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Historische Voraussetzungen

Nicole Schwindt

Das geopolitische Territorium, das in der zweiten Hälfte des 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts „deutsche Lieder“ hervorbrachte, war alles andere als ein gefestigtes Bevölkerungs- und Herrschaftsgebilde. Was das Ersinnen und Vermitteln von deutschsprachigen Liedern angeht, spielt freilich die deutsche Sprachgemeinschaft eine zentrale Rolle. So wenig einheitlich diese in linguistischer Hinsicht war und nicht nur eine große Bandbreite von süd- bzw. oberdeutschen Dialekten umfasste, sondern auch fließende Übergänge zum Niederländischen tolerierte, so sehr war sie doch von den romanischen und slawischen Sprachen des umliegenden Europa abgrenzbar. Durchreisende und migrierte flämische Komponisten hinterließen an der Nordseite der Alpen etliche Spuren von Liedern in ihrem Idiom, die bei der Niederschrift oft kurzerhand eingedeutscht wurden und dann wenigstens als Liedtitel noch sinnvoll wirkten.[1] Dagegen erscheinen französische, italienische oder tschechische Liedzeilen mehr oder weniger sinnentstellend verballhornt.[2] Konsequenterweise wurden sie oft gleich durch deutsche Textformeln ersetzt oder lateinisch kontrafaziert. Das führte zwar zu einigen problematischen Fällen, in denen Liedsätze ausländischer Komponisten nur mit deutschen Textangeboten erhalten sind (etwa Elend du hast umfangen mich des in burgundischen Diensten stehenden Robert Morton), doch lässt sich das Gros des Repertoires als „deutschsprachiges Lied“ identifizieren.

Instabile territoriale Machtverhältnisse, wechselnde politische Feindschaften und sprunghafte Bündnisse, variable Konjunkturen von Residenz-, Bildungs- und Handelsstädten, ungleiche ökonomische Bedingungen und mehrsprachige Zonen machten den Süden des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation zu einer Region, die sehr unterschiedliche Bedingungen für die Entfaltung von Musik bereithielt, zumal von nichtöffentlicher Musik, wie sie Lieder zumeist darstellen. Das muss nicht nur negativ gesehen werden, in dem Sinne dass es der Ausbildung einer starken Liedidee entgegengestanden hätte. Es begünstigte auch originelle Zugänge zum Liedermachen und rege Transferströme. Es macht aber auch verständlich, warum es offenbar ins kulturpolitische Programm Kaiser Maximilians I. passte, dass im Rahmen von dessen Reichsidee an der Wende zum 16. Jahrhundert nicht zuletzt dem deutschen Lied als Kunstform eine stabile Basis geboten werden sollte und auch wurde. Bis dahin sprossen Lieder – auch kunsthaft komponierte– an den verschiedensten Orten, in unterschiedlichen Milieus, in stilistischer Ähnlichkeit oder singulärer Gestalt hinsichtlich Musik und Text, in größerer oder kleinerer Zahl, wanderten mündlich oder schriftlich, in Gänze oder in Teilen, konsistent oder modifiziert – kurzum: sie standen einem Gebrauchsgut, das seinen Wert in der musikalischen Praxis hatte, viel näher als einer definierbaren (und somit der Ausdifferenzierung fähigen) Gattung.

[1] Beispielsweise So lanc so meer als So lang si mir (in I-TRbc 90, fol. 344v) oder Een vraulic wesen als Ein frölich wesenn (im Liederbuch des Johannes Heer, CH-SGs Ms. 462, fol. 28v–30r).

[2] Binchois’ Dueil angoisseux wird in I-TRbc 88, fol. 204v, zu De langwesus; von der Frottolazeile „Tente a l’ora, ruzinente, ch’io vo’ cantar“ bleibt im vom Augsburger Johann Wüst geschriebenen Manuskript CH-Bu F X 1–4 (fol. 97) noch „Dentelore“ übrig; ein Quodlibet der Saganer Stimmbücher (Nr. 118) zitiert die Lieder Rabaßkadol und Panny, pany, baby („Frau, Frau, alte Frau“).