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Mein hertz in staten trewen und Ja freylich halt wie pald

Nicole Schwindt

Der Fall von Mein hertz in staten trewen ist besonders interessant, da dieses Lied fast gleichzeitig (wohl gegen Ende der 1450er Jahre) im sogenannten Schedel-Liederbuch und in » I-TRbc 90 eingetragen wurde. Die Gegenüberstellung (siehe » Notenbsp. Mein hertz in steten treuen) lässt erkennen, dass es wohl ein Einvernehmen über die Liedmelodie gab, deren Tonhöhen- und rhythmischer Verlauf in beiden Fassungen weitgehend übereinstimmt und als Hauptmelodie gelten kann.

 

Der Diskant als kontrapunktische Gegenstimme weicht im konkreten Fortgang an manchen Stellen ab, verwendet aber im Großen und Ganzen jeweils dieselbe Substanz. Different ist indes die ergänzende Stimme des Contratenors, die sicher für beide Realisationen neu erdacht wurde. Der Contratenor von I-TRbc 90 hat deutlich das Gepräge einer ursprünglich schriftlosen Hinzuerfindung: Zur Hauptmelodie, die der Sänger wohl im Ohr hatte, sind die Intervalle passend, zum Diskant aber ergeben sie beim zweiten und dritten Klang Dissonanzen, die man aber nicht als so störend empfand, dass man sie aufzuschreiben sich gehütet hätte. Es wäre leicht zu sagen, I-TRbc 90 repräsentiere die archaischere, das Schedelsche Liederbuch die geschliffenere Variante, zumal im weiteren Verlauf die Tridentiner Quelle altertümlichere Parallelkadenzen, die Nürnberger Quelle modernere Oktavsprungkadenzen verwendet. Dazu allerdings passt nicht, dass die Schedel-Version im älteren Brevis-Semibrevis-Metrum notiert ist, während die Tridentiner Quelle den aktuelleren Semibrevis-Minima-Duktus aufweist. Es gibt also keine eindimensionale modernisierende Entwicklung, sondern verschiedene Spielarten.[32]

Noch tiefgreifender waren die Eingriffe beim nur mit Textmarke überlieferten Lied Ja freylich halt wie pald. (» Notenbsp. Ja freylich halt wie pald)

Während die vor 1500 wohl in Trient zusammengestellte Handschrift » I-TRc Ms. 1947-4 einen kompletten dreistimmigen Satz dieses Liedes birgt, überliefert ein Stimmbuch der wohl im Bodenseeraum im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts angefertigten Handschrift D-W, Cod. Guelf. 292 nur noch den Contratenor. Diese Stimme aber ist nicht nur geringfügig kürzer, sondern harmoniert an den allerwenigsten Stellen mit den beiden weiteren Stimmen von I-TRc, 1947-4, obwohl sie im rhythmischen und motivischen Design sowie in der Zeilengliederung genau wie die andere Tiefstimme konzipiert ist. Die Identität des Lieds ist noch erkennbar, aber es muss eine gründliche Permutation erfahren haben. Exakt dieses Lied stellt das Rückgrat der früher Isaac zugeschriebenen Missa carminum dar, die – wenngleich wenig strukturiert und eher unmotiviert – noch etliche andere Lieder enthält, darunter das Innsbruck-Lied. Die Verortung der heute greifbaren Quellen der Messe im mitteldeutschen Raum[33] illustriert erneut die Kanäle, über die der Austausch zwischen dem Süden des Reichs und dem Umfeld Kurfürst Friedrichs des Weisen vonstattenging.

[32] Vollständige Transkription beider Lieder und weitere Bemerkungen in Strohm 1993, 496–499.

[33] Heidrich 2001.