erst im Lauf der Verwendungsgeschichte ein (vgl. Kap. Patris sapientia). Typische Alternativen zu gesungenen Liedern waren die in Guido Maria Dreves‘ Analecta Hymnica so benannten Pia dictamina bzw. „Reimgebete und Leselieder“, also Gedichte für individuelle Meditation oder gesprochenes (Vor-)Lesen. Heinrich Laufenbergs Liedübersetzungen aus dem Lateinischen (» B. Traditionsbildungen des Liedes) sind vielfältig differenzierbar:[17] Es gibt Übersetzungen mit eindeutiger Gebrauchsfunktion – die zur überlieferten Melodie gesungen werden mussten –, didaktische Verskommentare zur Liturgie und Texte für private Frömmigkeitsübungen. Manche dieser Lieder wurden in Zyklen und Serien verfasst.[18]

    Nicht selten entstanden geistliche Lieder aus rituellen Handlungen heraus, indem sie die Mitwirkung oder den Respons einer größeren Gemeinschaft implizierten. Das Singen von Liedern in Gottesdiensten, Prozessionen, Mysterienspielen war oft Teil einer körperlichen und/oder kollektiven Aktivität: Man sang nicht nur, sondern tat etwas dazu. Von dieser „gesungenen Praxis“ ist die bloße Kenntnisnahme oder Mitteilung von Liedtexten und ‑melodien zu unterscheiden, wie z. B. beim individuellen Lesen oder Schreiben, wo der Aktionscharakter selbstverständlich geringer war. Freilich zeigt in manchen Aufzeichnungen die Notierung auch der Melodie, dass das Lied nicht nur zum Lesen gedacht war.

    Die fromme Übung des „Kindelwiegens“ in der Weihnachts- und Neujahrszeit (» A. Laienfrömmigkeit: Die Rolle der Kirche und » A. Weihnachtsgesänge) ist ein Beispiel gesungener Praxis. Doch wie genau passten die Lieder zur Aktion? Unserer Vorstellung nach waren für die Bewegung des Wiegens und für den Reigentanz um die Krippe Lieder im Dreiertakt geradezu unabdingbar. Das beliebte Resonet in laudibus – wohl das älteste bekannte Kindelwiegenlied – ist in älteren Quellen oft rhythmuslos aufgezeichnet und zeigt erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts die heutige rhythmische Notation. Im Moosburger Graduale von 1360 (» D-Mu Hs. 2°156; » Notenbsp. Resonet in laudibus) steht auf den jeweils ersten Silben des Tanzrufs „Eya, eya“ eine Doppelnote, auf den zweiten Silben jedoch nicht, so dass der Vortragsrhythmus ursprünglich „lang-kurz, lang-kurz“ gewesen sein dürfte, während später an dieser Stelle meist vier gleiche Längen notiert sind. Somit war zwar der Wiegerhythmus dreizeitig, aber die Taktordnung war nicht symmetrisch wie heute.

    Die folgenden Kapitel stellen Beispiele für verschiedene Arten und Intensitätsgrade gesungener Praxis vor, nämlich: Akklamation; Rufe und Leisen; Prozession; Umzüge, Wallfahrten, Geißlerlieder; Szenische Lieder; Betrachtung und Gebet.

  • Akklamation

    Ein wichtiges Beispiel gesungener Praxis ist der Vorgang der Akklamation (Anrufung, Begrüßung), an dem sich verschiedene Personen beteiligen können. Diese Art von Lied wird von einem Kollektiv vorgetragen und ist in der „wir“-Form verfasst – auch wenn die Ausführenden nicht die Gemeindemitglieder selbst, sondern z. B. die Chorschüler waren. Die Antiphon Cum rex glorie (» A. Osterfeier, Kap. Die Osterprozession; » Hörbsp. ♫ Cum rex glorie) erzählt in ihrem ersten Teil von dem Augenblick, in dem der auferstandene Christus in die Hölle gelangt, um die dort schmachtenden frommen Seelen zu befreien und die Teufel zu überwinden. Doch ihr zweiter Textteil ist eine Akklamation: Er zitiert in wörtlicher Rede die Rufe der in der Hölle wartenden Seelen, die den zu ihrer Erlösung erscheinenden Heiland begrüßen.

    Cum rex glorie
    Cum rex glorie Christus infernum debellaturus intraret
    et chorus angelicus ante faciem ejus portas principum tolli praeciperet,
    sanctorum populus qui tenebatur in morte captivus voce lacrimabili clamaverat:
    Advenisti desiderabilis, quem expectabamus in tenebris,
    ut educeres hac nocte vinculatos de claustris:
    Te nostra vocabant suspiria, te larga requirebant lamenta,
    tu factus es spes desperatis, magna consolatio in tormentis.

    Alleluia.

    Als Christus, der König der Ehre, die Unterwelt betrat, um sie zu besiegen,
    und der Chor der Engel vor seinem Antlitz die Tore der Höllenfürsten zu heben gebot,
    da rief das Volk der Heiligen, das im Tode gefangen gehalten wurde, mit zu Tränen rührender Stimme:

    Gekommen bist du, Ersehnter, auf den wir in der Finsternis warteten,
    damit du uns Gefesselte in dieser Nacht aus dem Kerker herausführst:
    Dich riefen immer unsere Seufzer, dich erflehten unsere langen Klagen,
    du wurdest zur Hoffnung den Verzweifelten, ein großer Trost in den Qualen.
    Halleluja.

     

     

    Die dramatische Szene von Christi Höllenfahrt war in vielen Formen beliebt, nicht nur als halbdramatischer Prozessionsgesang. Bildliche Darstellungen (wie Martin Schongauers Altarbild: » Abb. Christi Höllenfahrt) waren zahlreich; sogar ein Traktat zur Erklärung des Textes wurde verfasst.[19] So ist es verständlich, dass die Anrufung Advenisti noch weiter ausgestaltet wurde, um gleichsam auch die Schar der Gläubigen zu Wort kommen zu lassen: Es wurde der Tropus Triumphat Dei filius angefügt, der als eigene österliche Cantio weiterexistierte und in mehreren Quellen in striktem Rhythmus und mehrstimmig erscheint (» A. Osterfeier, » Hörbsp. ♫ Tropus Triumphat). In einigen Versionen lautet der Text Alle Dei filius – so als ob der Liedtext in das Wort „Alle-luia“ hineingefüllt worden wäre (» Notenbsp. Alle Dei filius Übertragung). Den Status des Alle Dei filius als eigenes Prozessionslied bekräftigen zeitgenössische mensurale Vertonungen, wie » Hörbsp. ♫ Alle Dei filius (Trient 91) (um 1470; aus » I-TRbc 91, fol. 145v–146r). Dieses Stück, das die Melodie des Tropus Triumphat als cantus firmus mitführt, ist sicher nicht in der Prozession gesungen worden und auch nicht unbedingt an Ostern. Vielmehr ließ man sich hier ein geistliches Lied in reicher harmonischer Ausstattung privat vorführen, vielleicht zur Andacht, vielleicht auch nur als musikalische Unterhaltung.

    Auch die Akklamation Advenisti selbst hat eine eigene „Entfremdungsgeschichte“: Sie wurde öfters zu weltlichen Zeremonien, wie dem festlichen Einzug eines Herrschers vorgetragen (» D. Advenisti: Fürsten und Diplomaten auf Reisen und » D. Krieg und Zeremonie). Dabei folgte man der Tradition der Laudes regiae (Christus vincit): Akklamationen, die seit karolingischer Zeit bei Auftritten von Kaiser oder König gesungen wurden. Der Antiphontext mit seiner Beziehung auf Christus gab solcher Herrscherdarstellung einen übersteigerten und eschatologischen (jenseitigen) Charakter. In den Trienter Codices gibt es Huldigungsmotetten auf den dortigen Bischof Georg Hack mit dem Advenisti-Text (z. B. » I-TRbc 88, fol. 336v–337r; » Hörbsp. ♫ Advenisti/Venisti nostras).[20]   

  • Rufe und Leisen

    Aus Anrufungen, Responsen oder Bittrufen – musikalische Aktionen, mit denen eine Gemeinde auf die liturgischen Riten reagieren durfte – ist das volkssprachliche Kirchenlied entstanden.

    Am bekanntesten war bereits im Mittelalter die Leise Christ ist erstanden, die seit dem 12. Jahrhundert in einer Antwort der Laien auf die Verkündigung der Auferstehung am Ende der visitatio sepulchri bestand (» B. SL Christ ist erstanden). Eine solche Antwort wird in zeitgenössischen Vorschriften gerne als „acclamatio“ oder „vociferatio“ (Anrufung, Geschrei) bezeichnet: ein Terminus, der überhaupt gern für die musikalische Beteiligung des Kirchenvolkes angewendet wurde.[21]

    Der Liber ordinarius von Seckau (1345) erwähnt als unterbrechende Akklamation des Laienvolks gegen den Chor („populo interim acclamante“) außer Christ ist erstanden noch ein anderes deutsches Lied, nämlich das erzählende Es giengen drei vrauwen.[22]

     

    Abb. Es giengen drei vrauwen

    Abb. Es giengen drei vrauwen

    Es giengen drei vrauwen und Christ ist erstanden (mit Neumen) am Schluss der visitatio sepulchri (linke Spalte unten)Seckauer Liber ordinarius, Universitätsbibliothek Graz (A-Gu), Cod. 756, fol. 90v.

    Neben Christ ist erstanden ist einer der ältesten Rufe in deutscher Sprache der schon im 11. Jahrhundert belegte Ostergesang Nu sys uns willekommen herro Christ, der in Norddeutschland (z. B. Aachen) im 13. und 14. Jahrhundert zeremoniell Verwendung fand, jedoch im süddeutschen Raum noch nicht nachgewiesen ist.[23] Typischer für die Region Österreich sind die heute noch bekannten Leisen Nu bitten wir den heiligen geist und In gottes namen faren wir, die vor allem für Wallfahrten und Pilgerreisen dienten.

    Das Pilgerlied In gottes namen faren wir wird erstmalig 1210 bei Gottfried von Straßburg zitiert;[24] Nu bitten wir den heiligen geist wurde im 13. Jahrhundert in einer dem berühmten Berthold von Regensburg (» Abb. Berthold von Regensburg) zugeschriebenen Predigt empfohlen (» A. Der Kremsmünsterer ludus). Dieser Leis und auch das Pfingstlied Kom heiliger geist, herre got dürften beide von der Antiphon Veni sancte spiritus, reple tuorum corda abgeleitet sein, obwohl sie in örtlichen Varianten der Aufführungspraxis auch mit der Sequenz Veni sancte spiritus, et emitte celitus zusammengebracht wurden.[25] Die Anrufung des heiligen Geistes galt als besonders wirksam gegen raschen Tod, weshalb sie als Bittlied für Pilgerfahrten geeignet war.[26]

    Rufe und Leisen waren auch in Böhmen verbreitet. In tschechischer Sprache ist schon 1375 der Ruf Hospodine pomiluj (Herr erbarme dich) überliefert, der vor der Predigt und während der Messe gesungen wurde.[27]

     Manche Rufe und Leisen sind heute vergessen. Helfen uns alle heiligen wurde mancherorts nach der Predigt am Allerheiligentag gerufen.[28] Ein anderer spontan lautender Bittruf, Nu helfe uns sande Marie, erklang in der Steiermark seit dem 13. Jahrhundert am Ende der ersten Weihnachtsmesse, im Zusammenhang mit der Lesung des Liber generationis und dem Gesang des Te deum laudamus. Im Seckauer Liber ordinarius von 1345 (fol. 33r) ist der Vorgang genau rubriziert und mit Noten versehen: „Te Deum. Populo acclamante Helf uns sande Mareye, helfet uns hymelischeu vrauwe“. [29]

    In einer Handschrift des Klosters Lambach aus dem 14. Jahrhundert (» A-LA Hs. 57) findet sich noch ein anderer heute verschwundener Text: Der Hymnus Rex Christe factor am Ende der Finstermette (» A. Osterfeier) wird strophenweise unterbrochen durch den Ruf der „Landleute“ („post unumquemque versum respondent rustici in hunc modum“): „Ist diu werlt alle so wundern fro dass sey got erlöset von der helle“.[30] Robert Klugseder entdeckte denselben Ruf, mit Neumen, in einem Brevier des Klosters Mondsee von etwa 1280 (» A-Wn Cod. 1985, fol. 183r) in der folgenden Form: „Kyrieleyson. Ia ist diu werlt elliu also fro, daz si got erloeste von der helle mit sein selbers pluete, er lait so vil der note durch die leute kyrieleyson“ (Nun ist die ganze Welt so froh, dass Gott sie erlöste von der Hölle mit seinem eigenen Blut, er litt so viel Not durch die Menschen, Kyrie eleison).[31] Es gibt weitere Belege aus der Salzburger Kirchenprovinz (Admont, St. Lambrecht) und aus Basel.[32] Eine Alternative war (u. a. in St. Lambrecht), den Hymnus Rex Christe factor strophenweise mit seiner eigenen Übersetzung Christ schepfer alles des da ist abwechseln zu lassen.[33]

  • Prozession

    Zur gesungenen Praxis gehörten immer die Prozessionen und andere körperlich bewegte Aktionen, die es im religiösen Leben in vielen Formen gab. Prozessionen innerhalb der Kirche, die von Mitgliedern des Klerus und der Schola ausgeführt wurden, waren Teil des offiziellen Ritus. Wenn in diesen Kontext neue Lieder eingeführt wurden, so wurden sie als Tropierungen zusammen mit ihren Trägertexten vorgetragen, wie z. B. der Prozessionstropus Alle dei filius innerhalb der Antiphon Cum rex glorie (vgl. Kap. Akklamation). Zwar darf man aus der handschriftlichen Verbreitung schließen, dass das Lied Alle dei filius auch bei anderen Gelegenheiten gesungen wurde, womöglich mit Laienbeteiligung. Doch die Lieder drängten nicht nur aus der Liturgie hinaus, sondern fast ebenso oft in sie hinein. Denn es entstanden auch neue Lieder für strikt liturgische Prozessionen, oder sie wurden zumindest dafür bestimmt, wenn Mitglieder des Klerus sie nun einmal kannten und singen wollten. Im Processionale des Augustiner-Chorherrenstifts St. Hippolytus in St. Pölten (» A-SP Hs. 13, ca. 1486), das auch liturgische Spiele überliefert, sind auf fol. 5v–13v zwölf „conductus“ (d. h. Cantionen) für den Weihnachtsfestzyklus zusammengestellt, die entsprechend den Rubriken in den verschiedenen Prozessionen gesungen werden sollten.[34] Einige dieser Stücke sind in vielen Quellen verbreitet, andere sind selten oder nur hier vorhanden (Unikate): [35]
    Ecce novus annus est; Dies ista colitur; Praesens festum laudat clerum (Unikat); Mater summi Domini; Patrem parit filia; Ecce venit de Syon; Tribus signis deo dignis; Nos respectu gratiae; Gaude Sion jubila (Unikat); Verbum Patris humanatur; Stella nova radiat; Missus est Emmanuel fuso caeli rore (Unikat).
    Die Texte sind strophisch, mit Refrain („R.“= repetenda). Die beiden Cantionen für die erste und zweite Vesper an Epiphanias, Tribus signis bzw. Nos respectu, betreffen die Reise und Ankunft der drei Könige. Nos respectu, dessen Text den Königen selbst in den Mund gelegt wird, könnte in einem Dreikönigsspiel gesungen worden sein.

     

    Abb. Zwei Conductus für Epiphanias

    Die Conductus Tribus signis „nach der ersten Vesper am Vorabend von Epiphanias“ und Nos respectu „nach der zweiten Vesper an Epiphanias“ im Processionale des Diözesanarchivs St. Pölten (A-SP), Hs. 13, fol. 9v–10r (St. Pölten, ca. 1486). Mit freundlicher Genehmigung des Archivars.

    Prozessionen von Priestern und Schola wurden manchmal von Liedern und Rufen des Kirchenvolks begleitet, z. B. in der Ostermesse. Zum Prozessionshymnus Salve festa dies gab es angeblich schon im 12. Jahrhundert die noch heute bekannte Übersetzung Also heilich ist der tag, deren Urform ein Ruf Heyl, heyl, osterdag gewesen sein soll.[36] Im Seckauer Liber ordinarius (» A-Gu Cod. 756, fol. 91r) lautet die Rubrik: „postea cantentur versus Salve festa dies populo respondente Also hailich ist dierre tach“ (danach sollen die Strophen Salve festa dies gesungen werden, wobei das Volk Also hailich… respondiert), und letzteres ist mit Neumen versehen. Die Handschrift » D-Mbs Cgm 715, fol. 3r, erklärt: „Zu Österlaicher czeit das frewden gesangk salve festa dies das wirt gesungen all suntag so man umb dy kirchen mit der prozes get“ (Zur Osterzeit der Freudengesang Salve festa dies, der jeden Sonntag gesungen wird, wenn man in Prozession um die Kirche geht) (» Abb. Register geistlicher Lieder). Also heilich ist der tag wurde schon früh mehrstimmig gesetzt und dabei öfters mit anderen Auferstehungsliedern verbunden, wie z. B. in der Motette Crucifixum in carne/ Cum rex glorie/ Also heylich, die in der Slowakei und im westdeutschen Raum aufgezeichnet wurde (ca. 1450),[37] oder in einer Motette des schlesischen Codex » PL-Wu Ms. 2016, fol. 35v–36v, wo es mit Christ ist erstanden kombiniert ist.[38]

     

    Prozessionen, an denen auch das Kirchenvolk beteiligt war (» Abb. Kirchweihprozession), waren die allgemeine Palmsonntagsprozession, die Prozessionen am Festtag von St. Markus (25. 4.), an den Rogationstagen in der Woche vor Himmelfahrt und besonders das in der gesamten Region beliebteste zeremonielle Ereignis: die Fronleichnamsprozession. Auch bei solchen allgemeinen Umzügen unter freiem Himmel waren die Priester und kirchlichen Würdenträger führend; die organisierten Zünfte und weltlichen Amtsinhaber bildeten den hinteren Teil des Zuges (» E. SL Fronleichnamsprozession). „Das Volk“ zog offenbar in den Straßen mit. Gesungen wurde hauptsächlich an Stationen vor oder in bestimmten Kirchen und Kapellen auf dem Wege.

    Bei der Palmsonntagsprozession war es üblich, dass die Chorschüler (pueri) das Kyrieleyson bzw. den Hymnus Gloria, laus et honor anstimmten, worauf die Laien einstimmten, auch mit deutschsprachigen Liedern oder Rufen.[39] Stadtspielleute könnten bisweilen mitgespielt haben (» Hörbsp. ♫ Gloria, laus et honor). Die Bittprozessionen an den Rogationstagen waren Gemeinschaftsaktionen des Klerus und der – strikt ständisch geordneten – Laienschaft.[40] Zu diesen und anderen „ad hoc“ veranstalteten Bitt- oder Bußprozessionen wurden von der Allgemeinheit Litaneien und davon abgeleitete Litaneilieder gesungen (angefangen von einfachen Wiederholungen des Kyrieleyson) oder aus anderen Zusammenhängen stammende Leisen, wie das in der Osterzeit immer beliebte Christ ist erstanden. Häufig belegte Litaneilieder sind das Pilgerlied In gottes namen faren wir, das Bittlied Gott der Vater wohn uns bei bzw. Sancta Maria steh uns bei[41] und das Responsorium Media vita in morte sumus (Enmitten in des lebens zeyt). Das Singen des Media vita war besonders bei Bußfahrten, bei der Markusprozession (litania maior) und in der Karwoche üblich. Die deutschen Übersetzungen Mittel unsres lebens zeit und Sancta Maria ste uns bey sind für die Diözese Salzburg in der Crailsheimer Schulordnung von 1480 belegt.[42]

  • Umzüge, Wallfahrten, Geißlerlieder

    Eine musikalische Praxis, die naturgemäß Liedersingen und Bewegung verband, waren im 15. Jahrhundert die verschiedenen Formen des Ansingens und der später so genannten Kurrende, d. h. die Umzüge der Schüler zu Festzeiten mit dem Singen beliebter Lieder und „conducten“ (» D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen, » E. Bozen, » H. „Kurrende“). Es wurde auswendig gesungen und das Einüben der Lieder erfolgte in der Schule oder Kantorei unter der Zuhilfenahme von Kantionalien. Mit Sicherheit gehörten zu den Repertoires dieser jugendlichen Sänger die beliebtesten Cantionen, Hymnen und Sequenzen – wie zu Weihnachten Dies est letitie, In dulci jubilo, Resonet in laudibus, Novus annus hodie, Puer natus in Bethlehem, zu Ostern Christus surrexit/ Christ ist erstanden und Salve festa dies, zum Fronleichnamsfest Lauda Sion salvatorem und Ave vivens hostia. Auffallend oft sind diese Lieder in mehrstimmigen Vertonungen aus der Region Österreich erhalten. Vgl. Hörbsp. Dies est letitie, Hörbsp.  Resonet in laudibus, Abb. Puer natus in Betlehem, Hörbsp. ♫ Novus annus hodie, Hörbsp. Christ ist erstanden, Hörbsp. Lauda Sion.

    Wallfahrten nach entfernten Orten (» J. Formen der Laienfrömmigkeit) sollten von kirchlichen Veranstaltungen eigentlich scharf unterschieden werden, da sie aus persönlicher Initiative unternommen und nach individuellen Interessen gestaltet wurden.[43] Trotzdem liefen Wallfahrten oft sehr ähnlich ab, denn vor allem kürzere Wallfahrten nach populären Wallfahrtsorten wurden in Gruppen unternommen, oft in Begleitung von Priestern und Chorschülern. Ein typisches Wallfahrtslied bzw. Kreuzfahrerlied war die Leise In gottes namen faren wir (» Hörbsp. Gottes namen faren wir, Hofhaimer). Vielleicht wurde sie bisweilen während des gemeinsamen Wanderns gesungen. Die achtstimmige Motette Ave mundi spes maria/ Gottes namen faren wir in » I-TRbc 89 dürfte als musikalische Darstellung der Pilgerfahrt gedacht sein: Sie erweckt den Eindruck, die Pilger sängen ihre Leise alle gleichzeitig durcheinander (» J. SL In Gottes namen faren wir, » Hörbsp. ♫ Ave mundi spes Maria/Gottes namen faren wir). Es verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Lied und Praxis, dass Lieder manchmal für eine spezifische Wallfahrt bestimmt erscheinen: In gottes namen faren wir erwähnt das Heilige Grab von Jerusalem; das Pilgerlied Wer daz Ellend bauen will zur Wallfahrt nach Santiago de Compostela ist im „Jakobston“ verfasst.[44]

    Die Geißler und italienischen Disciplinati, die im 14. Jahrhundert, besonders in den Pestjahren 1348–1349, Italien und Zentraleuropa einschließlich des österreichischen Raums mit ihren Bußprozessionen und Wallfahrten durchzogen, sprachen die Bevölkerung durch das Singen geistlicher Lieder an. Der Musiktheoretiker und Schulmeister Hugo Spechtshart von Reutlingen (1285–1360) zeichnete die Lieder auf und verfasste eine Beschreibung ihres Vortrags.[45] Mehrere Lieder sind nach strikt rituellen Ordnungen bestimmten Situationen zugewiesen, z. B. wurden sie beim Einziehen in einen bestimmten Ort und wieder bei dessen Verlassen vorgetragen. Es gab Lieder, die beim Niederknien und während der Selbstgeißelung gesungen werden mussten. Der von Spechtshart notierte „Einzugsleis“ Nu ist diu betfart so here, Crist reit selber gen Jerusalem begründet die Bußfahrt mit dem Hinweis auf das Geschehen des Palmsonntags und zitiert im Refrain die Zeile „Nu bitten wir den hailigen gaist“.[46] Maria muoter rainu mait ist eine Leise mit „Alleluia“-Rufen an den Strophenenden.[47] Nu tret herzuo wer buessen welle, mit seinem drastisch drohenden Text, fungierte vielerorts als Einladung des Volkes zur Teilnahme an den Selbstgeißelungen (» Notenbsp. Nu tret herzuo, » Hörbsp. ♫ Nu tret herzuo).[48] Spechtshart merkt an, er habe diese „cancio“ im August 1349 aufgeschrieben – was einer der frühesten Belege für den Gattungsnamen ist. 

    Die Verbindungen der Geißlerlieder zum kirchlichen Ritus sind offenkundig, obwohl kaum eines von ihnen in die kirchlichen Bücher aufgenommen wurde. Maria stuont in großen nötten, do si ir libes kint sach tötten, das zum Niederknien gesungen wurde, beginnt wie eine Übersetzung der Sequenz Stabat mater dolorosa.[49] Eine andere Version davon, Maria stunt in swinden smerczen, war weiter verbreitet. Aspekte des Liedrepertoires und des Rituals der Geißler bezeugen den Einfluss der italienischen Disciplinati, von dem sie sich in Einzelheiten auch wieder entfernten. Es bleibt unsicher, inwiefern hier tatsächlich „geistliche Volkslieder“ vorliegen, wie Arthur Hübner 1931 vorschlug. [50]

  • Szenische Lieder

    In der Weihnachtsfestzeit waren das Eselsfest und ähnliche Zeremonien für die Schulknaben beliebt und wurden gern theatralisch aufgeführt; dazu sang man schon seit dem 12. Jahrhundert Conducten. Im 14. Jahrhundert entstand das Kindelwiegen. Ein gewisser Zug zur Theatralisierung erfasste auch diese Zeremonie, als die Cantio Resonet in laudibus verdeutscht wurde. Zu dessen Melodie entstand nämlich (vor ca. 1420) der Text Joseph, lieber neve mein, der nach Auskunft der vielleicht aus Salzburg stammenden Handschrift » D-Mbs Cgm 715, fol. 4r, eine szenische Ausführung verlangte: [51]
    „Zu den weynachten der fröleich ympnus A solis ortu cardine und so man daz kindel wiegt über das Resonet in laudibus hebt unnser vraw an ze singen in ainer person Yoseph lieber neve mein. So antwurt in der andern person Yoseph Geren liebe mueme mein. Darnach singet der kor dy andern vers in ainer dyenner weis“
    (Zu Weihnachten der fröhliche Hymnus A solis ortu [sic] cardine und, falls man zum Gesang des Resonet in laudibus das Kindlein wiegt, fängt die Maria darstellende Person an zu singen Joseph, mein lieber Vetter. Die andere, Joseph darstellende Person antwortet Gerne, meine liebe Base. Danach singt der Chor die anderen Strophen wie von Dienern.)

    In der aus demselben Skriptorium stammenden Handschrift » D-Mbs Cgm 1115, fol. 39r–v, wird vorgeschrieben, dass zunächst ein Diener („servus“) auf Joseph und Maria antwortet, später aber der Chor mit dem Refrain Sunt impleta der Antiphon Magnum nomen domini einsetzt und zum Responsorium Verbum caro factum est überleitet.

    Weihnachtscantionen, die mit Tanz oder szenischer Aktion vorstellbar sind, sind u. a. In dulci jubilo, Puer nobis nascitur und In hoc anni circulo (für Neujahr), deren Quellen teilweise Melodien im Dreierrhythmus zeigen. Die wichtige Weihnachtscantio Dies est letitie kommt jedoch gar nicht im Dreierrhythmus vor. Auch In dulci jubilo wurde manchmal in zweizeitigem Rhythmus notiert.[52] Eine in der Region Österreich sicher geläufige Version, in dreizeitiger Mensur, steht im Orationale Friedrichs III. (» A-Wn Cod. 4494, fol. 66v-67r).[53] Im Zollner-Graduale von Neustift/Novacella sehen wir den Gesang „In dulcis jubilo, singet und seyt fro“ [sic] auf einem von einem Engel gehaltenen Spruchband bei Christi Geburt abgebildet: » Abb. Puer natus est nobis. Es könnte sein, dass am Ende der Weihnachtsmette als Engel verkleidete Chorschüler das Lied vorsangen; danach begann die erste Messe mit dem Introitus Puer natus est nobis, dessen Initiale „P“ den Rahmen des Bildes darstellt.

    Die Cantio Nos respectu gracie gehörte wahrscheinlich zu einem Dreikönigsspiel, denn ihr Text ist die Ansprache der drei Könige, die sich mit ihren Gaben vorstellen. Dieser Benedicamus-Tropus stammt vielleicht aus Böhmen; in dortigen Quellen ist er als „Mysterium“ (d. h. geistliches Spiel) bezeichnet.[54] Unter den Erlauer Spielen aus Kärnten (» J. Singende Juden) findet sich das älteste bekannte deutschsprachige Dreikönigsspiel, in dem zwar Nos respectu nicht vorkommt, jedoch die Cantio Puer natus in Bethlehem und das Epiphanias-Responsorium Illuminare mit dem Vers Et ambulabunt reges.[55] Alle drei Gesänge, Nos respectu, Puer natus in Bethlehem und Illuminare, sind im Orationale Friedrichs III. vereinigt. Hat man am Kaiserhof ein Dreikönigsspiel aufgeführt?[56]

    Die Passion Christi wurde in der Region Österreich oft mit aufwändig inszenierten geistlichen Spielen öffentlich dargestellt (» H. Sterzinger Spielarchiv). Traditionelle Lieder und Cantionen sind in den Passionsspieltexten selten, jedoch finden sich hier zwei Gesänge, die aus dem Ritus der Finstermette stammen und im 15. Jahrhundert auch als unabhängige Cantionen weit verbreitet waren. Die hochmittelalterliche Marienklage O filii ecclesie, der Form nach ein vielstrophiger Hymnus, wurde traditionsgemäß am Karfreitag gesungen, mancherorts verbunden mit einer szenischen Aufführung.[57] Ihre deutsche Übersetzung O liben kind der cristenheit erscheint regelmäßig in dramatischer Form, so z. B. in der Erlauer Marienklage und in Passionsspielen (» Notenbsp. O liebe kind).[58] In der Handschrift » A-Iu Cod. 457 steht eine Fassung des 14. Jahrhunderts (fol. 102r). Dort (fol. 105v) ist auch eine zweite traditionsreiche „Lamentation“ der Finstermette überliefert, der Tropus Ach homo perpende fragilis (Ach Mensch, gedencke was du bist) zur Antiphon Media vita in morte sumus, der in über 20 Quellen aus Österreich, Böhmen, Bayern und der Schweiz überliefert ist.[59] Auch wenn diese Lamentation dramatisch vorgetragen wurde, war sie doch eher für Betrachtung und Gebet bestimmt.

  • Betrachtung und Gebet

    Die Mehrzahl der überlieferten geistlichen Lieder der Epoche wurde ursprünglich nicht für den kirchlichen Ritus geschaffen, sondern diente Individuen und Gemeinschaften zu Zwecken der Andacht. Solche Lieder sind häufig ohne Melodien überliefert. Das kann bedeuten, dass sie zum individuellen Lesen bestimmt waren wie andere Literatur. Es kann aber auch bedeuten, dass sie vorgelesen werden sollten, etwa in einer privaten Andacht oder öffentlichen frommen Übung. Und zwischen dem Vorlesen (oder lauten Alleinlesen) und dem Singen gab es keine scharfe Grenze.

    Geistliche Texte für den Privatgebrauch sind oft mit Autorzuschreibung überliefert (zu Liederdichtern vgl. » B. Traditionsbildungen des Liedes, » B. Minnesang und alte Meister, » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg, » B. Oswalds Lieder). Einem häuslichen Zweck diente z. B. der „Tischsegen“ des Mönchs von Salzburg, auch genannt „das Benedicite“: Allmächt‘ger Gott, Herr Jhesus Krist. Dieses Tischgebet kann gesprochen oder gesungen werden; seine Melodie ist häufig mitüberliefert (» Hörbsp. ♫ Allmächt‘ger Gott).[60]

    Der Wiener Augustinerchorherr Stephan von Landskron beschreibt in seiner Hymel strass (1465), wie der Hausvater an Sonntagen nach dem Essen mit seiner Hausfrau, seinen Kindern und seinem Hausgesinde zu einer Predigt ging und sie danach zu Hause abfragte, was sie von der Predigt gelernt hätten; dazu ließ er sich „ein trünckle bringen und ein guottes liedlin von gott, oder von unser lieben frawen, oder etwas von den lieben heiligen singen“.[61] Was hier so freundlich beschrieben wird, ist nichts anderes als die Auswanderung des Kirchenliedes in die private Devotion, die sich schon seit den Cantionen des vorigen Jahrhunderts angekündigt hatte. Zumindest in privilegierten Schichten kann damit auch eine „Auswanderung des Kirchenvolkes“ selbst stattgefunden haben, nämlich das Transferieren religiöser Praxis in die Wohnsphäre.

    Das anonyme Lied Gegruesset seistu Maria in Egkenvelders Liedersammlung (A-Wn Cod. 3344; » B. Das Phänomen „Neidhart“, » Hörbsp. ♫ Gegruesset seistu Maria) ist eine der zahlreichen Paraphrasen des Ave Maria, wie sie aus Gebetsammlungen der Zeit bekannt sind. Typisch ist für diese Texte, dass sie sich entlang eines Schemas (z. B. anknüpfend an die Anfangsworte jedes einzelnen Verses des Ave Maria) strophisch entwickeln. Solche „Reimgebete“ (Dreves) konnten von Solisten vorgetragen und an ein Publikum gerichtet werden. Sie konnten aber auch wie die Texte des priesterlichen Breviers zum individuellen Gebrauch dienen, etwa zum Beten der einzelnen Tagzeiten. In einer von Walther Lipphardt beschriebenen Handschrift des Klosters Michaelbeuern (» A-MB Man. cart. 1, aus St. Peter in Salzburg, um 1500) finden sich „Andachtslieder“, die von den sieben Schmerzen Mariens, dem Leiden Mariens bei der Kreuzigung (Compassio Mariae, Marienklage), den sieben Freuden Mariens, den Tagzeiten der Passion Christi und den zehn Geboten handeln.[62] Auch sind mehrere kleine Zettel eingelegt, auf denen geistliche Lieder eingetragen sind, z. T. in Mensuralnotation. Da es sich um Andachts- und Gebetstexte handelt, könnten die eingelegten Zettel mit einer Praxis zusammenhängen, die im musikalischen Kontext erstmals von Ulrike Hascher-Burger beschrieben worden ist: Klosterinsassen hatten kleine Heftchen oder Zettel (Rapiarium) mit Gebetstexten bei sich, die sie zur individuellen Meditation verwendeten.[63]

    Marienlieder und -gedichte waren unendlich beliebt. Das entsprach der kirchlich-institutionellen Pflege des Marienkults; doch hatte das Schaffen neuer Marienlieder auch außerkirchliche Motive, wie den ritterlichen Minnedienst oder die Aufwertung von Ehe und Familie bei der Stadtbevölkerung. Neue Marienlieder waren häufig Kontrafakte und Übersetzungen traditioneller Choralgesänge. Von bekannten Stücken wie der Antiphon Salve regina, dem „englischen Gruß“ (Ave Maria) und dem Hymnus Ave maris stella wurden in ganz Europa Übersetzungen und Paraphrasen abgeleitet.[64] Diese sind typischerweise Akklamationen und Gebete. Eine in der Region Österreich verbreitete Salve regina-Paraphrase, die mit der Melker Klosterreform (» A. Melker Reform) zusammenhängt, ist Frau, von Herzen wir dich grüßen (auch bekannt als O Maria, wir dich grüßen).[65] Das Lied, das die Melodie der Antiphon adaptiert, steht in der erwähnten Michaelbeurer Handschrift am Anfang der deutschen Lieder und Cantionen (fol. 70v). Ein ähnlicher Liedtext, abgeleitet von dem Hymnus Salve, regina gloriae, ist Begruesset seyst du, künigin in der Melker Musiksammlung » A-M Cod. 950, fol. 209v–210v.[66]

    Eine besondere Geschichte hat das Lied Maria zart, von edler Art (um 1500): Es ist nicht von einem Choralgesang abgeleitet, sondern von weltlichen Vorbildern. Es ist ein strophisches, kunstvoll gereimtes Lied in der Manier der weltlichen „Hofweise“. Mit Sicherheit hatte es einen Textautor, der leider unbekannt ist, und auch einen Komponisten. Die früheste von mehreren Vertonungsfassungen ist einem Augsburger Musiker „Pfabenschwantz“ zugeschrieben (» Hörbsp. ♫ Maria zart). Zum ersten Mal scheint hier ein geistliches Lied erfunden worden zu sein, das von vornherein nicht als einstimmige Melodie, sondern als mehrstimmiger Satz existierte. Es hatte eine echte Doppelverwendung als Gebetstext und als kunstvolles musikalisches Vortragsstück. Die rasche Verbreitung des Liedes im süddeutsch-österreichischen Gebiet und den Niederlanden sowie sein Erfolg als Ablassgebet hat Birgit Lodes erforscht.[67] (Vgl. auch » J. Körper und Seele)

  • Patris sapientia

    Das Reimgebet Patris sapientia soll um 1310 von Kardinal Egidio Colonna (Aegidius Romanus) verfasst worden sein, obwohl es auch Papst Johannes XXII. zugeschrieben worden ist.[68] Das Gedicht wird zu den Tagzeiten der Passion Christi am Karfreitag gebetet, von der Matutin bis zur Komplet. In jeder Strophe wird eine Station des Leidens Christi erzählt, in die sich der Beter hineinversenken soll. So lautet der Beginn der ersten Strophe:
    Patris sapientia, veritas divina,
    Deus homo captus est hora matutina…
    (Die Weisheit des Vaters, die göttliche Wahrheit, Gott, wurde als Mensch gefangen in der Mettenstunde…)
    Die vorgestellte Situation ist die der Gefangennahme Christi durch die Knechte des Hohepriesters auf dem Ölberg.

     

    Abb. Gefangennahme Christi

    Abb. Gefangennahme Christi

    Die Gefangennahme Christi (Deus homo captus est hora matutina). Meister des Andreasaltars, um 1450. Wien, Belvedere Museum, Inv. Nr. 4923.

     

    Patris sapientia ist besonders im süddeutsch-österreichischen Gebiet in vielen Quellen für den privaten und klösterlichen Gebrauch enthalten, auch in mehreren deutschen Übersetzungen. Charakteristisch ist die Textfassung Dye weishait und gotlich warhait in der Handschrift A-Wn Cod. 4091 (fol. 180r–182r; um 1490). Diese Übersetzung wurde 1504 in Nürnberg mit Melodie gedruckt. Ein Kontrafaktum als Mariengebet ist Maria zw metten zeyt in der aus Mondsee stammenden Liedersammlung » A-Wn Cod. 3027 (fol. 210v–213v). Die Handschrift » A-MB Man. cart. 1 enthält auf fol. 81–83 gleich zwei der zahlreichen mehrstimmigen Sätze, die in dieser Zeit entstanden. [69]

    Eine lateinische Motette über die Melodie mit dem Text Tu qui cuncta imperas findet sich im „Specialnik“-Codex von Hradec Kralové (» CZ-HKm Ms. II A 7, S. 202–203; » F. Sources of Polyphony in the Bohemian lands). Auch eine tschechische Übersetzung von Patris sapientia ist bekannt (Moudrost boha otce prawda), sie scheint jedoch auf die Melodie von Crux fidelis (Pange lingua) gesungen worden zu sein. Das Gesangbuch der böhmischen Brüder von Michael Weisse (1531) enthält dann die Melodie und zwei deutsche Übersetzungen, von denen Christus, der uns selig macht in das lutherische Gesangbuch einging und bis heute bekannt ist.[70]

    Doch wie wurde dieses Reimgebet zum Lied? Während der Text aus dem frühen 14. Jahrhundert stammt, ist die bekannte Melodie erst seit der Mitte des 15. Jahrhunderts überliefert. Sie entspricht formal einem vierzeiligen Hymnus, doch die syllabische Deklamation mit überdehnten Zeilenschlüssen und der explizite E-Modus (mit Kadenzen auf der seltenen Dominantstufe „h“) deuten auf böhmische Tropen und Cantionen schon des 14. Jahrhunderts. Es scheint deshalb möglich, dass das Reimgebet erstmalig in Böhmen gegen 1400 als Passionshymnus gesungen wurde.

     

     

    Abb. Patris sapientia

    Abb. Patris sapientia

    Text und Melodie des Patris sapientia in der Handschrift » A-LIb Hs. 713 (um 1500), fol. 1v. Das Papierdoppelblatt von fol. 1–4 wurde als Brief verschickt (mehrmalige Faltung). Auf fol. 4v ist der Entwurf eines lateinischen Briefes notiert, auf fol. 1r ein Credo in Cantus fractus (» A. Rhythmischer Choralgesang). Humanistische Schrift, auch in den Musikstrophen.

    Älter als die einstimmigen Aufzeichnungen der Melodie ist eine dreistimmige cantus-firmus-Bearbeitung: nämlich ein zusammengehöriges Paar der Messsätze Gloria und Credo, betitelt O patris sapientia, in den Trienter Codices » I-TRcap 93* und » I-TRbc 90.[71] Diese Kompositionen müssen spätestens 1455 niedergeschrieben worden sein. Die Melodie wird in der Komposition z. T. durch lange Noten emphatisch hervorgehoben und offensichtlich als bekannt vorausgesetzt. Falls die Vermutung richtig ist, dass die einstimmige Melodie in Böhmen entstand, könnte sogar die Messvertonung von dort stammen und somit hussitischer (utraquistischer) Herkunft sein.[72]

     

    Eine vierstimmige Vertonung von Egidio Colonnas Reimgebet, mit der Textvariante Natus sapientia, findet sich im Innsbrucker Leopold-Codex, in einem der frühen Faszikel von ca. 1476 (» D-Mbs Mus. ms. 3154, fol. 42v–48v). Sie besteht aus acht Motetten, die anstatt der Messsätze des Ordinariums und Propriums gesungen werden konnten. Sie ähnelt somit den Motettenzyklen, die damals am Sforza-Hof von Mailand gepflegt wurden („Mottetti missales“), und gelangte wahrscheinlich von dort aus in die Innsbrucker Hofkantorei.[73] In der Oberstimme ist nicht die bekannte Liedmelodie, sondern ein anderer, nicht unähnlicher cantus firmus verarbeitet.

  • Mehrstimmige Liedvertonung

    „Liedvertonung“ ist an sich ein widersprüchlicher Ausdruck, da man etwas, das bereits als Lied – d. h. mit Melodie – existiert, nicht mehr „vertonen“ muss. Vielmehr bedeutete die „Vertonung“, d. h. die Einbettung einer Melodie in einen mehrstimmigen Satz, oft nur eine Aufführungspraxis unter anderen, wie bei zahlreichen Sequenzen, Hymnen, Tropen und Messsätzen, die schon seit dem 10. Jahrhundert gelegentlich mehrstimmig vorgetragen wurden – z. T. in rhythmisch einfachen, extemporierbaren Aufführungsweisen. Die geistlichen Lieder des Spätmittelalters folgten diesen Vortragsweisen auf dem Fuß; die zweistimmigen Fassungen von Flos de spina procreatur in » A-Iu Cod. 457 (» A. Weihnachtsgesänge) oder von Triumphat dei filius (» A. Osterfeier) sind bloße Formen der Aufführung und kaum als „Vertonungen“ einstimmiger Versionen zu bezeichnen.

    Dagegen waren die aus der Ars antiqua stammenden Kompositionsprinzipien des Discantus und der Motette dem Lied von Haus aus fremd. Dass die zur Melodiegrundlage hinzugefügten Gegenstimmen ein komponiertes rhythmisches Gepräge haben und deren Vortrag gleichsam zerstückeln, wurde nicht nur von Papst Johannes XXII. 1324 offiziell in einer Bulle verdammt, sondern auch in anderen Vorschriften des 14. und 15. Jahrhunderts, u.a. in der Melker Reform (» A. Kap. Ablehnung der Mehrstimmigkeit). Im Gegensatz zu „simultanen“ Techniken, bei denen eine Lied- oder Choralmelodie in homophonem Rhythmus von anderen Stimmen begleitet wird, verlangen Motette und Discantus eine Abstufung der Stimmfunktionen, entweder nach dem cantus-firmus-Verfahren oder in der Art des europäischen Diskantliedes mit führender Melodiestimme und Tenor. Diese verschiedenen Macharten waren spätestens seit etwa 1400 in der Region Österreich nebeneinander vorhanden und fanden zunehmend Eingang in die Liedkomposition, wobei sich die Techniken oft auch vermischten: Geistliche Lieder gab es in allen Formen, von der Einstimmigkeit bis zu Renaissancemotette und cantus-firmus-Messe.

    So hat die Ausbreitung mensuraler Polyphonie die Pflege geistlicher Lieder im österreichischen Raum sogar gefördert. Z. B. sind mehr als ein Dutzend polyphone Bearbeitungen der Leise Christ ist erstanden überliefert. Nicht, dass das Lied wesentlich öfter erklungen wäre als zuvor. Doch verband es sich nun mit der Praxis kunstvoller Musik. Manche neuen Vertonungen stammen von ausländischen Komponisten (» B. SL Christ ist erstanden).[74]

    Mehrstimmige geistliche Liedsätze entstanden wohl an vielen Orten. Ein Einzelblatt aus dem Stift St. Florian (» A-SF Cod. XI 128, fol. 1r–v) enthält Federproben, kirchliche Regeln und das Fragment einer Motette, deren Triplum mit „Gracia“ beginnt, außerdem das dreistimmige Weihnachtslied Agmina fidelium, eine dreistimmige Fassung der Cantio In natali domini und einen textlosen Discantus-Satz, wahrscheinlich einer weiteren Cantio.[75] Hier dürfte ein gebildeter Succentor am Werk gewesen sein, der an Weihnachten mit dem Schülerchor zu singen hatte, jedoch auch an gelehrteren motettischen Formen interessiert war. Die Mittelstimme von Agmina fidelium nennt er „Medius“ (nicht „Contratenor“), eine bis um 1450 vorkommende regionaltypische Bezeichnung.

    Das dreistimmige In natali domini paraphrasiert die bekannte Melodie, rhythmisiert im „6/8“-Metrum, in der Oberstimme, so wie es in geistlichen Sätzen der früheren Trienter Codices üblich ist. Dort findet sich der Satz jedoch nicht – wie überhaupt geistliche Liedsätze dieser Machart in den Quellen der Region fast immer nur als Unikate auftauchen. Wahrscheinlich konnte man für die festtäglichen Aufgaben der Chorschule oder Kantorei viele Vortragsstücke „ad hoc“ anfertigen und gab sie nicht weiter. Drei Weihnachtscantionen in den Handschriften » I-TRbc 88 und » I-TRbc 89 (» Hörbsp. ♫ Novus annus hodie, » Hörbsp. ♫ Resonet in laudibus (Trient 88) und » Hörbsp. ♫ Dies est letitie) stehen für Dutzende solcher Gesänge, mit denen die Kantoren das geistliche Lied auf der Stilebene mensuraler Polyphonie weiterpflegten.

    Andererseits konnten Kantoren wohl aus Hofkapellen und Universitätskreisen ausländische Vertonungen beschaffen, die professioneller schienen oder waren und deren Texte, wenn sie nicht dem Verwendungszweck entsprachen, kontrafaziert oder adaptiert werden konnten. Eine großartige Komposition des Antwerpener Musikers Johannes Puillois (ca. 1415–1478) ist die vierstimmige Motette Flos de spina procreatur (» Hörbsp. ♫ Flos de spina, Puillois). Sie erreichte die österreichische Region nach 1447, als der Komponist bereits in der päpstlichen Kapelle angestellt war. Der mit dem Hof Friedrichs III. (» D. Albrecht II. und Friedrich III.) verbundene Niederländer Johannes Tourout oder Touront steuerte verschiedene „Andachtsmotetten“ bei, die eigentlich Liedvertonungen sind, so z. B. O florens rosa, das auf einen weit verbreiteten Gebetstext komponiert oder adaptiert ist (» Hörbsp. ♫ O florens rosa). Dass die regionale Liedtradition hier mit internationalen Repertoires der Kunstmusik zusammenmündet, muss auch bedeuten, dass sich der Erwartungshorizont der Musiker und Hörer der Region gewaltig verschoben hatte.

[1] Vgl. » A. Weihnachtsgesänge; Harrison 1965. Sammlungen aus Cividale (Kirchenprovinz Aquileia) und Aosta (vgl. Harrison 1965) enthalten manche Konkordanzen mit Quellen aus der Region Österreich.

[2] Sicher ist im Beispiel bei Janota 1968, 74, das Singen des deutschen Christ ist erstanden gemeint.

[3] Vgl. Rajecki 1975/1976, 20; Strohm 1993, 514.

[4] Vgl. zur Einführung Strohm 2015.

[5] Kouba, Jan: Art. “Hus, Jan”, in: Oxford Music Online, URL: http://www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/13599?q=… [05.12.2014]: “…it seems that he arranged the medieval melody ‘Jesu Kriste, štědrý kněže’ (‘Jesus Christ, thou bountiful prince’) in the Jistebnice Hussite hymnbook (CZ-Pnm Ms. II C 7), and he may also have arranged or translated the texts of several other hymns, but the best-known one attributed to him, ‘Jesus Christus, nostra salus’, is clearly not by him.”.

[6] Bergsagel 1990, 2–4, und Bergsagel/Nielsen 1979 gehen davon aus, dass die zweistimmige Fassung der Handschrift DK-Kar Ms. AM 76, 8º aus Böhmen stammt. Faks. und Übertragung auch bei Kroon, Sigurd u. a. (Hrsg.): A Danish Teacher’s Manual of the Mid-Fifteenth Century, Lund 1993, 36–37. Walther 1969, 498 (Nr. 9846) kennt eine Danziger Quelle des 15. Jahrhunderts.

[7] Vgl. Mužík 1965, 28–29, mit einer Transkription der Melodie nach » H-Bn Ms. lat.243. Weitere Informationen zu tschechischen und polnischen Liedern bei Birnbaum 1974.

[8] Vgl. Greene 1977; Edition mit Melodien in Stevens 1970.

[9] Zur devotio moderna vgl. Hascher-Burger 2002; Quellen zur lateinischen und italienischen Lauda bei Cattin 1977, Luisi 1983 und Diederichs 1986.

[10] Vgl. die Situation in Handschriften aus Seckau und Moosburg. (» A. Weihnachtsgesänge)

[11] Vgl. Rothe 1984, 366; Rothe 1988, 235–241 (Nr. 216A und 216B); Strohm 1993, 331–332.

[12] Rothe 1984, 184–194.

[13] Typische Beispiele solcher aufschlussreicher Quellen sind der Liber ordinarius aus Seckau von 1345 (A-Gu Cod. 756) und die deutschsprachige Liederhandschrift D-Mbs Cgm 715 (ca. 1450, aus Süddeutschland oder Salzburg; » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg).

[15] Vgl. Janota 1968, 149–150. Janotas Studie ist auf deutsche Lieder konzentriert; leider fehlt eine ähnliche systematische Untersuchung lateinisch textierter Lieder.

[16] Ich danke Stefan Engels für dementsprechende Hinweise.

[17] Vgl. Wachinger 1979, 375–376.

[18] Vgl. Lütolf 2003–-2010, Bd. 5 (u. a. Geißlerlieder).

[19] Expositio antiphonae „Advenisti desiderabilis“ in der Handschrift A-MB Man. cart. 205 (Tegernsee um 1520), fol. 72r–v.

[20] Zu letzteren vgl. Flotzinger 2007, 219–225.

[21] So heißt es noch im 15. Jahrhundert im Liber Ordinarius von St. Stephan, Wien (A-Wn Cod. 4712; » E. Musik im Gottesdienst): „Plebs habeat vociferacionem suam“ [Randglosse: „populi vociferacio“] (fol. 39r), „populus habet suas vociferaciones aevia aevia [am Rand: „populus habeat vociferacionem“] (fol. 48r) und „layci habeant vociferaciones suas“ (fol. 54v). Wie die drei synonym gebrauchten Worte plebs/populus/layci beweisen, war nicht die Schola gemeint, sondern das allgemeine Kirchenvolk, das „sein Geschrei haben“ durfte.

[22] Dieses Lied soll schon Anfang des 13. Jahrhunderts existiert haben: Vgl. Janota 1968, 171 und 180–182;  zu deutschen Liedern im Seckauer Liber ordinarius vgl. Behrendt 2009, 422–436.

[23] Vgl. Janota 1968, 110–114. Die Aufzeichnung in der Handschrift D-EFu Dep. Erf. CA. 4° 332 stammt aus Aachen und ist mensural polyphon (14. Jahrhundert); vgl. RISM B IV, 2, 68–69.

[24] Zu mehrstimmigen Fassungen vgl. » J. SL In Gottes namen faren wir.

[25] Weiteres dazu in Janota 1968, 206–210.

[26] Vgl. Hübner 1931, 251–252.

[27] Vgl. Janota 1968, 213, Anm. 1020. Vgl. Dreves 1886, 6–7, und Birnbaum 1974, auch zu den von der Prager Synode 1408 erlaubten volkssprachlichen Gesängen.

[28] Janota 1968, 44, 71. Zu weiteren Predigtliedern vgl. ebenda.

[29] Vgl. auch Janota 1968, 116, 128.

[30] Vgl. Huglo 1999, 15–16 (Nr. A 12/2).

[31] Ich danke Robert Klugseder für diese persönliche Mitteilung. Vgl. auch Klugseder 2012, 202, mit Edition der Rubrik.

[32] Janota 1968, 161–162.

[33] Diese Aufführungspraxis, die den volkssprachlichen Text gleichsam in den Ritus integriert, betraf nach norddeutschen Quellen z. B. die Weihnachtssequenz Grates nunc omnes reddamus mit ihrer auch musikalisch verwandten Übersetzung Ghelovet seystu Jesu Krist (Janota 1968, 117–118).

[34] Vgl. Huglo 1999, 30–31 (Nr. A-38). Die betreffenden Folios waren früher als fol. 7v–15v nummeriert.

[35] Editionen in Dreves/Blume 1886–1922, Bd. 1 und 20.

[36] Janota 1968, 187–191.

[37] Strohm 1993, 337–338, mit Notenbeispiel.

[38] Janota 1968, 191–192, Anm. 894. Vgl. auch Lütolf 2003–2010, Nr. 217.

[39] Janota 1968, 152–153, mit Belegen u. a. aus dem Seckauer Liber ordinarius. Zur Wiener Palmsonntagsprozession siehe » E. Musik im Gottesdienst.

[40] Janota 1968, 220–237, umfasst alle Prozessionen und ihre Lieder, allerdings mit besonderem Gewicht auf den deutschsprachigen.

[41] Zur noch wenig erforschten Herkunft dieses Liedes vgl. Strohm 2012. Eine vierstimmige Motette Omnium rerum conditor/ Sancta Maria steh uns bei edierte Feldmann 1938, Anh., 21–27, nach PL-Wu Ms. 2016, fol. 153v–154r (um 1500).

[42] Zur Crailsheimer Schulordnung und ihrem (vermutlich Salzburger) Autor vgl. Janota 1968 und 1980. Zum Media vita vgl. u. a. Lipphardt 1973.

[44] Janota 1968, 237–244, mit Verweisen auf Hübner 1931.

[45] Runge 1900; Hübner 1931; Kritische Edition der Lieder in Lütolf 2003–2010, Bd. 5.

[46] Hübner 1931, 174–186 (Lied II) und Faksimile.

[47] Hübner 1931, 187–193 (Lied III) und Faksimile (nur Anfang).

[48] Hübner 1931, 106–108 (Lied I) und Faksimile.

[49] Hübner 1931, 108–109.

[50] Hübner 1931, 80–82 und passim.

[51] Zur vorgeschlagenen Zuschreibung von Joseph, lieber neve mein an den Mönch von Salzburg (G 22) vgl. Janota 1968, 127 und 130–131, und » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg. Die älteste Quelle ist jedoch die aus Leipzig oder Nürnberg stammende Handschrift D-LEu Ms. 1305, ca. 1420, wo das Lied anonym und in einer mitteldeutschen Mundart vorliegt; vgl. Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 426 und 427. In D-Mbs Cgm 715, fol. 4r, ist das nächste erwähnte Lied dem Mönch explizit zugeschrieben, während Joseph, liebe neve mein anonym bleibt.

[52] Vgl. Ameln 1985. Die Liedverbreitung variiert auch regional: In dulci jubilo ist in den Niederlanden und im Rheinland häufig überliefert, in Böhmen überhaupt nicht.

[53] Vgl. Strohm 2007; siehe dort auch zu den weiteren Cantionen im Orationale.

[55] Vgl. Kummer 1882, Nr. II; Janota/Suppan 1990, Nr. 2.

[56] Auch der Hymnus A solis ortus cardine, der nach D-Mbs Cgm 715 dem Kindelwiegen vorausgeht, steht in A-Wn Cod. 4494 (fol. 61v–62r) mit Noten, gefolgt von der Übersetzung Von anegeng der sunne kchlar des Mönchs von Salzburg.

[57] Vgl. Kornrumpf, Gisela: ‚O filii ecclesiae‘/‘Homo, tristis esto‘ (lat. und dt.), in: Stammler 1978–2008, Bd. 11 (2004), Sp. 1061–1065. Zur Marienklage an St. Stephan, Wien, siehe » E. Musik im Gottesdienst.

[58] Zur Erlauer Marienklage siehe Kummer 1882, Nr. VI, und Suppan/Janota 1990, Nr. 6.

[59] Zur Überlieferung beider Gesänge vgl. Stenzl 2001, 166 und 171.

[61] Janota 1968, 83–84, mit weiteren Details zum “Predigtlied”.

[62] Lipphardt 1984, 41 und Anm. 17. Zur Handschrift, einem Processionale aus Salzburg, St. Peter, mit überwiegend lateinischen Choralgesängen, vgl. auch Engels 2007, 259–268.

[63] Vgl. Hascher-Burger 2002, 111–124.

[64] Zu Salve regina-Stiftungen und -Vertonungen siehe » D. Kirche, Hof, Ritual und » E. Musik im Gottesdienst.

[65] Vgl. Angerer 1979; Lipphardt 1984 (mit mehreren Versionen). Dies ist nicht das aus dem 13. Jahrhundert stammende „Melker Marienlied“.

[66] Vgl. Angerer 1979, 151–157; Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 47.

[68] Textedition Dreves/Blume 1886–1922, Bd. 30, Nr. 13, 34–35; Melodie und deutscher Text bei Lütolf 2003–2010, Bd. 2, Nr. 172. Gegen 1500 wurde Patris sapientia bereits als „Horae de Sancta Cruce“ im offiziellen Stundenbuch der römischen Kirche geführt. Die Versform entspricht dem weltlichen Lied Aestuans intrinsecus („Vagantenbeichte“) des Archipoeta (um 1150).

[71] Gloria: I-TRbc 90, Nr. 929 und I-TRcap 93*, Nr. 1739; Credo: I-TRbc 90, Nr. 955 und I-TRcap 93, Nr. 1786. Vgl. Strohm 1985 und Strohm 2009. Das irreguläre Textincipit O patris sapientia ist in einigen Textquellen vorhanden.

[74] Vgl. Haggh 2012; Strohm 2014, 20–22 und 27–29.

[75] Ich danke Robert Klugseder für die freundliche Überlassung einer Fotokopie des Fragments.