Sie sind hier

Die Kantoreiordnung von 1460 und die Pflege der Mehrstimmigkeit

Reinhard Strohm

Die Wiener städtische Kantoreiordnung für St. Stephan vom 24. September 1460 (für Einzelheiten vgl. » H. Schule, Musik, Kantorei) [104] folgte der städtischen Schulordnung von 1446 in ähnlicher Weise nach wie in der Geschichte der Ämter selbst die Kantorenstelle (1267) der Schulmeisterstelle (1237). Man leitete von einem umfassenderen Schema ein detaillierteres ab. Solche Dienstordnungen sind vor allem auf ihre Position innerhalb zeitlicher Kontinuitäten zu befragen: Welche Neuerungen führen sie ein oder wehren sie ab, welche Traditionen bekräftigen oder bekämpfen sie?[105] Sicher war die Wiener Kantoreiordnung Teil einer überregionalen Tendenz der Kirchenverwaltungen, neueren Ansprüchen der Musikpflege regulativ zu begegnen und somit einschränkend oder nur vorsichtig ermutigend zu wirken. Die Kantoreiordnung widmet sich neben der Schuldisziplin und -organisation auch dem musikalischen Repertoire, das offenbar in Frage gestellt werden konnte. Die Ausbildung aller Schüler sollte in „cantus gregorianus“ und „conducten“ erfolgen. Der gregorianische Gesang war in der Kirche nach festen Verteilungsregeln auszuführen. Mit „conducten“ waren geistliche Lieder gemeint, die die armen Schüler zu Festzeiten gegen Geld vor den Häusern sangen. (» E. Bozen; » H. Children’s processions) Im Unterschied dazu sollten sanglich geeignete Schüler im „cantus figurativus“ (d. h. Mehrstimmigkeit) ausgebildet werden. Und mehrstimmiges Singen wurde von ihnen nun für die Hochfeste Weihnachten, Ostern und Pfingsten verlangt. Es ist deutlich, dass die Kantoreiordnung hier nicht eine voraussetzungslose Neuigkeit einführen, sondern einen bestehenden Zustand regulieren wollte: die Praxis mehrstimmigen Singens, die wohl schon seit Jahren (spätestens seit Edlerawer) ausgeübt wurde. Ihr Wildwuchs sollte nun eher eingedämmt werden, etwa indem nur noch die wirklich begabten Schüler dazu ausgebildet wurden. Die 1457 im Kantoreigebäude aufgestellte Tafel lässt sich als Lernmittel für mehrstimmigen Gesang und Mensuralnotation interpretieren, während die 1461 in der Schule aufgestellten zwei Lesepulte, mit denen der Subkantor unterrichtete, dem „einfachen“ gregorianischen Gesang (cantus planus) dienten, der ja auch in der Kirche von Chorpulten gesungen wurde.

Polyphones Repertoire gab es an der Bürgerschule schon um 1410–1420, doch war es damals fast ausschließlich ausländischer Herkunft und wurde von einer Elite gepflegt » K. Der Wiener Codex von ca. 1415. Edlerawers Wirken jedoch markiert eine Phase breiten Sammelns und eigenen Herstellens mehrstimmiger Musikstücke für die repräsentativen Aufgaben der Kantorei. Alle erhaltenen und zugeschriebenen Kompositionen Edlerawers sind in einer einzigen musikalischen Quelle, dem „St. Emmeram-Codex“ (» D-Mbs Clm 14274), überliefert; dieser wurde in Wien während seiner Amtszeit als Kantor zumindest begonnen (» E. Überlieferung der Wiener Kirchenmusik). So scheint es, dass der Kantor auf die Anfertigung dieser Sammlung Einfluss nahm und dass seine dort notierten Stücke seine musikalischen Kirchendienste an St. Stephan widerspiegeln. Mehr noch, sie definieren die musikalischen Fähigkeiten des von ihm ausgebildeten Schülerchors – vielleicht in der Weise, dass nicht alle Stücke für alle Chorschüler gedacht waren und dass es verschiedene Abstufungen und Gruppierungen der Fähigkeiten gab. Das wäre ein Prinzip, das für die allgemeinen Unterrichtsfächer auch die Schulordnung von 1446 verfolgte.

Die Kantoreiordnung verfestigte die Einteilung der Schülergruppen in „Allgemeinmusiker“ und Polyphonie-Spezialisten. Da „cantus figurativus“ seinen Namen von den rhythmisch fixierten (mensuralen) Notenformen, den figurae, bezog, wurde ihm z. B. jene nicht-mensural notierte klösterliche Mehrstimmigkeit (» A. Klösterliche Mehrstimmigkeit. Arten) die unter dem Namen „Discantus“ auch an St. Stephan bezeugt ist (vgl. Kap. Tropen und andere Randerscheinungen im ordo von St. Stephan), nicht zugerechnet. Nur die figurale, mensurale Mehrstimmigkeit stand also begrifflich und didaktisch für sich, nicht aber die anderen Arten von Mehrstimmigkeit, die vielleicht oft und informell geübt wurden, auch vom allgemeinen Chor. Diese Unterscheidung kann nun auf das Bücherinventar der Kantorei von 1476 übertragen werden. Denn der zufällig aus diesem Jahr erhaltene Einzelband der Kirchmeisterrechnungen von St. Stephan[106] zählt auf (fol. 184v–185r):
„die puecher, so der cantor hat in der cantorei:
In dem kar [Chor]: ain Gradual, ain Salve puech, ain Passional.
In dem haus: zwai Gradual, zwen antiphonarii, dreu grosse Cancional des Hermans, ain gross Cancional des Jacobem, sechs klaine Cancional, ain rats Cancional mit ettlichen sexstern [diese sechs Worte sind durchgestrichen], ain rats Cancional des Jacobem, ain alts Cancional mit ettlichen Sextern, klaine puechl mit proficein, das register des cantor.”

Die drei großen Kantionalien sind gewiss auf Hermann Edlerawer zu beziehen, das große und das rote „des Jacobem“ hingegen auf Jacob Gressing von Fladnitz, den vormaligen Rektor der Bürgerschule.[107] Die ihnen zugewiesenen, d. h. offenbar von ihnen persönlich betreuten Bücher sind ausnahmslos als „Cancional“ bezeichnet und so von den Choralhandschriften (Antiphonale, Graduale, Passionale usw.) unterschieden, die z. T. in der Kirche selbst (im Chor) aufbewahrt wurden. Im Jahre 1455 hatte der Trienter Organist Johannes Lupi, der selbst früher in Wien studiert hatte, seine sechs Bücher umfassenden „cantionalia vel figuratus cantus“ (Kantionalien, d.h. cantus figuratus) der Pfarrkirche in Bozen vermacht, wobei er die Namen „cancionale“ und „figuratus cantus“ in seinem Testament gleichsam synonym verwendete (» G. Johannes Lupi). Akzeptiert man diese Nomenklatur, so können insgesamt fünf große und sechs kleine Bände der Kantoreibibliothek von 1476 mensurale Mehrstimmigkeit enthalten haben – während das einzige weitere Stück, „ain alts Cancional mit ettlichen Sextern“, eben deshalb als „alt“ bezeichnet worden  sein dürfte, weil sein Inhalt nicht mensural war. Es ist ferner zu vermuten, dass das Sammeln und Neukomponieren mensuraler Kirchenmusik nach Edlerawers Weggang nicht aufgehört hatte und dass andere Kantoren und Subkantoren kreativ daran beteiligt waren. Zur Frage der erhaltenen musikalischen Quellen vgl. » E. Überlieferung der Wiener Kirchenmusik.

[104] Wortlaut mitgeteilt u. a. bei Mantuani 1907, 285–287; vgl. auch Gruber 1995, 199; Flotzinger 2014, 58 f.

[105] Vgl. Strohm 2014.

[106] Uhlirz 1902, 477.

[107] Strohm 1984Strohm 2014.