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Akklamation

Reinhard Strohm

Ein wichtiges Beispiel gesungener Praxis ist der Vorgang der Akklamation (Anrufung, Begrüßung), an dem sich verschiedene Personen beteiligen können. Diese Art von Lied wird von einem Kollektiv vorgetragen und ist in der „wir“-Form verfasst – auch wenn die Ausführenden nicht die Gemeindemitglieder selbst, sondern z. B. die Chorschüler waren. Die Antiphon Cum rex glorie (» A. Osterfeier, Kap. Die Osterprozession; » Hörbsp. ♫ Cum rex glorie) erzählt in ihrem ersten Teil von dem Augenblick, in dem der auferstandene Christus in die Hölle gelangt, um die dort schmachtenden frommen Seelen zu befreien und die Teufel zu überwinden. Doch ihr zweiter Textteil ist eine Akklamation: Er zitiert in wörtlicher Rede die Rufe der in der Hölle wartenden Seelen, die den zu ihrer Erlösung erscheinenden Heiland begrüßen.

Cum rex glorie
Cum rex glorie Christus infernum debellaturus intraret
et chorus angelicus ante faciem ejus portas principum tolli praeciperet,
sanctorum populus qui tenebatur in morte captivus voce lacrimabili clamaverat:
Advenisti desiderabilis, quem expectabamus in tenebris,
ut educeres hac nocte vinculatos de claustris:
Te nostra vocabant suspiria, te larga requirebant lamenta,
tu factus es spes desperatis, magna consolatio in tormentis.

Alleluia.

Als Christus, der König der Ehre, die Unterwelt betrat, um sie zu besiegen,
und der Chor der Engel vor seinem Antlitz die Tore der Höllenfürsten zu heben gebot,
da rief das Volk der Heiligen, das im Tode gefangen gehalten wurde, mit zu Tränen rührender Stimme:

Gekommen bist du, Ersehnter, auf den wir in der Finsternis warteten,
damit du uns Gefesselte in dieser Nacht aus dem Kerker herausführst:
Dich riefen immer unsere Seufzer, dich erflehten unsere langen Klagen,
du wurdest zur Hoffnung den Verzweifelten, ein großer Trost in den Qualen.
Halleluja.

 

 

Die dramatische Szene von Christi Höllenfahrt war in vielen Formen beliebt, nicht nur als halbdramatischer Prozessionsgesang. Bildliche Darstellungen (wie Martin Schongauers Altarbild: » Abb. Christi Höllenfahrt) waren zahlreich; sogar ein Traktat zur Erklärung des Textes wurde verfasst.[19] So ist es verständlich, dass die Anrufung Advenisti noch weiter ausgestaltet wurde, um gleichsam auch die Schar der Gläubigen zu Wort kommen zu lassen: Es wurde der Tropus Triumphat Dei filius angefügt, der als eigene österliche Cantio weiterexistierte und in mehreren Quellen in striktem Rhythmus und mehrstimmig erscheint (» A. Osterfeier, » Hörbsp. ♫ Tropus Triumphat). In einigen Versionen lautet der Text Alle Dei filius – so als ob der Liedtext in das Wort „Alle-luia“ hineingefüllt worden wäre (» Notenbsp. Alle Dei filius Übertragung). Den Status des Alle Dei filius als eigenes Prozessionslied bekräftigen zeitgenössische mensurale Vertonungen, wie » Hörbsp. ♫ Alle Dei filius (Trient 91) (um 1470; aus » I-TRbc 91, fol. 145v–146r). Dieses Stück, das die Melodie des Tropus Triumphat als cantus firmus mitführt, ist sicher nicht in der Prozession gesungen worden und auch nicht unbedingt an Ostern. Vielmehr ließ man sich hier ein geistliches Lied in reicher harmonischer Ausstattung privat vorführen, vielleicht zur Andacht, vielleicht auch nur als musikalische Unterhaltung.

Auch die Akklamation Advenisti selbst hat eine eigene „Entfremdungsgeschichte“: Sie wurde öfters zu weltlichen Zeremonien, wie dem festlichen Einzug eines Herrschers vorgetragen (» D. Advenisti: Fürsten und Diplomaten auf Reisen und » D. Krieg und Zeremonie). Dabei folgte man der Tradition der Laudes regiae (Christus vincit): Akklamationen, die seit karolingischer Zeit bei Auftritten von Kaiser oder König gesungen wurden. Der Antiphontext mit seiner Beziehung auf Christus gab solcher Herrscherdarstellung einen übersteigerten und eschatologischen (jenseitigen) Charakter. In den Trienter Codices gibt es Huldigungsmotetten auf den dortigen Bischof Georg Hack mit dem Advenisti-Text (z. B. » I-TRbc 88, fol. 336v–337r; » Hörbsp. ♫ Advenisti/Venisti nostras).[20]   

[19] Expositio antiphonae „Advenisti desiderabilis“ in der Handschrift A-MB Man. cart. 205 (Tegernsee um 1520), fol. 72r–v.

[20] Zu letzteren vgl. Flotzinger 2007, 219–225.