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Kirchenchoral und „Musik“

Reinhard Strohm

Musik und Gottesdienst standen im Mittelalter in anderer Beziehung zueinander als heute. Obwohl der lateinische Kirchenchoral, wenn er im kirchlichen Ritus gesungen wurde, eine erkennbare musikalische Komponente aufwies, war diese doch dem Vortrag der Worte deutlich untergeordnet. Heute verstehen wir unter „Musik im Gottesdienst“ gewöhnlich eine autonome Betätigung, wie z. B. das Aufführen komponierter, oft auch instrumentaler Werke, oder das einstudierte Singen des Kirchenchors. Ähnliche „hinzuaddierte“ Musik gab es auch im Spätmittelalter – doch mit dem Unterschied, dass sie meist auf den traditionellen Choral bezogen war und von diesem her legitimiert wurde. Im Folgenden sei besonders von denjenigen Darbietungen die Rede, die sich vom Kirchenchoral durch auffallendere oder intensivere Musikalität abhoben, und von einigen musikalischen Aspekten des Choralvortrages selbst. Die Terminologie der untersuchten Dokumente verschleiert allerdings den Unterschied zwischen Kirchenchoral und „Musik“. Mit einer „gesungenen Messe“ („Ambt“) war gewöhnlich nicht die musikalische Gattung des komponierten Messordinariumszyklus gemeint, sondern der Gottesdienst als Ganzer, ob er nun mehrstimmige Gesänge enthielt oder nicht; auch nannte man eine polyphone Vertonung des Salve regina nicht etwa „Motette“, sondern eben (ein) Salve regina.

Unter „Gottesdienst“ sind nicht nur die grundlegenden Teile des Opus Dei, nämlich Messe und Stundengebet, zu verstehen, sondern auch andere Aktionen wie kirchliche Prozessionen, Weihen und Segnungen, Gottesdienste zu Hochzeiten, Taufen und Begräbnissen. Gottesdienstliche Tätigkeit bedurfte der Autorisierung durch die Kirchenbehörden (dazu gehörte die Genehmigung von Ablässen, Festtagen, neuen Devotionen), der Bestallung von Priestern, der Herrichtung von Altären, Reliquien („Heiltümern“), Messgerät und Gewändern, des Glockenläutens, der Anstellung von Altardienern (Leviten) und Mesnern. Dazu kamen Organisten, Kantoren und Chorschüler, wenn eine musikalisch anspruchsvollere Gestaltung beabsichtigt war. Während die Gehälter der Priester fast immer durch kirchliche Pfründen sichergestellt wurden, die aus frommen Stiftungen stammten, musste die Kirche andere Beteiligte meist aus dem laufenden Einkommen bezahlen, das freilich ebenfalls weitgehend auf Stiftungen und Schenkungen beruhte. Die Rechnungen der Wiener Kirchmeister (bürgerlichen Verwalter) etwa von St. Stephan oder St. Michael weisen solche Ausgaben nach, wobei auch hohe Beträge für Weiheöl, Messwein („Opferwein“) und vor allem Kerzen („Steckkerzen“) ins Auge fallen.