Sie sind hier

Isaacs kanonische Verdopplung

Nicole Schwindt

Beide Intentionen, die artistische wie die deutende, werden bei Isaac enggeführt: Manche seiner vierstimmigen Lieder – und sein Schüler Senfl wird mehrfach in seine Fußstapfen treten – zeichnen sich dadurch aus, dass sie die Liedmelodie in Tenor und Bassus kanonisch bzw. quasi-kanonisch führen. (Wenn eine solche Melodie kurz und prägnant gehalten ist und auf lapidare und dem Alltagsleben abgewonnene Texte erfunden wurde, wird sie im Schrifttum üblicherweise mit dem Attribut „volkstümlich“ versehen.) Das kleine Korpus der Isaac zuweisbaren Lieder dieser Art wird flankiert von anonymen fünfstimmigen Stücken im Leopold-Kodex: Der baur in dem grauen rock oder Es wollt ein maidlein nach grase gan. Letzteres wirkt wie eine Vorstudie zu Isaacs vergleichbarem Lied Dich muter gotes rüff wir an, das erstmals in der Schweizer Quelle » CH-Bu F X 5–9 (spätestens 1510) und dann im Öglin-Druck von 1512 (» Aus sonderer künstlicher Art) im unterdessen normativ gewordenen vierstimmigen Satz überliefert ist. Ein kompositorischer Anreiz bestand sicher darin, noch anspruchsvollere Umsetzungen für den seit Heya, heya neu praktizierten Satztypus des Tenorlieds zu realisieren. Wurden dort die einzelnen Zeilen der im Tenor erklingenden Liedweise mit imitatorischen Passagen präludiert oder sogar thematisch antizipiert – vergleichbare Fälle aus dem Leopold-Kodex sind Ich sachs einsmals den lichten morgensterne bzw. So steh ich hie auf dieser erd (» Hörbsp. ♫ Ich sachs einsmals, » Hörbsp. ♫ So steh ich hie) – erscheint die Liedweise nun in kanonischer Verdopplung. Was bei einem Lied mit plumpem Text, wie dem vom grau gekleideten Bauer, wie ein artifizieller Gegensatz wirkt, kann bei Liedern, die die Liebe zum Thema haben, darüber hinausgehen und auf die inhaltliche Ausdeutung anspielen. Bei der erotischen Pastourelle von der Graserin und dem Peter mag die Zwei-in-Eins-Analogie zwischen Kanon und Liebespaar noch banal erheitern, aber bei der Kontrafaktur Dich muter gotes rüff wir an, mit der Öglins Liederbuch eröffnet wird (und das sicher nicht ohne Isaacs Wissen), fungiert die quasi-kanonische Konstruktion mit mittigem Wechsel von vorausgehender und nachfolgender Stimme als Chiffre für die Anrufung Mariens durch den Gläubigen, der auf die Erwiderung ihrer Liebe vertraut.[38]

[38] Schwindt 2006, 51–56.