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Cod. 457/II: Die Nachträge

Reinhard Strohm

Ob fol. 90r (Hand 2) und 92v-94v (Hand 3 und 4) während der Arbeit von Hand 1 oder erst später gefüllt wurden, ist ungewiss. Auf einen Zusammenhang zwischen Hand 1, Hand 3 und Hand 4 deutet der Übergang auf derselben Seite von Hand 3 zu Hand 4 auf fol. 93v, und von Hand 1 zu Hand 4 auf fol. 106r. Lage 3 endet (fol. 107v) mit einem einzeiligen, radierten Nachtrag von Hand 4 (Text unlesbar, Rubrik „In sl… sang[uinis]“?), der wohl der Arbeit von Hand 1 erst nachfolgte. Hand 5 (Mensuralnotation, fol. 107r) dürfte nach 1400 gearbeitet haben. Hände 1-5 haben sowohl Noten als auch Text eingetragen, und zwar die Noten zuerst, wie öfters an der genau passenden Wortunterlegung erkennbar ist. Auf fol. 91v (» Abb. Credo in cantus fractus) schrieb Hand 1 den Text, Hand 6 die Noten. Fol. 91v ist allerdings Palimpsest: Die Noten wurden über einer anderen, ausradierten Melodie eingetragen, nämlich einem Credo,[16] das von Hand 1 (Fliegenfußneumen mit Hälsen, vielleicht halbmensural zu lesen) eingetragen worden war; auch die ursprüngliche Fortsetzung derselben Melodie ab „Et resurrexit“ (fol. 91v, Zeile 8) bis fol. 92r unten ist ausradiert. Hand 6 substituierte – nur auf fol. 91v – eine andere beliebte Credomelodie,[17] in Mensuralnotation, obwohl unter Verwendung der von Hand 1 geschriebenen C-Schlüssel. Dies dürfte nach der Wirkenszeit von Hand 1 gewesen sein.

Auf fol. 91v, Zeile 1-6 (» Abb. Credo in cantus fractus), schreibt Hand 6 als Kustos eine rhombische Note mit Hälsen nach oben und unten mit scharf abgewinkelten Fähnchen. Diese dem Notensymbol „Dragma“ ähnelnde Form des Kustos, die in Cod. 457/II sonst nicht vorkommt, kennen wir aus der Wolkenstein-Handschrift A-Wn Cod. 2777 („WolkA“: Wien, ca. 1425) und dem ältesten Teil des St.-Emmeram-Codex (D-Mbs Clm 14274, Wien, ca. 1435-40).[18] Der Kustos auf fol. 91v, Zeile 7, ist eine quadratische Note mit Hals nach oben; auch diese Form findet sich in Clm 14274. Hand 6 könnte vielleicht übereinstimmen mit Hand 2 (fol. 90r): Zwar haben deren Kustoden verschiedene mensurale Formen, das Prinzip ist aber dasselbe: die Kustoden haben eine Form der jeweils in der Zeile vorhandenen Notenschrift.[19] Die Notenschrift von Hand 6 (und somit vielleicht Hand 2) ist am besten in das erste Drittel des 15. Jahrhunderts zu datieren.

[16] Stenzl 2000, 162; Miazga 1976, Nr. 279, 74-77.

[17] Miazga 1976, Nr. 113, 56-58.

[18] Jan Ciglbauer, Prag, bestätigt mir, dass diese Form des Kustos auch in anderen Quellen des früheren 15. Jahrhunderts vorkommt, die aus Universitätskreisen stammen.

[19] Auf den ersten von Hand 1 geschriebenen Blättern gibt es sehr kleine Kustoden in roter Tinte (» Abb. Jube domine, fol. 73r); Kustoden werden erst ab fol. 96r in schwarzer Tinte wieder eingeführt, aber in der Form der ersten Blätter. Nach Zingerle 1925, 33, stammen diese Kustoden vielleicht von fremder Hand.