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Personelle Voraussetzungen der Kirchenmusik

Reinhard Strohm

In Wiener Kirchen und Klöstern[1] war die musikalische Ausgestaltung der Gottesdienste schon im 14. Jahrhundert beliebt und entwickelte sich stürmisch weiter. Entscheidend hierfür waren die Rollen des Kantors, des Organisten und des Schulmeisters. An St. Stephan ist ein Kantor schon 1267 erwähnt, also ein Jahrhundert vor der Erhebung zur Kollegiatkirche im Jahre 1365.[2] Die erste Erwähnung des Orgelspiels am 15. Juni 1334 (zum Fronleichnamsfest, aufgrund einer Stiftung des Pfarrers Heinrich von Luzern) erscheint gegenüber dem vermutlich ersten Gebrauch der Orgel sehr verspätet:[3] „cantantibus in organis et famulis folles calcantibus xxxvi denarios“ (den Orgelspielern und ihren Dienern, die die Blasbälge ziehen, 36 Pfennig).[4] Zwischen 1370 und ca. 1391 gab es an St. Stephan einen Organisten des Namens Meister Peter.[5]

In den ältesten erhaltenen Kirchenrechnungen der Pfarrkirche St. Michael von 1433 ist ebenfalls ein (nicht namentlich genannter) Organist erwähnt. Zu dieser Zeit gab es an St. Michael bereits zwei Orgeln, eine große und eine kleine, die vom Lettner aus zugänglich war.[6] Eine der Orgeln wurde 1437 “gebessert“ und erhielt 1444 ein Gitter. 1450 wurde Meister Andre, Orgelmeister zu Stein, mit 24 tl. für das Stimmen und eine Reparatur der großen Orgel entlohnt; die gesamten Reparaturkosten in diesem Jahr beliefen sich auf über 66 lb (Kirchmeisterraittung 1450, S. 19). Weitere Reparaturen sind für 1460, 1472, 1480 und 1498 bezeugt; 1474 führte der Maler Hans Kaschauer Malereien an der Orgel aus.[7] Die Funktion des Kantors war an St. Michael 1433 noch mit derjenigen des Schulmeisters in einer Person vereinigt.[8] Es hing in der Tat von den örtlichen Verhältnissen ab, ob Kantor und Schulmeister überhaupt besoldet werden konnten bzw. ob es hierfür eine oder zwei verschiedene Positionen gab. Die Ausschmückung des Gottesdienstes mit Gesang – zusätzlich zum Choralvortrag durch die Priester – war nämlich vor allem die Aufgabe von Schülern, die unter der Leitung ihres Lehrers sangen (» H. Schule, Musik, Kantorei). War eine Schule groß genug, so konnte man Lateinunterricht und Gesangsunterricht auf zwei Instruktoren verteilen – eventuell mit spezialisierter Gesangsausbildung für entsprechend begabte Schüler.

Wien hatte im späten Mittelalter vier Lateinschulen, die vom Stadtrat verwaltet wurden: an St. Stephan (die „Bürgerschule“, die den anderen drei übergeordnet war), am Schottenkloster, an St. Michael (seit 1352 nachweisbar) und am Bürgerspital (seit 1384).[9] Dass am Schottenkloster auch weltliche Schüler (scolares saeculares) ausgebildet wurden, geht aus einer Reformverordnung von 1431 hervor, die ihnen die Teilnahme am Chorgebet verbot und ihre Ausbildung außerhalb des Klosters anordnete.[10] Das Entgegengesetzte dürfte also vorher praktiziert worden sein. Bereits am 5. Februar 1310 war die Mitwirkung von Klosterschülern an der Vigil (Matutin) einer Jahrtagsstiftung vorgeschrieben, worauf deren Ausbildung Rücksicht zu nehmen hatte. Die Mitwirkung von Schülern an der Vigil wurde 1330 bestätigt.[11] In der Amtszeit des letzten Schottenabtes, Thomas (1403–1418), soll eine „Musikschule mit einem eigenen Chormeister“ errichtet worden sein; für 1413 ist ein „Sanggeselle“ aus Pulkau erwähnt.[12] 1418 wurde der neue Abt, Nicolaus von Respitz, von den Visitatoren feierlich eingeführt, unter Beteiligung des Schulrektors, des „succentor“ oder „Junkmaister“ (siehe auch » E. Bozen), also Helfer des Schulkantors, der andernorts auch „subcantor“ oder „Junger“ genannt wurde (vgl. Kap. Hermann Edlerawer und der Kantoreibau) und der Schüler.[13] Belege für die Mitgestaltung von Gottesdiensten durch Schüler – meistens aus frommen Stiftungen finanziert – liegen ferner auch für die private „Otto und Haimsche“ Rathauskapelle vor. Nachdem diese unter Kaplan Jacob (der) Poll 1360–1361 umgebaut worden war, verpflichteten Stiftungen der Jahre 1367–1373 vier arme Schüler, die Priester werden wollten, zum Singen in der Kapelle.[14] An der Peterskapelle gab es 1412 und 1420 Stipendien für vier arme Schüler, die beim Gesang mithelfen sollten.[15] Der Kaplan sollte die tägliche Messe lesen, jedoch außerdem „vier Schüler haben, die zu singen helffen waz zu singen not ist in derselben sand Peters capelln“.[16] Offenbar standen für diese Messen keine anderen Priester zur Verfügung, die den Gesangschor bilden konnten. Die Schüler mussten außerdem bei den Vigilien den Psalter lesen; jeder sollte jährlich 1 tl. erhalten – ein beträchtliches Einkommen.[17] Auch an der privaten Philipp- und Jakobskapelle im Kölnerhof (Klosterneuburgerhof) sollten einer Stiftung von 1395 zufolge vier Schüler in der Osterwoche den Psalter lesen.

Der erste urkundliche Beleg für den Schulmeister der Stephansschule stammt von 1237, also 30 Jahre vor der ersten Erwähnung des Kantors, dessen Stelle offenbar von der Schulmeisterfunktion abgezweigt wurde.[18] Seit der Gründung des Kollegiatstifts zu St. Stephan durch Herzog Rudolf IV. (bestätigt 1365) war der Stephanskantor (der „Sangherr“) ein leitendes Mitglied des Kapitels (canonicus). Davon zu unterscheiden ist die Funktion des Kantors der Bürgerschule, der dem Schulmeister unterstellt war und vom Stadtrat sowie aus Stiftungen entlohnt wurde (vgl. Kap. Entwicklung der Kantorei von St. Stephan).[19]

[1] Perger/Brauneis 1977Schusser 1986, 17–41.

[2] Zschokke 1895, 2.

[3] Mantuani 1907, 209–210. Flotzinger 1995, 89–90. Allgemein zu Orgeln vgl. » C. Orgeln und Orgelmusik.

[4] Mantuani 1907, 209–210, vermutet unter der Bezeichnung „Organist“ einen Orgelbauer, der jedoch „Orgelmaister“ genannt wurde (z.B. „Petrein dem argelmaister 15 tl“ in den Stadtrechnungen von 1380, >> A-Wn Cod. 14234, fol. 39r). Diese Benennung ist als Eindeutschung des Terminus magister organorum zu verstehen.

[5] Irrig schon für 1334 angenommen bei Flotzinger 1995, 90. Zum Schulkantor Peter Hofmaister vgl. Kap. Entwicklung der Kantorei von St. Stephan.

[6] Diese und die folgenden Angaben zu Orgeln an St. Michael nach Perger 1988, 91, und Kirchmeisterraittungen Kollegsarchiv St. Michael.

[7] Zu Hans Kaschauer und seinem Vater Jakob Kaschauer, der zwischen 1445 und 1448 die große Tafel des Hauptaltars malte, vgl. Perger 1988, 84.

[8] Schütz 1980, 14.

[9] Mayer 1880Schusser 1986, 66, Nr. 31/1 (Richard Perger). Die Universität bestätigte diese Ordnung am 14. April 1411: vgl. Uiblein, Acta Facultatis 13851416, 355.

[10] Rapf 1974, 93.

[11] Mantuani 1907, 289, Anm. 1, nach Hauswirth 1879, 15; Czernin 2011, 59.

[12] Mantuani 1907, 289 f., Anm. 1, nach Hauswirth 1879, 25.

[13] Mantuani 1907, 289, Anm. 1, nach Hauswirth 1879, 29.

[14] Vgl. Lind 1860, 11; Mantuani 1907, 289 f., Anm. 1; Perger/Brauneis 1977, 275.

[15] Mantuani 1907, 289, Anm. 1.

[16] Mayer 1895–1937, Abt. II/Bd. 2, Nr. 1935.

[17] Wiener Stadt- und Landesarchiv, Urkunde 1935, 1412 XI 21; vgl. auch Schusser 1986, 139, Nr. 115.

[18] Boyer 2008, 25.

[19] Einen Versuch der Unterscheidung zwischen Kapitelkantor/Sangherr und Schulkantor/Subkantor unternimmt Mantuani 1907, 287 f.