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Prozessionen von St. Stephan

Reinhard Strohm

Die Bittprozessionen (oder Rogationsprozessionen) der 5. Woche nach Ostern schlossen die Osterfestzeit und das zweite Quatember (Viertel) des Kirchenjahres ab. Der Stephansklerus ging am Montag, Dienstag und Mittwoch dieser Woche mit Priestern und Diakonen, die Reliquien, Fahnen und Kreuze trugen, auf Bittprozessionen, die in » A-Wn Cod. 4712, fol. 54r–55r, beschrieben sind.[66] Jedes Mal wurden zuerst die Antiphon Exsurge und der Psalmvers Salvum me fac gesungen, danach sprach der Zelebrant das Gebet In eternum familie tue intercedente beato stephano, gefolgt von der Antiphon Surgite sancti. Dabei ging die Prozession aus der Kirche hinaus, doch bei Regen („si tempus fit pluviosum“) nur durch die Schülerzeche (Schulhaus) und über den Friedhof („claustrum“) in die Krypta („per czecham per claustrum in criptam“); es folgten zwei weitere Antiphonen, auf die das Laienvolk seine Rufe beisteuern sollte („et layci habeant vociferaciones suas“). Bei gutem Wetter hingegen („si tempus serenum fuerit“) ging man in die „untere Stadt“ nach St. Maria, dem Schottenkloster. Beim Erreichen der Pfarrkirche St. Michael war das Reponsorium Te sanctum dominum zu singen, dann beim Eintritt in das Schottenkloster das Responsorium Salve nobilis virga. Hier feierte man die für den Tag vorgeschriebene Messe, unmittelbar gefolgt von der Litanei („nota officium letanie“, fol. 54v). Gleich nach dem Benedicamus domino der Messe begann der Praecentor die Litanei mit Aufer a nobis iniquitatem, gefolgt vom Kyrie eleison des Laienvolkes („layci subiungant kyrieleison“); der Klerus sang Miserere, miserere, wieder beantwortet von den Laien mit Kyrieleison. Der Chor setzte ein mit Sancta Maria ora pro nobis ad dominum, wiederum von den Laien mit Kyrieleison beantwortet, und so fort. Der Inhalt der Litanei musste der Länge des Weges angepasst werden, der von hier aus zurückführte, nachdem noch einmal bei den Schotten Station gemacht worden war. Entsprechend einer Randbemerkung (fol. 55r) nahm man am Dienstag den Hinweg über St. Michael und das Kloster St. Magdalena vor dem Schottentor, den Rückweg aber über das Karmeliterkloster (Am Hof) und St. Peter.

Eine besondere Rolle spielte St. Michael in der umfassenderen Prozession des Palmsonntags (fol. 38v–40v). Beim Vorübergehen an St. Michael („pretereuntes ecclesiam sancti michahel“) sang man zunächst das Responsorium Te sanctum dominum, beim Eintritt in die Kirche das Responsorium Salve nobilis, beantwortet vom „Chor der Frauen“ („Chorus dominarum“) mit dem Vers Odor tuus. Die Sängerinnen waren sicher die teilnehmenden Klosterfrauen. Ein zweites Responsorium, Ingressus pylatus, wurde wieder von den Frauen mit dem Vers Tunc ait illis beantwortet, der Chor der Mönche („chorus dominorum“) wiederholte das Responsorium. In dieser respondierenden Art zwischen Frauen und Männern ging es weiter während der gesamten Prozession, der Weihe der Palmzweige und der Messe im Schottenkloster, sowie auf dem Rückweg von dort über den Bischofshof („curia episcopi“, Maria am Gestade), wo eine Station mit respondierenden Frauen- und Männerchören gemacht wurde. Dann sollten zwei Knaben in Chorröcken die Palmzweige streuen und ein verschleiertes Kreuz tragen, das noch während der Prozession, zum Singen der Antiphon Pueri hebreorum und anderer passender Gesänge, enthüllt wurde. Fast könnte der Leser des ordo übersehen, dass vor der Ankunft bei Maria am Gestade auch wieder das Laienvolk eine „vociferatio“ einfügen durfte (fol. 39r), die vielleicht dem Palmsonntagshymnus Gloria, laus et honor entsprach.

[66] Die Prozessionsbeschreibungen im ursprünglichen Corpus von » A-Wn Cod. 4712, einem Liber ordinarius der Diözese Passau, replizieren wörtlich die Bestimmungen für Passau selbst (freundliche Mitteilung von Robert Klugseder), sind jedoch wegen der gleichartigen kirchlichen Topographie beider Städte auch auf Wien anwendbar. Hinzugefügte Randbemerkungen verdeutlichen die Wegbeschreibungen mit direktem Bezug auf Wien: Klugseder 2013 widmet den auf Wien bezogenen Randbemerkungen von Cod. 4712 ein eigenes Kapitel. (Vgl. auch die digitale Edition des Passauer Liber ordinariushttp://gams.uni-graz.at/o:cantus.passau). Die Fronleichnamsprozession ist in Cod. 4712  nur durch eine kurze Randbemerkung auf fol. 67v vertreten. Im Anhang (fol. 109r) steht hingegen die Teilnehmerliste, die in » E. SL Fronleichnamsprozession ediert ist.