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Die Entstehung des Begriffes „cantio“

Reinhard Strohm

Die Gattungsnamen in den Rubriken des Seckauer Cantionarius sind traditionell. Der Begriff „cantio“ kommt nicht vor – weil er noch nicht akzeptiert wird? Trotzdem findet der Schreiber bei dem Refrain-Strophenlied Nunc angelorum gloria nur die nicht-rituelle Bezeichnung „conductus“ passend. Dieses Lied steht bereits 1360 unter den „cantionesdes Moosburger Graduale (» D-Mu Hs. 2°156, fol. 236v), zusammen mit Resonet in laudibus und Nove lucis hodie.

Im Moosburger Graduale gibt es also den Begriff „cantiones“: Er bezieht sich dort auf strophische Lieder zum Singen an hohen Festen, die aber weder zwingend innerhalb des Gottesdienstes zu singen noch formal stets mit einem Trägertext verknüpft sind. Die Redaktoren der Seckauer Sammlung hingegen bezeichnen Flos de spina noch als „Tropus“ – vielleicht nur, um es im kirchlichen Gebrauch erhalten zu können. Im Moosburger Graduale erklärt eine lange Rubrik, dass die dort angebotenen Cantionen an die Stelle weltlicher und ungezügelter Gesangstraditionen, vor allem der des Kinderbischofs, zu setzen seien.[36]

Es muss eine breite Strömung geistlichen Singens gegeben haben, die der in Seckau und Moosburg vorgenommenen Regulierungen erst noch bedurfte. Ein populäres Element dürfte beteiligt gewesen sein.[37] Dem scheint im Fall des Nachbarlandes Böhmen zu widersprechen, dass die dortigen ältesten Cantionen-Sammlungen, die in Repertoire und Charakter mit Seckau und Moosburg einiges gemeinsam haben und die neuen Lieder „cantiones“ nennen, aus der Prager Benediktinerinnen-Abtei St. Georg auf dem Hradschin stammen, einer der sozial privilegiertesten Institutionen des Landes.[38] Aber es ist kein Widerspruch: Man hat in diesen führenden Zentren der offenbar schon mündlich verbreiteten neuen Liedästhetik einen zunächst vorsichtigen Tribut gezollt.

[36] D-Mu Cod. Hs. 2° 156, fol. 230v (vgl. Hiley 1996).

[37] Deutlichere Belege für populäre Vorlagen gibt es im katalanischen Llibre Vermell und im irischen Red Book of Ossory : vgl. Strohm 1993, 62–63.

[38] Vgl. Plocek 1985Böse/Schäfer 1988Strohm 2007.