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Lied und Liturgie

Reinhard Strohm

Die geistlichen Lieder Zentraleuropas erklangen – soweit sie gesungen wurden – hauptsächlich in Gottesdiensten, daneben aber auch im weltlichen und privaten Bereich. Lateinische Cantionen wurden an Festtagen vom Schülerchor vorgetragen und in klösterlichen Codices gesammelt, wo man ihre relative Unabhängigkeit vom kirchlichen Ritus manchmal anerkannte, manchmal verschleierte.[10] Im südböhmischen Hohenfurter Graduale (» CZ-VB Ms. 42) von 1410 ist die Cantio Ave yerarchia nicht nur „in Adventu ad Missam Rorate“ rubriziert, sondern außerdem als Interpolationstropus zur Antiphon Salve regina verwendbar gemacht.[11] Denn eine verbreitete Funktion dieser Cantio war die eines Tropus zur Sequenz Mittit ad virginem, die in den Adventsmessen (Rorate-Messen) böhmischer Bruderschaften gesungen wurde. Die Verbindung mit dem Salve regina scheint hingegen eine lokale Erfindung. In derselben Handschrift, fol. 53r–59v, ist das Weihnachtslied Dies est leticie sogar als Gloria-Tropus verarbeitet.[12]

Die Verwendung der Lieder in der rituellen Praxis lässt sich oft aus den Liedtexten selbst ermitteln. Auch die Liedtitel und Rubriken in liturgischen Ordinarien und Gradualien geben über den Gebrauch Aufschluss und in nichtkirchlichen Quellen geht der traditionelle Verwendungszweck eines Liedes nicht selten aus dem Zusammenhang hervor.[13] Auch zeitgenössische Predigten, geistliche Traktate, Schul- und Kirchenordnungen sowie Chroniken und andere literarische Quellen geben bisweilen über den rituellen Kontext Auskunft. Eine systematische Studie, die sich auf solche „Paratexte“ stützt, wurde 1968 von Johannes Janota vorgelegt.[14] Seine grundsätzliche Frage gilt dem Verhältnis zwischen Lied und Liturgie. Er kommt zu dem Ergebnis, dass dem Ritus hinzugefügte Gesänge schlechthin keinen liturgischen Status besaßen, außer wenn sie vom Priester oder der Schola auf Lateinisch im Zusammenhang mit einer liturgischen Handlung (actio liturgica) gesungen wurden und bischöfliche Approbation besaßen. Alle von anderen Teilnehmern beigesteuerten Gesänge, wie vor allem Kirchenlieder in der Volkssprache, hatten nur den Rang von frommen Übungen (pia exercitia).[15] Einschränkend muss zwar anerkannt werden, dass einige der älteren volkssprachlichen Lieder, wie eben z. B. Christ ist erstanden oder die deutschsprachigen Lieder im Seckauer Ordinarius von 1345 (» A. Gesänge zu Weihnachten), durch Aufnahme in kirchliche Ordinarien und Gradualien als Teile der Liturgie akzeptiert waren.[16] Hinsichtlich der musikalischen Gattungsgeschichte bestätigt sich jedoch, dass im 14. Jahrhundert noch innerhalb des lateinischen Repertoires ein Übergang vom offiziellen Ritus zur frommen Übung erfolgte: Der Tropus musste zusammen mit einem liturgischen Trägertext erklingen, während die Cantio, auch wenn sie formal gesehen ein Tropus war, ohne Trägertext anderweitig eingesetzt werden konnte (» A. Kap. Zur kulturellen Bedeutung).

[10] Vgl. die Situation in Handschriften aus Seckau und Moosburg. (» A. Weihnachtsgesänge)

[11] Vgl. Rothe 1984, 366; Rothe 1988, 235–241 (Nr. 216A und 216B); Strohm 1993, 331–332.

[12] Rothe 1984, 184–194.

[13] Typische Beispiele solcher aufschlussreicher Quellen sind der Liber ordinarius aus Seckau von 1345 (A-Gu Cod. 756) und die deutschsprachige Liederhandschrift D-Mbs Cgm 715 (ca. 1450, aus Süddeutschland oder Salzburg; » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg).

[14] Janota 1968.

[15] Vgl. Janota 1968, 149–150. Janotas Studie ist auf deutsche Lieder konzentriert; leider fehlt eine ähnliche systematische Untersuchung lateinisch textierter Lieder.

[16] Ich danke Stefan Engels für dementsprechende Hinweise.