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Die geistlichen Lieder

Stefan Engels

Grundlage der geistlichen Kompositionen des Mönchs von Salzburg ist die Salzburger diözesane Liturgie des Mittelalters. Seine geistlichen Gesänge lassen sich in zwei Gruppen einteilen: Gesänge, deren Melodien von Hymnen und Sequenzen des mittelalterlichen Chorals übernommen sind, mit wörtlicher oder freier Übersetzung oder auch als Kontrafaktur auf einen neuen Text, und Lieder mit freien Melodien. Thematisch sind die Mehrzahl der Lieder Marienlieder. 21 Lieder sind Sequenzen, davon ist nur eine (G 1) eine Neukomposition, sechs sind Kontrafakturen, alle diese sind Marienlieder. 13 Lieder sind Übertragungen von lateinischen Hymnen. 15 Lieder verwenden eine Kanzonenstrophe (Barform: Stollen – Gegenstollen – Abgesang: AAB), die als „Ton“ bezeichnet wird, also ein Melodiemodell, wie es die Minnesänger und Meistersinger benützt haben. Vier der Töne hat der Mönch mehrfach benützt. Zwei der Töne, der „Lange Ton“ und die „Chorweise“, erhielten sich in der Tradition der Meistersinger.[31] Drei Lieder sind einfache Strophenlieder: Joseph, lieber nefe mein (G22) (» A. Weihnachtsgesänge), Eia der grossen liebe (G 24 ) (» A. Osterfeier) und der Tischsegen (G 42: » Hörbsp. ♫ Tenor - Benedicite). [32] Lediglich ein Lied, nämlich O Maria pia (G 9), ist eine lateinische Übertragung eines deutschen Liedes im sogenannten Barantton.[33] In der Handschrift K heißt es dazu auf fol. 38v: „Als her Peter von Sahsen dem Münch von Salzburg diß vorgeschriben par schicket, da schicket er ime diß nachgende latinisch par her widerumb in dem selben tone.“[34] Vgl. Hörbsp.  O Maria pya, Notenbsp. Maria gnuchtig/O Maria pya. Zwei anderen Liedern liegt die Sequenz Salve mater salvatoris zugrunde: G 7 (wörtlich) und G 8 (sinngemäß).

Die Lieder berücksichtigen in der Tat alle wichtigen Feste des Kirchenjahres, sodass manche Forscher an ein bewusst projektiertes geistliches Liederbuch gedacht haben.[35] Gesänge in deutscher Sprache waren ja keineswegs unbekannt und nahmen im Gottesdienst am Ende des Mittelalters in Salzburg durchaus einen wichtigen Platz ein (» A. Osterfeier). Dies geht auch aus liturgischen Büchern aus Salzburg hervor, die aus Nonnenklöstern stammen. Die Rubriken zu manchen Gesängen des Mönchs, wie zu Kunig Christe G 27 (» A. Osterfeier), legen sogar eine Verwendung im Gottesdienst nahe. Dagegen spricht bei anderen Gesängen allerdings deren teilweise raffinierte künstlerische Ausgestaltung, die sie für einen Gebrauch in der Liturgie nicht geeignet erscheinen lassen. Ein Kompositionsprinzip des Mönchs ist zum Beispiel die Variation. So gestaltete er bei strophischen Hymnen die einzelnen Strophen in Melodie und Rhythmus jeweils ein klein wenig anders. Selbst bei Sequenzen, deren Grundstruktur doch auf Strophenpaaren in der Form aa – bb – cc … basiert und die für eine Ausführung abwechselnd durch zwei Chöre bestimmt sind, müssen die Melodieabschnitte der Verse bei der Wiederholung nicht identisch sein, sondern schmiegen sich dem deutschen Text und seiner Deklamation an. Für die musikalische Ausführung bedeutet dies: Wenn von einem Hymnus nur die erste Strophe mit Noten überliefert ist, lassen sich die übrigen Strophen nicht ohne weiteres dieser Melodie unterlegen, sondern sie müssen eigens angepasst werden, was das Singen von einer größeren Gruppe während des Gottesdienstes ausschließt.

[31] Vgl. Wachinger 1989, 159.

[32] Zu den einzelnen Gattungen siehe Waechter 2005, 53–58; zu den Tönen des Mönchs Wachinger 1989, 159–197.

[33] Vgl. Waechter 2004, 75, 239; Waechter  2005, 6–8, 211, 263–264. Vgl.  Kap. Ton und Kontrafaktur: der Barantton.

[34] Spechtler 1972, 167. Unter „par“ (= Bar) versteht der Schreiber hier eine ganze Strophe.

[35] Vgl. Spechtler 1972, 6, Anm. 9.