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Inhalte der Liedtexte für Hof und Stadt

Nicole Schwindt

Die Lieder dieser Zeit erweisen sich sowohl hinsichtlich ihrer musikalischen Anlage als auch ihrer Texte als flexibel. Das machte sie für die breite Pflege in verschiedenen sozialen Räumen geeignet. Anders wäre es kaum denkbar, dass Kontrafakturen, die teilweise wie im Fall von Dich muter gotes rüff wir an Kap. Isaacs kanonische Verdopplung) eine radikale Sinnveränderung vollzogen, einen so hohen Stellenwert im (vor allem frühen) Liedbestand einnehmen. Anders wäre auch die soziokulturelle Migration der Gesänge schwer verständlich. Denn selbst Lieder mit erkennbar höfischer Thematik wurden in klösterlichen Lebensformen und in stadtbürgerlichem Milieu bereitwillig rezipiert und notfalls metaphorisch aufgefasst. So spiegeln die Texte der Liebeslieder mit Treueversicherung und Abschiedsklage das typische Lebensgefühl einer Hofgesellschaft, die ständig von Ort zu Ort unterwegs war und wo die Geschlechter sich immer nur episodisch trafen. Derartige lyrische Hofweisen treffen die bürgerliche Lebenswelt nicht immer wörtlich und passgenau, vermitteln aber eine allgemeine Atmosphäre. Ähnlich verhält es sich mit dem tradierten Minnetopos des Tagelieds, bei dem sich die Liebenden im Morgengrauen trennen – ein Erlebnis, das in der Stadt mit ihren strengen Kontrollen gar nicht möglich war. Geht es um spezifische Inhalte, etwa die auch – im eher politischen Sinn – verbreiteten Klagen über Missgunst bei Hofe, die mehr und spezifischer sein wollten als allgemeines Moralisieren über die Schlechtigkeit der Welt, dann überliefern die bürgerlichen Quellen oft genug gar keinen Text oder tauschen ihn aus. Senfls entschlossenes Poch trutzen grausam sehen ist jetzt der lauf (neuhochdeutsch etwa „Seine Ansprüche mit Gewalt durchsetzen, feindselig sein, drohend blicken, das ist jetzt Sitte“), mit dessen Worten sich ein Höfling gegen Ranküne wappnet, hat im höfischen Liedermanuskript » D-Mbs Mus. ms. 3155 seinen geziemenden Platz. Wenige Jahre später im Basler Stimmbuchsatz » CH-Bu F X 1–4 fehlt (wie so oft) der Text, aber als Textmarke fungiert wie ein Passepartout das vielsagende und gleichzeitig neutrale Motto der Basler Druckoffizin von Johann Bergmann von Olpe „Nichts ohn Ursach“. Anspielungsreich ist auch dieser Titelersatz, denn mit dem Druckersignet endet Sebastian Brants berühmtes Narrenschiff, das allerdings menschliche Laster ganz pauschal und nicht nur solche bei Hofe geißelt.

Der Bezug von Liedtexten zu höfischen Lebensformen ließ schon die Zeitgenossen gelegentlich von Liedern als „Hofweisen“ sprechen. Dieser Begriff wurde in der Forschungsliteratur des 20. Jahrhunderts herangezogen, um generell Lieder zu kategorisieren, die sich in Wortwahl, Gedankenführung und Metrik ambitioniert geben. Üblicherweise vertonten die Komponisten solche Texte, indem sie in den neu erfundenen Tenorstimmen und im Tonsatz den Duktus der Sprachgrundlage stärker berücksichtigten, als es in den im modernen Schrifttum dazu kontrastierend „Volkslied“ genannten Liedtypen der Fall ist.[39] (Vgl. » B. Volkslieder?)