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Die Tiroler Spieltradition. Das Sterzinger Spielarchiv

Sandra Désirée Theiß
  • Bozen und Sterzing als Spielorte

    Seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts ist die Aufführung geistlicher Spiele, in denen Ereignisse aus der Lebensgeschichte Jesu zur Darstellung kommen und die durch die Aufnahme liturgischer Textelemente und Melodien eine enge Verbindung zum christlichen Kult aufweisen,[1] für den Tiroler Raum belegt.[2] An der Wende zum 16. Jahrhundert stiegen die Südtiroler Städte Bozen und Sterzing zu den bedeutendsten Spielorten der Region auf und zeichneten sich durch die aufwändige Inszenierung österlicher Spiele aus.[3] Anhand zahlreicher zeitgenössischer Quellen[4] lässt sich nachverfolgen, dass diese Blütezeit mit dem Wirken eines Bürgers zusammenhängt, der sich in herausragender Weise für die Spielaufführungen engagierte: Vigil Raber.

  • Der Theaterliebhaber Vigil Raber

    Der im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in Sterzing geborene Bäckerssohn erlernte das Malerhandwerk und verließ vor 1510 seine Geburtsstadt. Seine Malerarbeiten sowie seine Tätigkeiten im Rahmen der Spielaufführungen bezeugen dann bis 1522 nahezu lückenlos seine Anwesenheit in Bozen. In den Jahren zwischen 1523 und 1533 lässt sich sein Lebensweg nicht sicher nachvollziehen, doch ab 1533 bis zu seinem Tod 1552 ist er schließlich wieder in Sterzing belegt, wo er 1544 das Bürgerrecht erhielt. Dort belebte er auch wieder die städtische Spieltradition, die nach 1514 zum Erliegen gekommen war.[5] Es ist davon auszugehen, dass Raber aufgrund seines Einsatzes bei den Spielen zu nicht unbeträchtlichem Ansehen gelangte, da die aufwändigen Inszenierungen sowohl für die Kirche als auch für die Städte mit Prestige verbunden waren.[6]

    Es scheint Vigil Raber ein persönliches Interesse an der Tradierung und Inszenierung geistlicher Spiele angetrieben zu haben,[7] denn neben seinem Engagement als Spielleiter und Darsteller sammelte er Zeit seines Lebens Spieltexte und weitere aufführungsbezogene Materialien. Dass bereits seine Zeitgenossen den Wert der Sammlung für den Spielbetrieb erkannten, zeigt der Erwerb von Rabers Nachlass durch die Stadt Sterzing: „Mer am 16. tag Novembris aus bevelch meiner herrn ains ersamen raths der Virgili Raberin wittiben alle und yede geschribne spil unnd spilß risstungen, so ir haußwirth seliger nach sein verlassen hat, abkaufft“,[8] weist eine Bürgermeisteramtsrechnung von 1553 den Kauf aus. Doch dieses „unerschöpflich[e] Textreservoi[r]“[9] wurde nicht genutzt. Vielmehr scheint mit Rabers Tod der Endpunkt der Sterzinger Aufführungstradition markiert zu sein, denn in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts sind nur noch vereinzelt Spielnachrichten bezeugt.[10]

  • Die Handschriftensammlung Rabers

    Die Handschriften Rabers, das sogenannte „Sterzinger Spielarchiv“, sind in ihrer Mehrheit bis heute erhalten und im Archiv der Gemeinde Sterzing zugänglich.[11] Die Zusammengehörigkeit der Sammlung wird durch Rabers eigene Kennzeichnung sichtbar: Er versah die Manuskripte mit seinen Initialen und teils auch mit einer Datierung. Für die mittelalterliche Überlieferungspraxis und im Besonderen für die Tradierung geistlicher Spiele stellt dies eine Ausnahme dar und offenbart noch einmal Rabers engen Bezug zu seinen Spielen.

     

     

     

    In der Übersicht der geistlichen Spieltexte zeigt sich thematisch eine Präferenz für Ereignisse aus dem Passions- und Ostergeschehen. Diese Untergattungen des „Geistlichen Spiels“ sind auch sonst im deutschen Sprachgebiet breit überliefert.  Ebenso finden sich aber Spiele, für die keine vergleichbaren Textzeugen vorhanden sind, so etwa die Dramatisierung des Johannesevangeliums oder das Spiel Ain recht das cristus stirbt. Weiterhin enthält Rabers Sammlung zahlreiche Rollen- und Szenenentwürfe, was im Ganzen die Annahme bestärkt, dass Raber nicht nur als Bearbeiter oder Kompilator zu sehen ist, sondern auch als eigenständiger Verfasser von Dramentexten.

  • Vigil Raber und Benedikt Debs

    Zur Sammlung gehören auch fünf Handschriften, die Raber nicht selbst erstellte, die aber in Zusammenhang mit der Sterzinger Passionsspieltradition stehen. Unter diesen Handschriften ist der sogenannte „Debs-Codex“ (» Sterzing, Stadtarchiv (I-VIP), Hs. IV):  eine aus dem 15. Jahrhundert datierende Sammelhandschrift mit Spielen aus dem Osterfestkreis, einem Verkündigungs- und einem Lichtmessspiel sowie einem Spiel von Christi Himmelfahrt. Sie gilt als „die wichtigste Sammlung Tiroler Dramentexte“.[12] Ihr Vorbesitzer Benedikt Debs[13] stammte aus Ingolstadt und wurde 1511 Lateinschulmeister in Bozen. Bis zu seinem Tod im Januar 1515 war auch er als „treibende Kraft“[14] im Spielbetrieb tätig und wurde von Raber selbst als ein „sunde[r] liebhaber der spill“[15] bezeichnet. Die von Debs gesammelten Spielhandschriften gingen nach dessen Tod in Rabers Besitz über, erhalten ist bis heute jedoch nur die „dickhe allti scarteggn“,[16] der Debs-Codex.

     

    Abb. Benedikt Debs-Codex

    Abb. Benedikt Debs

    Fol. 55v/56r des Debs-Codex (» Sterzing, Stadtarchiv (I-VIP), Hs. IV). Auf der linken Seite Eintragung Vigil Rabers über Benedikt Debs; auf der rechten Seite der fragmentarische Beginn des „Bozner Osterspiels (III)“ (mit Visitatio sepulchri) mit Musiknotation. (Ediert in: Lipphardt/Roloff, Bd. 1, 189–212)

    Haupteintrag auf der linken Seite der Abbildung:

    „Zu wissen sey alln denen, so dise allte scarteggn furkumbt zu lesn oder fur ougen, ist ainem, so solche allte spill, so in disem register nit an mye eingepunden, zamm bracht. Sind mir, Vigilien Raber, geschenckht zu behallten von aim sundern liebhaber der spill, auch wellicher ain beruembter notisst vnd bassisst, auch schuelmaister gwesst zu Botzn, genannt maister Benedict Debs von Ingelstat etc., wellicher gstorben ist im iar 1515 im monat ianuari vnd begraben zu Botzn in der gsellbriester begrebnus bey der kirchtur, so gegen widem ist. Got hellf seiner samb allen glaubigen selen. Amen.“ (Nach Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 348, mit Anpassungen)

     

    Zusammen mit Benedikt Debs und dem Patrizier Lienhart Hiertmair gab Raber 1514 den Anstoß für die größte Passionsspielaufführung des spätmittelalterlichen Bozens.[17] „Diese Aufführung ist ein Höhepunkt der Passionsspielpraxis im deutschsprachigen Raum schlechthin gewesen.“[18] Gespielt wurde an sieben Tagen, „yeds tags ain sundere matheri“:[19] Den Anfang bildete am Palmsonntag ein Vorspiel zur Passion mit dem Einzug Jesu nach Jerusalem; von Gründonnerstag bis Ostermontag wurden das Leiden und die Auferstehung Christi gespielt – mit einem Emmausspiel als Abschluss. An Christi Himmelfahrt folgte mit der „auffart“[20] schließlich der letzte Teil „des offenbar als Zyklus aufgefaßten“[21] Passionsspiels. Die Aufführung fand in der Bozner Pfarrkirche statt, was aufgrund der hohen Anzahl an Darstellern durchaus überrascht. Für das Palmsonntagsspiel etwa ist von „wenigstens 75 Personen“[22] auszugehen, die über die Dauer des Spiels auf der Bühne präsent bzw. aktiv am Bühnengeschehen beteiligt waren.[23] Dies könnte darauf hindeuten, dass die Bozner Spieltradition noch enger mit kirchlichen Feierlichkeiten verbunden war, als dies für andere städtische Aufführungen belegt ist.

  • Raber als Spielleiter 1514

    Als Spielleiter war Vigil Raber drei Monate lang mit der Organisation der Passionsspielaufführung beschäftigt. Er koordinierte die handwerklichen Arbeiten für den Bühnenaufbau, die Requisiten und die Kostüme. Dabei vergab er selbstständig Aufträge und führte Buch über die Ausgaben. Außerdem oblag ihm die künstlerische Vorbereitung: Er arrangierte die Proben, die wiederum nicht nur für ihn als Spielleiter, sondern auch für ihn als Darsteller des Judas und des Hortulanus wichtig waren.[24]

    Ein besonderes Augenmerk aber legte er auf die Erstellung eines angemessenen Spieltextes. Dessen Grundstock bildete das „Bozner Passionsspiel von 1495“,[25] das dreiteilig aufgebaut an Gründonnerstag, Karfreitag und Ostersonntag gespielt worden war und inhaltlich stark an der biblischen Vorlage orientiert erscheint. Zur Erweiterung dieser Textbasis reiste Raber nach Sterzing, um dort ein noch unbekanntes Palmsonntagsspiel abzuschreiben (Sterzing, Stadtarchiv (I-VIP), Hs. V), das er anschließend dem Bozner Rat vorstellte und in überarbeiteter Fassung für die Aufführung verwendete. Außerdem exzerpierte er aus einem entliehenen Haller Passionsspieltext neue Passagen (» Sterzing, Stadtarchiv (I-VIP), Hs. XI).[26]

    Die Kompilation aller dieser Textmaterialien wurde schließlich in zwei Handschriften notiert und für die Aufführung erneut überarbeitet.[27] In der Textkonstitution sind viele Zusätze erkennbar. Insbesondere das Spiel am Ostersonntag wurde durch Salbenkrämer- und Teufelsszene stark erweitert. Da die beiden Manuskripte jedoch nur für vier Spieltage eingesetzt werden konnten, wurde davon ausgegangen, dass die übrigen Texte – die Marienklage, das Emmausspiel und die Himmelfahrt – aus dem Debs-Codex (» Sterzing, Stadtarchiv (I-VIP), Hs. IV) entnommen wurden. Die Verwendung von Texten aus dem Debs-Codex ist jedoch nicht zweifelsfrei zu belegen, denn weder im Codex selbst noch in anderen Quellen finden sich Hinweise darauf.[28]

    Das Karfreitags- und das Osterspiel der Bozner Aufführung von 1514 schrieb Vigil Raber kurze Zeit später noch einmal ab, möglicherweise in Zusammenhang mit einer geplanten Aufführung in Trient.[29] Der Spieltext firmiert auch unter dem Namen „Vigil-Raber-Passion“ (» Sterzing, Stadtarchiv (I-VIP), Hs. III). Der Aufwand, den Raber für die Zusammenstellung des Spieltextes betrieb, kann als außerordentlich bezeichnet werden. Er geht weit über gewöhnliche Auftragsarbeiten hinaus und präsentiert Raber als einen mittelalterlichen Theatermacher, der „nicht nur die grösste […], sondern wohl auch die glänzendste“[30] Passionsspielaufführung veranstalten wollte.

  • Die Bedeutung des Sterzinger Spielarchivs für die Wissenschaft

    Mit dem Sterzinger Spielarchiv liegt der Wissenschaft eine bedeutende und vermutlich „einzigartig[e]“[31] Sammlung von spätmittelalterlichen Spieltexten und -materialien vor. Ergänzt durch weitere zeitgenössische Quellen ermöglicht sie es, ein sehr detailreiches Bild eines mittelalterlichen Spielbetriebs zu gewinnen, das sowohl praktische Tätigkeiten als auch konzeptionell-literarische Erwägungen umfasst. Wie im Besonderen die Untersuchung der Bozner Aufführung von 1514 veranschaulicht, war zwar bei der Vorbereitung und Durchführung eines Spiels die Mitarbeit vieler Menschen, wenn nicht einer ganzen Stadtgemeinschaft gefragt, doch scheinen Impulse einzelner engagierter Persönlichkeiten von großer Bedeutung für die Initiation und Verstetigung einer Spieltradition gewesen zu sein.

[1] Zur literarischen Gattung des „Geistlichen Spiels“ vgl. einführend Schulze 2009.

[2] Das älteste Zeugnis stammt aus Hall: Dokumentiert ist eine Passionsspielaufführung im Jahr 1430. Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 1866–1870.

[3] Der erste sichere Textzeuge für ein geistliches Spiel aus Sterzing datiert aus dem Jahr 1486; in Bozen sind Belege ab 1472 vorzufinden, wobei dort ab 1514 die Spiele des Osterfestkreises von den Fronleichnamsspielen in den Hintergrund gedrängt werden. Vgl. Neumann 1986, 528, 536f. sowie zu den ersten Belegen Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 73f., Nr. 2523.

[4] Zu diesen Quellen zählen die Rechnungsbücher der Bozner Kirchpröpste, der Sterzinger Bürgermeister und Kirchpröpste sowie eigene Aufzeichnungen Rabers. Vgl. Wolf 1989, 943; aufgeführt sind die Quellen in Neumann 1987, Bd. 1.

[5] Zur Biographie Rabers vgl. Fischnaler 2002; Wolf 1989; Ott 2003.

[6] Darauf deutet auch hin, dass Raber vermutlich ein von der Kirche angeordnetes Begräbnis zuteilwurde. Vgl. Fischnaler 2002, 43f.

[7] Vgl. zu dieser Einschätzung auch Neumann 1986, 523, der hervorhebt, dass Raber als Privatmann eine so umfangreiche Sammlung anlegte.

[8] Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 2641.

[9] Neumann 1986, 527.

[10] Vgl. Neumann 1986, 540.

[11] Weitere Spielmaterialien wie Kostüme und Requisiten existieren nicht mehr. Auch waren die Handschriften des Archivs bedingt durch die politischen Umstände nach dem Ersten Weltkrieg nicht immer einsehbar, was die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Sterzinger Spielarchiv erschwerte. Vgl. Neumann 1986, 527f.; Neumann 1979, 54f. (mit Anmerkungen); Dörrer 1951/52; Dörrer 1965. Im Nachlass Rabers fanden sich außerdem weltliche Spiele, vgl. den Überblick bei Wolf 1989.

[13] Zur Biographie Debs‘ vgl. Wolf 1980; Dörrer 1957; Senn 1949.

[14] Wolf 1980, 59.

[15] Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 348.

[16] Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 2540.

[17] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 545.

[19] Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 545.

[20] Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 545; dort auch zur Spielkonzeption sowie zur Spielinitiation.

[23] Vgl. die Darstellerlisten bei Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 541 und 543 sowie die von Wackernell veranschlagte Rollenanzahl (Wackernell 1897, CCXLIV). Ein Eindruck vom Bühnenaufbau ist durch den Bühnenplan zu gewinnen, der in der Handschrift des Palmsonntagsspiels enthalten ist (Hs. V). (»Abb. Rabers Bühnenplan) Zu dessen Interpretation vgl. Michael 1950; Michael 1963, 37–44, sowie Zielske 1994.

[24] Zu Rabers Tätigkeiten als Spielleiter vgl. Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 544–546/6, 553; zur Übernahme bedeutender Spielrollen durch Raber vgl. die Darstellerlisten in Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 543.

[25] Das „Bozner Passionsspiel von 1495“ gehört nicht zum Bestand des Sterzinger Spielarchivs. Es wird im Bozner Franziskanerkloster unter der Signatur I-51 aufbewahrt. Vgl. Bergmann 1986, 71–74. Zur inhaltlichen Einschätzung des Spiels vgl. Wolf 1978.

[26] Vgl. Neumann 1987, Bd. 1, Nr. 539 und 545 sowie Wackernell 1897, CCXXXVIIIf.

[27] Beide Handschriften befinden sich seit dem 19. Jahrhundert im Besitz der Familie von Braitenberg, Meran. Zu den Angaben vgl. Bergmann 1986, 249–253.

[28] Vgl. Wackernell 1897, CCXXXVIIIf. sowie Wolf 1978.

[29] Vgl. Neumann 1986, 525; Bergmann 1986, 299f.


Empfohlene Zitierweise:
Sandra Theiß: „Die Tiroler Spieltradition. Das Sterzinger Spielarchiv“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/die-tiroler-spieltradition-das-sterzinger-spielarchiv> (2016).