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Die Handschrift

Reinhard Strohm

Die aus dem späten 14. Jahrhundert stammende Musikhandschrift, die als zweiter Teil dem Cod. 457 der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol (Innsbruck) angehört und deshalb hier „Cod. 457/II“ bzw. „Innsbrucker Cantionarius“ genannt wird, überliefert 69 notierte Gesänge, die zum lateinischen Messgottesdienst oder Stundengebet „ad libitum“ gesungen werden konnten.[1] Es ist keine standardisierte Auswahl: Die Handschrift überliefert nicht dasselbe Repertoire wie überall sonst, sondern ist eine besondere Sammlung, die bestimmte Präferenzen oder Zwecke einer Musikergemeinschaft oder sogar eines Individuums widerspiegelt. Die meisten Stücke sind „Tropen“ (lat. tropi), d.h. durch textliche und/oder musikalische Erweiterungen ausgeschmückte Gesänge. Somit gehört die Handschrift zur Familie der „Troparien“, von denen fast jedes Mitglied individuell verschieden war. Tropensammlungen früherer Jahrhunderte waren oft an Bücher für Messe, Offizium oder Prozessionen angegliedert.[2] Cod. 457/II enthält tropierte liturgische Lesungen zu Weihnachten, Antiphontropen, Gesänge zum Messordinarium und Messproprium, u.a. in cantus fractus (» A. Rhythmischer Choralgesang), Lamentationen, Benedicamus domino-Tropen und einige Gesänge ohne festgelegte gottesdienstliche Funktion (» Abb. Inhaltsverzeichnis Cod. 457/II, S. 1, 2 und 3).

Nummerierung und die meisten inhaltlichen Angaben und Konkordanzen nach Stenzl 2000, mit Ergänzungen von Jan Ciglbauer. “+” bedeutet Zweistimmigkeit. Quellensignaturen nach RISM, abgekürzt. Konkordanzen, Literatur und Editionen in Auswahl. Rot: CD-Einspielung Codex 457 (Ensemble Peregrina). AH = Analecta Hymnica Medii Aevi 1886-1922).

Es bietet sich an, der Handschrift den zeitgenössischen Gattungsnamen „Cantionarius“ (Gesangbuch) zu geben. Diesen Namen trägt eine Musiksammlung in der Grazer Handschrift A-Gu Cod. 756 aus Seckau, datiert 1345 (» Abb. Seckauer Cantionarius).[3] Sie enthält 130 Gesänge, meist Tropen und strophische Lieder, die nach dem Beispiel anderer Handschriften als „Cantionen“ zu bezeichnen sind (» A. Kap. Cantionen als Erneuerung). Die Melodien sind in linienlosen Neumen notiert, somit nicht sicher lesbar. Der Innsbrucker Cod. 457/II ist überwiegend in gotischer Choralnotation auf Linien geschrieben und nach Tonhöhen und Textunterlegung genau lesbar; die Rhythmen sind in dieser Notation jedoch nicht fixiert. Die Sammlung ist halb so umfangreich wie der Seckauer Cantionarius, hat aber mit diesem nicht weniger als 15 Stücke gemeinsam.

Cod. 457/II enthält einen einzigen (teilweise) deutschsprachigen Gesang, das Strophenlied „O filii ecclesie – O liben kint der cristenhait“ (Nr. 47). Es handelt sich um die älteste greifbare Überlieferung der Melodie dieser hochmittelalterlichen Marienklage, die auch Bestandteil geistlicher Spiele geworden ist.[4] Mit der weltlichen, lateinisch-deutschen Sammlung der Carmina Burana (D-Mbs Clm 4660, um 1230) hat das Repertoire indirekt zu tun (» Kap. Überlieferung).

[1] Bibliothekskatalog: Neuhauser 2008, Cod. 457, SERMONES/CANTIONARIUM. Online-Reproduktion: https://diglib.uibk.ac.at/urn:nbn:at:at-ubi:5-509. Die nach wie vor gültige Einführung mit vollständigem Inventar der Quelle ist Stenzl 2000. Ich bin Jürg Stenzl auch für weiterführende Beratung herzlich dankbar.

[2] Zu späten Troparien (Troparia tardiva) des deutschsprachigen Raums siehe Haug 1995 und Kruckenberg 2021; Cod. 457 spielt hier nur eine marginale Rolle. Husmann 1964 beschreibt Cod. 457/II und ältere Troparien.

[3] Irtenkauf 1956, 117, liest „Cantionari[um]“, doch ist die Abkürzung mit Sicherheit „us“; vgl. auch Husmann 1964, 17.

[4] Kornrumpf 2004 nennt Cod. 457 als früheste Quelle („um 1400“); Verwendung in Marienklagen ist im 15. Jahrhundert bezeugt. » Hörbsp. O filii ecclesie / O liben kint; » Notenbsp. O liebe kind.