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Variabilität von Liedern in Gestaltung und Funktion

Nicole Schwindt

Die auffällige Multifunktionalität von Liedern beruht auf ihrer Eigenart, so etwas wie eine Kernsubstanz zu verbürgen, die sich aus einem Text, einer Melodie, einem Tonsatz speist, wobei die Anteile variabel sind. Auf jeden dieser Bestandtteile kann verzichtet werden, jeder davon lässt sich ersetzen und jede Kombination einzelner Elemente kann nochmals eine Anreicherung erfahren. Lieder funktionieren im 15. und 16. Jahrhundert im Sinne eines modularen Systems.

In potenzierter Form trifft dies auf die Lust am Kombinieren zu. Auch das ist beileibe keine „nationaltypische“ Erscheinung, aber sie erfährt bei deutschen Liedern eine eigene Einlösung. Für die Herstellung musikalischer Gebilde besteht aus fachlicher Sicht der handwerkliche bzw. intellektuelle Anreiz, Verschiedenes zusammenzuführen, für ihren Gebrauch das Erkennen des Verknüpften und der damit einhergehende emotionale bzw. gedankliche Mehrwert im Vordergrund. Dieser Bedeutungszuwachs kann humoristischer, atmosphärischer oder regelrecht exegetischer Art sein. Zu amüsanten oder überraschenden Effekten führt das quodlibethafte Zusammenstellen von Liedanfängen oder Liedzeilen, wie es nach mehreren Fällen in den Saganer Stimmbüchern einen Höhepunkt in Schmelzls Drucksammlung » Guter seltzamer und kunstreicher teutscher Gesang erfuhr. Es stieß sicher an vielen Orten auf erfreute Abnehmer, als Unterhaltungsform am Wiener Schottenstift ist es rekonstruierbar. Die deutschen Liedmessen, die sich gerade dadurch auszeichnen, dass sie nicht nur monophone Cantus firmi zitieren, sondern öfters gleich ganze polyphone Passagen aus den Liedern herausbrechen und dem Messensatz implantieren, setzen ganz offenbar auf das (bewusste oder unbewusste) Hören vertrauter Klangpassagen.[34] Und eine Subbotschaft wurde im Leopold-Kodex dem Tannhäuser-Lied (» Hörbsp. ♫ Tannhauser) beigefügt: Im dreistimmigen Satz mit der Liedweise im Tenor wird die Geschichte des Tannhäusers, der Erlösung aus dem Bann der Frau Venus ersehnt, thematisiert. Hundert Blätter später ist das Lied in den Bass einer vierstimmigen Komposition versetzt und mit einer Heilsbotschaft in Gestalt des Pfingsthymnus Veni creator spiritus vereinigt, wodurch das tröstliche Ende der Geschichte vorweggenommen wird.[35] Von der Wirksamkeit der „eingewebten“ (Lied-)Botschaften war man anscheinend überzeugt. 1488 verabschiedeten Adel und Reichsstädte, die sich gerade zum Schwäbischen Bund vereint hatten, unter anderem Maßnahmen, die dem Seelenheil der Bevölkerung dienen sollten. Dazu zählte auch, „dasz ouch in allen stetten in den pfarr-kirchen und klöstern allwegen uff St. Jergen tag ain amt in der von der hailigen dreyfaltigkeit der Junfrowen Mariae und des lieben ritters St. Jergen um sig und gnad gesungen werd … so lang disz buntnusz weren wirdet“.[36] (dass auch in den Pfarrkirchen und Klöstern immer am St.-Georgstag eine Messe von der hl. Dreifaltigkeit, der Jungfrau Maria, und dem lieben Ritter St. Georg um Sieg und Gnade gesungen wird, so lange dieses Bündnis währen wird.)

Sieg und Gnade (mittelhochdeutsch „sälde“) kommen in der Missa Sig säld und heil[37] vor, die ein Lied verarbeitet, das Schedel unter dem Lemma „Von osterreich“ in seine Sammlung eintrug (» Hörbsp. ♫ Sig, säld und hail und » Hörbsp. ♫ Sig, säld und hail (Contratenor melior)).

[34] Strohm 1989Leverett 1995Höink 2012. Dem Überblick wäre noch die von Nicolas Champion dit Liegeois komponierte Missa Ducis Saxsoniae Sing ich nit wol hinzuzufügen, deren Liedbasis bereits vor dem süddeutschen Manuskript D-WGl Lutherhalle Ms. 403/1048 (um 1535/1536) in Bernhard Rems Stimmbuchsatz D-Mu, 8°Cod. ms. 328–331 (vor 1527) festgehalten ist.

[35] D-Mbs Mus. ms. 3154, fol. 53v: Tannhauser Ihr seid mir lieb (3v), fol. 151r: Veni creator spiritus und Thanhauser jr seit mir liebHeidrich 2005, 54 ff.

[36] Klüpfel; Karl (Hrsg.): Urkunden zur Geschichte des Schwäbischen Bundes (14881533), Bd. 1, Stuttgart 1846, 24.

[37] Zur Autorschaft siehe Leverett 1995, zum musikalischen Stil im Umfeld Friedrichs III. siehe Schmalz 1987, zum Titel siehe Strohm 1989.