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Liedersammlungen des 15. Jahrhunderts

Nicole Schwindt

Aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts haben sich drei Musikhandschriften erhalten, in denen das mehrstimmig komponierte Lied in größerer Quantität vertreten ist und dort das angesammelte Repertoire dominiert, maßgeblich bestimmt oder wenigstens stark durchsetzt. Nicht immer ganz angemessen wurden sie deshalb in der älteren Forschung als „Liederbuch“ betitelt: das „Lochamer-Liederbuch“ (ca. 1450–1460, » D-B Mus. ms. 40613), das Schedelsche Liederbuch (1459–1463, » D-Mbs Cgm 810) und das „Glogauer Liederbuch“ (Saganer Stimmbücher, ca. 1480, » PL-Kj Berol. Mus. ms. 40098.[5] Die ersten beiden sind eng mit ihren Nürnberger Besitzern verbunden, so dass in gewisser Weise von süddeutscher Provenienz gesprochen werden kann, zumal der humanistische Mediziner Hartmann Schedel immer wieder auch in Augsburg war. Als Jugendlicher erfasste er zwar vornehmlich solche Lieder, die allenthalben zirkulierten, bettete diese aber in einen umfassenderen Bestand auch franko-flämischer Chansons ein, soweit diese nördlich der Alpen greifbar waren. Die bemerkenswerte Zahl an Konkordanzen des Buxheimer Orgelbuchs mit dem Schedel-Manuskript und geringfügig auch mit dem Lochamer-Liederbuch rückt die Freie Reichsstadt Nürnberg als Ort der Liedpflege und der Lieddokumentation zu dieser Zeit erneut in den Blick.

Die Lieder aus dem umfangreichen dreiteiligen „Glogauer“ Stimmbuchsatz, der im niederschlesischen Augustiner-Chorherrenstift Sagan entstand und dem Entstehungsort gemäß einen starken Akzent auf geistliche Materien legt, greifen einige Sätze auf, die auch im süddeutschen Raum im Umlauf waren – woher sie originär stammen und in welcher Richtung sie sich verbreiteten, ist kaum zu sagen. Es handelt sich zumindest bei dem Pool mehrfach überlieferter Lieder um ein transregionales Phänomen. So wichtig und bemerkenswert diese drei relativ geschlossenen Kompilationen sind, vermitteln sie doch vermutlich keinen repräsentativen Eindruck vom Liedbewusstsein der Zeit.

[5] Zu allen drei Handschriften vgl. Strohm 1993, 492–503.