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Reformierende Dienstordnungen an St. Stephan

Reinhard Strohm

Eine neue, lateinische Ordnung der Dienste an St. Stephan (20. März 1436) wurde von den Visitatoren verfasst, die im Zuge der Melker Klosterreform (» A. Melker Reform) auch die Kapitelkirche untersuchten.[33] Die Aufgaben der Pröbste, Dechanten, Küster und Kantoren sind hier eindeutiger beschrieben als in den unsystematischer formulierten, deutschsprachigen Stiftbriefen Herzog Rudolfs. Für die musikalischen Dienste wurden Vorschriften des Basler Konzils übernommen (» F. Konzilien), darunter das anderweitig bekannte Verbot, den Vortrag des Credo in unum Deum abzukürzen (was in mehrstimmigen Kompositionen oft der Fall war). Hinsichtlich St. Stephan verboten die Visitatoren während der Messen im Mittelchor das Singen von Messen oder Vigilien in den beiden Seitenchören („ne tempore publici officii in choro Missae cum nota, aut vigiliae in lateribus chori decantentur“); letztere durften nur an anderen Orten, die weit genug entfernt seien, und nur mit „submissa voce“ (zurückgehaltener Stimme) gesungen werden.[34] Die Hymnen und Psalmen des Stundengebets sollten mit Pausen in der Mitte der Verse und mit tiefer, nicht zu lauter Stimme vorgetragen werden.[35] Dies könnte als Gegensatz zu der „hellen und lauten“ Stimme der rudolfinischen Verordnungen aufgefasst werden – wo freilich von Antiphonen die Rede ist. Die Begriffe „submissa voce“ und „bassa voce“ (mit tiefer Stimme) erscheinen auch in einer Kapitelverordnung von 1478, die die Gottesdienste in der Fastenzeit betrifft: Dieser zufolge waren Prim und Terz  einschließlich der Antiphon bis zur Elevation in der Marienmesse „submissa voce“ zu singen, ein vor der Terz eingeschobenes Requiem jedoch „bassa voce“.[36]

[33] Zschokke 1895, 84–91.

[34] Raimundus Duellius, Miscellanea, Augsburg/Graz 1724, Bd. II, 78 und 82.

[35] „Ne quis eciam nimium voces agitare aut in altum audeat elevare habeatque et cantum Bassum et nimis clamorosum ad medium reducere“. (Zschokke 1985, 89 f.) Vgl. auch Rumbold/Wright 2009, 44.

[36] Erzbischöfliches Diözesanarchiv Wien (A-Wda), Acta Capituli 14461551, Cod. II, fol. 107r.