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Das Wiener Heiligtum

David Merlin

Im Jahr 1483 wurde ein Heiltumstuhl in der direkten Nähe des Wiener Stephansdoms erbaut.[77] Dort fand jährlich ein besonderer Kultusakt statt. Es wurden die Reliquien zur Verehrung vorgezeigt, die im Stephansdom aufbewahrt wurden: das Wiener Heiligtum. Dies wird u. a. durch ein Büchlein dokumentiert, das Johannes Winterburger 1502 in Wien druckte: das Wiener Heiltumbuch. 1514 wurde eine zweite, leicht erweiterte Auflage davon herausgegeben.

 

 

Diese besonders künstlerisch gestaltete Veröffentlichung enthält eine „Vorred“ mit einem Verzeichnis der Ablässe und eine „Geschlusrede“, wo „als Herausgeber […] der Wiener Bürger und Ratsherr Matthäus Heuperger genannt“[78] wird. Das gesamte Buch ist in deutscher Sprache. Die letzten Seiten enthalten einen Kalender, in dem für jeden einzelnen Tag des Jahres ein Heiligenfest verzeichnet ist, samt der (manchmal beträchtlichen) Anzahl an Ablasstagen. Obwohl es sich hier nicht um einen liturgischen bzw. Diözesankalender handelt, sind die wichtigsten Feste mit roter Tinte hervorgehoben.[79]

Allem Anscheinen nach hat das Buch seine Entstehung lediglich der Frömmigkeit Matthäus Heupergers zu verdanken. Allerdings ist offenkundig, dass eine solche Veröffentlichung auch dem Repräsentationszweck diente. Die erste Seite bildet einen Ritter mit Rüstung, Schwert und Fahne ab, rechts und links von ihm das Wiener Wappen bzw. ein Wappen mit doppelköpfigem Adler – der Kaiser selbst? Der letzte Holzschnitt, ein makabres memento mori, enthält ein chiffriertes Wappen des Passauer Bischofs Wiguleus Fröschl (1500–1517).

Der Hauptteil des Buches ist in acht Einheiten gegliedert, welche die acht Teile der Zeremonie widerspiegeln. Diese religiöse Handlung fand „alle iar an sontag nach dem Ostertag[80] statt. Während der „acht procession oder umbgeng[81] wurden Reliquien und Devotionalien zur Verehrung dargeboten. Die acht Gruppen waren inhaltlich gleich und nach folgender Hierarchie angeordnet: Christus, Maria, Apostel, Märtyrer, Bekenner und Jungfrauen. Es wurden Kreuz- sowie Heiligenreliquiare, Monstranzen, Vasa sacra, Bücher, Kleinodien usw. vorgezeigt.

Obwohl das Buch musikalischer Notation entbehrt, ist es doch möglich ein genaues Klangbild dieses Kultusakts zu rekonstruieren. Das Wiener Heiltumbuch dokumentiert, dass bei jeder Vorzeigung ein Gesang angestimmt wurde. Es stehen bloß die Textincipits geschrieben, so z. B. „Der Erst umbgang Singt man die Respons. Hoc signum crucis[82]. Es handelt sich ausschließlich um Responsorien. Der Grund, dass nur Gesänge dieser Gattung und keine Antiphonen verwendet wurden, könnte darin liegen, dass normalerweise ein Responsorium eine längere Dauer als eine Antiphon hat und dass durch seine dreiteilige Form die Möglichkeit besteht, die Art der musikalischen Ausführung abzuwechseln (wie z. B. Solo und schola). Dass diese Stücke musikalisch ausgeführt wurden, belegen die Verwendung des Verbs „singen“ und die „Vorred“: Die gläubigen Zuschauer sollen nämlich „die Erklärung was ein jedes Stück sein, und den Lobgesang, der dazwischen gesungen wird, hören und bedenken […]“[83].

In der Tabelle » Abb. Gesänge und Umgänge des Wiener Heiligtums sind die Gesänge aufgelistet, die während der acht „Umbgänge“ gesungen wurden. Die Responsorien sind dem liturgischen Formular eines jeweils passenden Festes entnommen: für Christus aus den Formularen für das Fest der Erfindung des Kreuzes und für Gründonnerstag; für die Gottesmutter aus dem Fest Mariä Geburt;[84] für die Apostel, Märtyrer, Bekenner (Beichtiger, confessores) und Jungfrauen aus dem jeweiligen Commune.[85] Es handelt sich hauptsächlich um Responsorien der Matutin. Die Reihenfolge der Modi ergibt keine modale Anordnung, der Wechsel zwischen erstem und einem anderen Modus mag hier zufällig sein.

Der Grund für zwei „Prozessionen“ für Christus sowie für die Märtyrer liegt höchstwahrscheinlich in der hohen Anzahl an vorhandenen Reliquien. Die gesamte Zahl acht trägt die symbolische Bedeutung des Tages des Letzten Gerichtes und der definitiven Rettung des Menschengeschlechts.

 

Abb. Gesänge und Umgänge des Wiener Heiligtums

Abb. Gesänge Umgänge des Wiener Heiligtums

Auflistung der Gesänge, die laut des Wiener Heiltumbuchs von Johannes Winterburger alljährlich am Sonntag nach Ostern während der acht Umgänge beim Wiener Heiltumstuhl gesungen wurden.

 

[77] Ritter 1882, 9. Dieses Gebäude wurde im Jahr 1700 abgetragen.

[78] Ritter 1882, 7.

[79] Zu diesem Kalender siehe Opll 1998.

[80] Ritter 1882, fol. 1r.

[81] Ritter 1882, fol. 4r.

[82] Ritter 1882, fol. 4v.

[83] Ritter 1882, 10; vgl. auch fol. 4r. Zur Wirkung eines gehörten Gesangs für den Ablass siehe Lodes 2001.

[84] Das Responsorium Felix namque es sacra virgo wird auch für andere Marienfeste verwendet.

[85] Das Responsorium Sint lumbi vestri praecinti wird auch für Allerheiligen verwendet.