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Szenische Lieder

Reinhard Strohm

In der Weihnachtsfestzeit waren das Eselsfest und ähnliche Zeremonien für die Schulknaben beliebt und wurden gern theatralisch aufgeführt; dazu sang man schon seit dem 12. Jahrhundert Conducten. Im 14. Jahrhundert entstand das Kindelwiegen. Ein gewisser Zug zur Theatralisierung erfasste auch diese Zeremonie, als die Cantio Resonet in laudibus verdeutscht wurde. Zu dessen Melodie entstand nämlich (vor ca. 1420) der Text Joseph, lieber neve mein, der nach Auskunft der vielleicht aus Salzburg stammenden Handschrift » D-Mbs Cgm 715, fol. 4r, eine szenische Ausführung verlangte: [51]
„Zu den weynachten der fröleich ympnus A solis ortu cardine und so man daz kindel wiegt über das Resonet in laudibus hebt unnser vraw an ze singen in ainer person Yoseph lieber neve mein. So antwurt in der andern person Yoseph Geren liebe mueme mein. Darnach singet der kor dy andern vers in ainer dyenner weis“
(Zu Weihnachten der fröhliche Hymnus A solis ortu [sic] cardine und, falls man zum Gesang des Resonet in laudibus das Kindlein wiegt, fängt die Maria darstellende Person an zu singen Joseph, mein lieber Vetter. Die andere, Joseph darstellende Person antwortet Gerne, meine liebe Base. Danach singt der Chor die anderen Strophen wie von Dienern.)

In der aus demselben Skriptorium stammenden Handschrift » D-Mbs Cgm 1115, fol. 39r–v, wird vorgeschrieben, dass zunächst ein Diener („servus“) auf Joseph und Maria antwortet, später aber der Chor mit dem Refrain Sunt impleta der Antiphon Magnum nomen domini einsetzt und zum Responsorium Verbum caro factum est überleitet.

Weihnachtscantionen, die mit Tanz oder szenischer Aktion vorstellbar sind, sind u. a. In dulci jubilo, Puer nobis nascitur und In hoc anni circulo (für Neujahr), deren Quellen teilweise Melodien im Dreierrhythmus zeigen. Die wichtige Weihnachtscantio Dies est letitie kommt jedoch gar nicht im Dreierrhythmus vor. Auch In dulci jubilo wurde manchmal in zweizeitigem Rhythmus notiert.[52] Eine in der Region Österreich sicher geläufige Version, in dreizeitiger Mensur, steht im Orationale Friedrichs III. (» A-Wn Cod. 4494, fol. 66v-67r).[53] Im Zollner-Graduale von Neustift/Novacella sehen wir den Gesang „In dulcis jubilo, singet und seyt fro“ [sic] auf einem von einem Engel gehaltenen Spruchband bei Christi Geburt abgebildet: » Abb. Puer natus est nobis. Es könnte sein, dass am Ende der Weihnachtsmette als Engel verkleidete Chorschüler das Lied vorsangen; danach begann die erste Messe mit dem Introitus Puer natus est nobis, dessen Initiale „P“ den Rahmen des Bildes darstellt.

Die Cantio Nos respectu gracie gehörte wahrscheinlich zu einem Dreikönigsspiel, denn ihr Text ist die Ansprache der drei Könige, die sich mit ihren Gaben vorstellen. Dieser Benedicamus-Tropus stammt vielleicht aus Böhmen; in dortigen Quellen ist er als „Mysterium“ (d. h. geistliches Spiel) bezeichnet.[54] Unter den Erlauer Spielen aus Kärnten (» J. Singende Juden) findet sich das älteste bekannte deutschsprachige Dreikönigsspiel, in dem zwar Nos respectu nicht vorkommt, jedoch die Cantio Puer natus in Bethlehem und das Epiphanias-Responsorium Illuminare mit dem Vers Et ambulabunt reges.[55] Alle drei Gesänge, Nos respectu, Puer natus in Bethlehem und Illuminare, sind im Orationale Friedrichs III. vereinigt. Hat man am Kaiserhof ein Dreikönigsspiel aufgeführt?[56]

Die Passion Christi wurde in der Region Österreich oft mit aufwändig inszenierten geistlichen Spielen öffentlich dargestellt (» H. Sterzinger Spielarchiv). Traditionelle Lieder und Cantionen sind in den Passionsspieltexten selten, jedoch finden sich hier zwei Gesänge, die aus dem Ritus der Finstermette stammen und im 15. Jahrhundert auch als unabhängige Cantionen weit verbreitet waren. Die hochmittelalterliche Marienklage O filii ecclesie, der Form nach ein vielstrophiger Hymnus, wurde traditionsgemäß am Karfreitag gesungen, mancherorts verbunden mit einer szenischen Aufführung.[57] Ihre deutsche Übersetzung O liben kind der cristenheit erscheint regelmäßig in dramatischer Form, so z. B. in der Erlauer Marienklage und in Passionsspielen (» Notenbsp. O liebe kind).[58] In der Handschrift » A-Iu Cod. 457 steht eine Fassung des 14. Jahrhunderts (fol. 102r). Dort (fol. 105v) ist auch eine zweite traditionsreiche „Lamentation“ der Finstermette überliefert, der Tropus Ach homo perpende fragilis (Ach Mensch, gedencke was du bist) zur Antiphon Media vita in morte sumus, der in über 20 Quellen aus Österreich, Böhmen, Bayern und der Schweiz überliefert ist.[59] Auch wenn diese Lamentation dramatisch vorgetragen wurde, war sie doch eher für Betrachtung und Gebet bestimmt.

[51] Zur vorgeschlagenen Zuschreibung von Joseph, lieber neve mein an den Mönch von Salzburg (G 22) vgl. Janota 1968, 127 und 130–131, und » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg. Die älteste Quelle ist jedoch die aus Leipzig oder Nürnberg stammende Handschrift D-LEu Ms. 1305, ca. 1420, wo das Lied anonym und in einer mitteldeutschen Mundart vorliegt; vgl. Lütolf 2003–2010, Bd. 1, Nr. 426 und 427. In D-Mbs Cgm 715, fol. 4r, ist das nächste erwähnte Lied dem Mönch explizit zugeschrieben, während Joseph, lieber neve mein anonym bleibt.

[52] Vgl. Ameln 1985. Die Liedverbreitung variiert auch regional: In dulci jubilo ist in den Niederlanden und im Rheinland häufig überliefert, in Böhmen überhaupt nicht.

[53] Vgl. Strohm 2007; siehe dort auch zu den weiteren Cantionen im Orationale.

[54] Dreves 1886, 160; Strohm 2007, 247.

[55] Vgl. Kummer 1882, Nr. IIJanota/Suppan 1990, Nr. 2.

[56] Auch der Hymnus A solis ortus cardine, der nach D-Mbs Cgm 715 dem Kindelwiegen vorausgeht, steht in A-Wn Cod. 4494 (fol. 61v–62r) mit Noten, gefolgt von der Übersetzung Von anegeng der sunne kchlar des Mönchs von Salzburg.

[57] Vgl. Kornrumpf, Gisela: ‚O filii ecclesiae‘/‘Homo, tristis esto‘ (lat. und dt.), in: Stammler 1978–2008, Bd. 11 (2004), Sp. 1061–1065. Zur Marienklage an St. Stephan, Wien, siehe » E. Musik im Gottesdienst.

[58] Zur Erlauer Marienklage siehe Kummer 1882, Nr. VI, und Suppan/Janota 1990, Nr. 6.

[59] Zur Überlieferung beider Gesänge vgl. Stenzl 2001, 166 und 171.