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Kain höhers lebt und O edle frucht

Nicole Schwindt

Manche Lieder zeigen einen offensichtlichen Herrschaftsbezug. Die Münchner Handschrift » D-Mbs Mus. ms. 3155, nicht lange nach Maximilians I. Tod angelegt, wird mit einem Lied Ludwig Senfls eröffnet, das die panegyrische Adresse an Maximilian als Kaiser des Heiligen Römischen Reichs mit seinem Wappentier nicht deutlicher zur Schau tragen könnte (» Notenbsp. Kain höhers lebt). Die erste Strophe lautet:

Kain höhers lebt, noch schwebt,
dem Adler yetz auf erden gleich.
Jn aller welt hochgemellt,
vber das heilig Römisch reich.
Die flug außprait, hellt frid vnd Klaid,
den Jungen sein, mit grechtem schein,
groß miltigkait wilpanen vnd Glaid,
Zu Zaigen schon,
seiner edlen Kayserlichen Kron.
(Nichts Höheres lebt oder erhebt sich nun über das Heilige Römische Reich als der Adler, der in aller Welt von hohem Ansehen ist. Er breitet seine Flügel aus, bewahrt für seine Kinder den Frieden und gewährt Schutz. Dabei erweist er seinen Gefolgsleuten seine große Freigebigkeit mit urkundlichen Beweisen über Wildbanne und Jagdgründe seiner herrlichen kaiserlichen Kronlande.)[40]

Die Schlusszeile der vierten Strophe zitiert Maximilians Devise „halltu mas in allen dinngen“ („Tene mensuram“).

 

Notenbsp. Kain höhers lebt

Notenbsp. Kain höhers lebt

Ludwig Senfls Vertonung des Gedichts Kain höhers lebt auf Kaiser Maximilian I. und den Adler als sein Wappentier. Transkription nach » D-Mbs Mus. ms. 3155, fol. 1v–2r. Text: Siegmund von Dietrichstein (1484–1533) (?). » K. Senfls Vermächtnis, Kap. Hypothesen zum geplanten Projekt.

 

Einen ganz anderen Ton hatte sechzig Jahre früher ein Gedicht angeschlagen, dessen Anfang das in » I-TRbc 88, fol. 106r, notierte dreistimmige Lied mit der Textmarke O edle frucht und dem Kontrafakturtext Martinus Abrahe sinu zitiert.[41] O edle frucht ist ein Liebeslied, das einer vielleicht metaphorischen, vielleicht aber auch echten Kaiserin huldigt. Der Beginn der zweiten Strophe versichert ihr direkt:

Gantz ewencklichen in steter trew
Mein kayserin, beger jch dein.
Ich naig mich fur dich vff die knie,
Lauz uz meins hertzen senende pein!
(In alle Ewigkeit begehre ich dich, meine Kaiserin, in immerwährender Treue. Ich verneige mich vor dir, indem ich auf die Knie gehe, stille die Sehnsucht meines Herzens!)

Und im Unterschied zu dem in Liedern häufiger anzutreffenden Vergleich der adressierten Geliebten mit einer Kaiserin gibt sich der Liebende in der dritten Strophe selbst zu erkennen:

Wann du mir büethst ain fruntlich wort
Dar fur ich lieb nit kayser wer.
(Wenn du mir ein freundliches Wort gewährtest, würde ich dafür gerne meinen Kaiserstatus hergeben.)

Anders als die Melodie des Senfl-Liedes, deren Duktus bereits so gestaltet ist, dass er sich organisch in das polyphone Stimmengewebe einpasst, deklamiert dieses Lied seinen ausdrucksvoll konstruierten, emphatisch ausgreifenden Tenor so, dass man sich gut vorstellen kann, wie es einstimmig, gegebenenfalls mit einer moderaten Begleitung, vorgetragen wurde. (» Notenbsp. O edle frucht)

 

Notenbsp. O edle frucht

Notenbsp. O edle frucht

Nach einem dreistimmigen Liedsatz (um 1456–1460) in » I-TRbc 88, fol. 106r, mit der Textmarke O edle frucht und dem Kontrafakturtext Martinus Abrahae sinu laetus. Oberes System: Tenor des polyphonen Satzes; unteres System: rekonstruierte einstimmige Liedmelodie.

Die Indizien für einen Zusammenhang von O edle frucht  mit der kaiserlich-höfischen Sphäre sind zugegebenermaßen schwach, zumal von der privaten Musikpraxis Kaiser Friedrichs III. so sehr wenig bekannt ist. Doch ist es ein verlockender Gedanke anzunehmen, das Liednotat gegen Ende der 1450er Jahre stünde in Beziehung zu dessen 1452 erfolgter Heirat mit Eleonore von Portugal. Er musste ihr das Lied nicht vorsingen – dazu gab es bei Hof einen Sänger, er machte sich zum Medium eines aktualisierten „kulturellen Handeln[s] in konventionalisierten Umständen“[42], dem beständigen Umkreisen der Liebe als Thema. Wie dem auch sei: Der Vergleich der beiden Lieder illustriert die Wegstrecke, die das höfische deutsche Tenorlied zwischen 1450 und 1520 in der Region Österreich zurücklegte: von der mehrstimmigen Ummantelung einer gewichtigen Melodie zur polyphonen Konzeption.

[40] Vgl. Schwindt 2013, 127 und 133.

[41] Ediert in Adler/Koller 1900, 269. Näheres zu diesem Lied und seinem Text bei Schwindt 1999, 58–62.

[42] Hübner 2013, 107.