Sie sind hier

Musikalische Stiftungen bis ca. 1420

Reinhard Strohm

Die Ausgestaltung und musikalische Entwicklung der Gottesdienste an Wiener Kirchen erschließt sich aus dreierlei Dokumentengruppen: Stiftbriefen, Verwaltungsakten (z. B. Rechnungen) und Dienstordnungen (libri ordinarii). Die zeitliche Orientierung dieser Quellentypen ist sehr verschieden: Während Stiftbriefe die Zukunft auf ewige Zeiten bestimmen wollen, reflektieren Verwaltungsakten eher die von Jahr zu Jahr wechselnden Verhältnisse; Dienstordnungen versuchen festzuschreiben, was bereits geltenden Rang beansprucht und weiter gelten soll. [44]

Der Wortlaut von Stiftungsurkunden beruht gewöhnlich auf Traditionen, die weit in die Zeit vor 1363 zurückgehen. Tägliche und wöchentliche Messen, auch wenn sie gesungen wurden, enthielten selten besondere musikalische Einlagen. Die konventionellste Art einer gottesdienstlichen Stiftung war der „Jahrtag“ (anniversarium), ein jährliches Totengedenken. Er umfasste eine Vigil (Matutin) in der Nacht zuvor, ein Seelamt (Requiem) am Morgen und danach ein Hochamt am Todestag des Stifters. In seinem Stiftbrief vom 28.10.1339 versprach Jans der Sture, Kaplan des Fronleichnamsaltars zu St. Stephan, für die Feier seines Jahrtags dem Pfarrer 60 d., acht „Chorherren“ [45] zusammen 1 tl. (240 d.), jedem der vier Vikare 24 d., dem Schulmeister, dem Mesner und dem Küster je 24 d., dem Kantor 12 d., jedem der vier Chorschüler 12 d., sowie 60 d. zum Glockenläuten und ½ tl. (120 d.) für Kerzenwachs. Außerdem sollten 24 Priester nachts bei der Vigil anwesend sein sowie am Morgen das Requiem sprechen, wofür sie je 20 d. bekamen.[46] (» Abb. Chorstiftung 1339)

 

 

Der von Kantor und Schülern gesungene Teil eines solchen Gottesdienstes wird in den Quellen zwar nie genau identifiziert, doch waren es wie andernorts wahrscheinlich vor allem Psalmverse, Responsoriumsverse und bestimmte Antiphonen (im Stundengebet) sowie Alleluiaverse und Sequenzen (in der Messe). Die Schüler konnten zusammen mit den Priestern sicher auch chorische Abschnitte singen.

Nach 1363/1365 gab es an St. Stephan zwei Kantoren, den traditionellen der Pfarrschule und den neuen des Kapitels (vgl. Kap. Personelle Voraussetzungen der Kirchenmusik). Sie werden z. B. in einer Jahrtagsstiftung vom 27. September 1378 separat genannt.[47] Hier bestätigen die Chorherren von St. Stephan, einschließlich ihres Kantors Bartholomaeus, die Jahrtagsstiftung des Bürgers Lienhard der Poll (als Zeuge erscheint Jacob der Poll, Kaplan der Rathauskapelle). Außer den fünf Kaplänen, die das Stundengebet singen und jeweils 35 d. erhalten, bekommen vier „Chorschüler“ je 18 d., der Schulmeister 32 d., der Kantor 24 d., der Accusator (Schulgehilfe oder Pedell) 14 d., der Küster 16 d., die Knechte, die den Altar herrichten, 16 d. und die Mesnerknechte, die die Glocken läuten, für ihren Wein 6 [kleine] Schilling (= 72 d.). Der Kantor, der nach dem Schulmeister genannt ist und geringer entlohnt wird, ist der Schulkantor; der Kapitelkantor Bartholomaeus ist Mitautor der Urkunde.

In der testamentarischen Stiftung des Medizinprofessors Niclas von Herbestorff (25. Mai 1420) für eine wöchentliche Messe zum hl. Kreuz wurde unter Kapitelkantor Ulreich Musterer festgelegt, dass der Introitus Nos autem gloriari und die Sequenz Laudes crucis attollamus „mit der not“ zu singen seien, d. h. anhand der Notation des Graduale. [48] Die genannten Gesänge gehörten zu den Festtagen des hl. Kreuzes (3. Mai und 14. September). Das Singen der (vollständigen) Sequenz war offenbar eine besondere Aufgabe, auch wenn von Mehrstimmigkeit hier nicht die Rede ist.

Stiftungsurkunden verlangen oft die Mitwirkung der Orgel, wie auch die rudolfinische Stiftung. Am 19. August 1402 verspricht z. B. Dorothe, Witwe des Jörg Pallnhaymer, dem „Orgelmaister“ (hier: Organisten) für die Messe 24 d., dem Kantor ebenfalls 24 d. und den vier Chorschülern je 12 d. [49]

In einer umfangreichen Stiftung der Brüder Rudolf und Ludweig von Tyrna für die von ihrer Familie begründete Tirna- oder Morandus-Kapelle (28. März 1403)[50] werden keine Schüler oder Kantoren verlangt, nur die Orgel. Ein Hauptpunkt der Stiftung ist jedoch die Einrichtung eines sonntäglichen Salve regina in der Fastenzeit. Die hochbeliebte Marienantiphon hatte keinen ganz festen Platz in den rituellen Traditionen; hier ist wohl eine „Zugabe“ am Ende der Marienvesper oder der Komplet gemeint, ähnlich wie schon in den Stiftbriefen Rudolfs IV. Isolierte Stiftungen des Salve regina, wie z. B. diejenige des nachmaligen Wiener Bürgers Heinrich Franck in Bozen (» E. Kap. Das Salve regina des Rats), 1400, wurden im Lauf der Jahre zu Gelegenheiten für polyphones Singen.

[44] Vgl. Strohm, Ritual, 2014 zum Zeitbewusstsein kirchlicher Bestimmungen.

[45] Unter „Chorherren“ sind hier die „Achter“ (octonarii), die mit Seelsorge betrauten Priester des Priesterkollegiums, zu verstehen.

[46] A-Wda, Urkunde 13391028; siehe . Währung: 1 Pfund (tl.) = 8 große („lange“) Schillinge (s.) = 240 Pfennige (d., denarii).

[47] Camesina 1874, 11, Nr. 36. Die Unterscheidung Kapitelkantor – Schulkantor ist bei Göhler 1932/2015, 228 f., überzeugend nachgewiesen.

[48] A-Wda, Urkunde 14200525; siehe http://monasterium.net/mom/AT-DAW/Urkunden/14200525/charter [02.06.2016].

[49] Camesina 1874, 21, Nr. 94.

[50] Camesina 1874, 21–23, Nr. 96