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Lokal beschränkte Heiligenverehrung

David Merlin

Es werden in diesem Kapitel drei Fallstudien zum Thema „sehr lokal beschränkte Heilige“ präsentiert. Diesbezüglich sind wir in der Lage, behaupten zu können, dass – zumindest in einer einzigen Kirche – Eigenformulare in Verwendung waren.

1155 stiftete Heinrich II. Jasomirgott in Wien die Benediktinerabtei „Unserer Lieben Frau zu den Schotten“, besser unter dem Namen „Schottenstift“ bekannt. Das Stift wurde mit Mönchen aus dem St. Jakobskloster in Regensburg besiedelt, und bis zum Jahr 1418 lebten dort Benediktinermönche irischer (nicht schottischer) Herkunft.[37] Zeugen des Musiklebens im Schottenstift während dieser frühen Phase sind zirka 60 Fragmente von liturgisch-musikalischen Handschriften.[38] Die „irischen“ Fragmente des Schottenstiftes gelten als die ältesten musikalischen Denkmäler der Stadt Wien; sie sind auch für die Erforschung der irischen Tradition von einstimmigen liturgischen Gesängen des Mittelalters von höchster Bedeutung.

Ein Fragment des Archivs des Schottenstiftes aus dem späten 12. Jahrhundert belegt die besondere Verehrung des hl. Kilian (und Gefährten; Fest am 8.7.) seitens dieser Mönchsgemeinschaft.[39] Das damals dort dafür gesungene liturgische Formular kommt nicht aus dem Regensburger Mutterkloster, sondern stammt ursprünglich aus Würzburg, wo der irische Bischof Kilian gemartert wurde. Obwohl Kilians Fest im liturgischen Kalender aller Diözesen der Salzburger Provinz eingetragen ist,[40] kann man behaupten, dass eine komplette Matutin aus dem Eigenoffizium nur dort gesungen wurde, wo dem hl. Kilian eine besondere Verehrung zugewiesen wurde – wie eben im Schottenstift, oder im Kloster Lambach, dessen Schutzpatron Kilian ist.[41] Im Schottenstift wurde auch für ein anderes Fest ein besonderes Eigenoffizium gesungen, das sonst im österreichischen Raum durchaus nicht üblich ist. Es handelt sich um das Fest des hl. Patrik (17.3.), Vater der irländischen Kirche, das in der Salzburger Provinz nur im Salzburger Kalender Eingang fand.[42] Ebenfalls ist dies im Schottenstift durch ein Fragment aus dem späten 12. Jahrhundert belegt.[43] Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass, von wenigen Einzelfällen abgesehen, diese Tradition bis zum Jahr 1418 in Wien ausschließlich im Schottenstift beibehalten wurde.

Der hl. Agapitus ist in den liturgischen Kalendern aller Diözesen der Kirchenprovinz Salzburg eingetragen[44], insbesondere ist er Schutzpatron des Stiftes Kremsmünster. Zu seiner Verehrung wurden dort drei Zyklen von Gesängen verwendet: für das Fest am 18.8., während der Oktav und für den Oktavtag.[45] Diese Formulare bestehen überwiegend aus Stücken, die dem Commune oder aus Formularen anderer Heiliger entnommen wurden (Vincentius, Martinus). Zu Ehren des hl. Agapitus sind im ältesten Brevier von Kremsmünster (» A-LIb Hs. 290, fol. 341v–342v)[46] drei Antiphonen vorhanden,[47] wofür „keine mögliche Vorlage-Antiphon festgestellt werden“[48] kann. Es liegt nahe, dass sie neue Kremsmünsterer Schöpfungen sind. Was hier für uns von Interesse ist, ist die Tatsache, dass die Kirchengänger, die sich zur Vesper, oder zum Morgengebet, oder zur Non in der Stiftskirche befanden, drei unica  (Unikate) hören konnten. Die Agapitus-Magnificatantiphon[49] wurde nachweislich bis Ende des 15. Jahrhunderts noch verwendet – die Kremsmünsterer haben zur Vesper ihres Patrons noch an der Schwelle zur Neuzeit ein Unikat miterlebt.

Für die liturgische Feier zu Ehren der hl. Hemma von Gurk wurden das Reimoffizium Collaudemus in amore[50] samt den Hymnen Consurgat laeta concio für die Vesper und Omnis decora pectore für die Laudes,[51] sowie ein gereimter Allelujavers und die Sequenz O Ierusalem superna verfasst.[52] Sie waren im Bistum Gurk, oder vielleicht gar nur im Gurker Dom, in Verwendung.[53] In seiner Untersuchung aus dem Jahr 1988 konnte Franz Karl Praßl aber keine Melodien ausfindig machen.[54]

[37] Zur Geschichte des Schottenstiftes siehe Rapf 1974, zur Zeit von 1155 bis 1418 siehe S. 9–28. Zu musikhistorischen Aspekten siehe auch Niederkorn-Bruck/Pass 1986.

[38] Vgl. Czernin 2007, 148; Czernin 2000Pass 1986, 48–53 (Katalognummer 11 und 12).

[39] A-Ws Fragment 107. Dazu siehe Czernin 2007, 151 f.; Czernin 2000, 221 f.; Pass 1986, 53 (Katalognummer 12/26).

[40] Karnowka 1983, 35.

[41] In der Lambacher Stiftsbibliothek wird „das Antiphonar Cod. 199 mit einem Sonderoffizium für den Klosterpatron Kilian“ aufbewahrt (Flotzinger/Klugseder 2004).

[42] Karnowka 1983, 46.

[43] Czernin 2000, 221; Pass 1986, 53 (Katalognummer 12/25).

[44] Karnowka 1983, 37.

[45] Zu den Formularen für den hl. Agapitus in Kremsmünster siehe Czernin 2006, 166–179.

[46] Die Blätter 9r–398v wurden zwischen 1165 und ca. 1180 geschrieben, vgl. Czernin 2006, 19–26.

[47] Es handelt sich um Beatissimi martyris Christi AgapitiO Christi martyr sancte AgapiteSancte Agapite martyr egregie.

[48] Czernin 2006, 172.

[49] Czernin 2006, 171.

[50] Edition des Textes: AH 5, Nr. 67.

[51] Edition des Textes: AH 4, Nr. 276 und AH 4, Nr. 277.

[52] Edition des Textes: AH 9, Nr. 227.

[53] Zum Hemma-Formular siehe Praßl 1988. Zur politischen Ausnutzung ihrer Figur siehe Lammer 2000, 62–77.

[54] Man kann davon ausgehen, dass für das Alleluja und die Sequenz nie Melodien komponiert wurden. Laut Praßl sind sie „wohl nie als Gesänge im eigentlichen Sinn geschaffen worden, sondern eher als Leselieder mit einem poetisch-musikalischen Duktus, zu dem keine der gängigen Typusmelodien anwendbar ist […]“ (Praßl 1988, 96).