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Der Einfluss von Notre-Dame und weitere Konkordanzquellen zu Cod. 457/II

Reinhard Strohm

Nr. 1, 12, 13, 25, 60 und 68 haben zumindest textlich mit dem sogenannten Notre-Dame-Repertoire (13. Jahrhundert) zu tun. Die Verbindungen sind jedoch von jeweils verschiedener Art. Während zu Nr. 1 wohl eine musikalische Quelle der Notre-Dame-Fassung vorlag (» Kap. Überlieferung), gibt es für Nr. 12, 13 und 68 nur jeweils eine textliche Tradition, die in Nr. 13 zudem stark abgewandelt ist (» A. Kap. Flos de spina). Nr. 25, „Benedicamus devotis mentibus“, ein Marientropus, verwendet eine Melodie des 11. Jahrhunderts, die ursprünglich einem Melisma für St. Nikolaus entstammte („Eia pueri iubilo“); sie wurde oft mehrstimmig gesetzt.[38] Nr. 60 ist ein alter Tropus, von dem es viele Versionen gab, im Notre-Dame-Repertoire auch mehrstimmige; doch keine dieser Überlieferungen scheinen für Cod. 457/II relevanter als diejenige des Seckauer Cantionarius, wo Text und Rubrik von der restlichen Überlieferung abweichen.

Da die benediktinische Handschrift „ENG“ (CH-EN Ms. 314) sehr umfangreich ist, überrascht die Zahl von neun Konkordanzen mit dem gleichaltrigen Cod. 457/II kaum. Besondere Übereinstimmungen von Fassungen oder unikale Konkordanzen sind jedoch nicht zu beobachten.[39] Auch die vier Konkordanzen zum „Moosburger Graduale“ (D-Mu 2o 156) von 1360 sind allgemein verbreitetes Material.

Cod. 457/II könnte durch „Par concentu“ (Nr. 22) mit der älteren süddeutschen Handschrift „MüC“ (D-Mbs Clm 5539) verbunden sein (» Kap. Überlieferung); die echten Konkordanzen mit dieser süddeutschen Quelle (Nr. 17, 26, 36, 53, 62) sind aber weit verbreitet.[40] Davon steht nur Nr. 53 auch in einer böhmischen Quelle (CZ-Pu V H 11).

MüC wurde Anfang des 14. Jahrhunderts vielleicht am Bischofshof Regensburg angefertigt und kam später in das Augustiner-Chorherrenstift Diessen. Die Quelle teilt mit „LoD“ (GB-Lbl add. 27630)[41] das Schicksal, dass beide Handschriften aus anderen Entstehungsorten noch im Mittelalter in südbayrische Augustiner-Chorherrenstifte verbracht wurden – MüC nach Diessen, LoD nach Indersdorf. Die Musik beider Handschriften ist in Quadratnotation geschrieben, die damals bei Augustiner-Chorherren unüblich war. Beide enthalten Nachträge in gotischer Choralnotation.     

Textliche Hinweise verbinden LoD mit dem Augustiner-Eremitenorden und Böhmen. Joseph Willimann vermutet eine Provenienz aus dem Prager St.-Thomas-Kloster der Augustiner-Eremiten, legt sich jedoch nicht endgültig darauf fest.[42] Die Konkordanzen zwischen Cod. 457/II und LoD (Nr. 1, 13, 14, 15, 17, 20, 62, 63) sind meist ältere Stücke, von denen außer den weit verbreiteten Nrn. 62 und 63 keine auch aus Böhmen bekannt sind. Der Kirchweihtropus „Salva Criste te querentes“ (Nr. 14) ist in LoD zweimal notiert; die zweistimmige Fassung dieses Stimmtauschtropus ist eine unikale Konkordanz, während die Wiener Minoritenhandschrift PL-Kj Berol. Mus.ms. 40580 eine einstimmige Version enthält.[43]

ENG, MüC und LoD überliefern auch die ursprünglich französische Gattung der Motette.[44] In Cod. 457/II dagegen notiert Hand 1 gar keine Motette, die Nachtragshand 5 eine einzige (Nr. 68), die nur textlich mit älteren französischen Vorlagen korreliert.

Konkordanzen mit dem Codex „MüD“ (D-Mbs Cgm 716; 3. Drittel 15. Jahrhundert) sind wegen dessen später Entstehungszeit kaum von Bedeutung für den Innsbrucker Cantionarius. Allerdings interessiert Joseph Willimanns These, dass MüD etwas mit dem Münchner Augustiner-Eremitenkloster zu tun haben könnte.[45]

Mehrere bei Stenzl nicht erwähnte Konkordanzen stammen aus ost-österreichischen Klöstern.[46] Zu ihnen gehört die einstimmige Version von Nr. 14 (zweistimmig sonst nur in LoD) in PL-Kj 40580 (aus Wien), fol. 82v. Die Texte von Nr. 4 und 9 erscheinen auch, in anderen Vertonungen, im Antiphonale A-Gu Cod. 29 aus St. Lambrecht (Steiermark).[47]  

Robert Klugseders Kataloge der Musikhandschriften der ÖNB vermerken ferner:[48] Cod. 1741 (1. Hälfte 14. Jahrhundert) mit den Tropen Nr. 62 “Ach homo perpende” und Nr. 63 “Rector caeli immortalis”, die in Innsbruck nebeneinander stehen. Die Handschrift stammt aus der Kartause Gaming (). Cod. 1586, eine der zahlreichen Quellen von Nr. 11, ist ein Lektionar des 14. Jahrhunderts, das später dem 1414 gegründeten Augustiner-Chorherrenstift St. Dorothea in Wien gehörte.[49] Auch Cod. 2518, mit den „kleinen“ Improperien „Popule meus“ (Nr. 33), gehörte dem Wiener St. Dorotheastift, ist jedoch ein Rituale des 14. Jahrhunderts. Cod. 3586, ehemals in Mondsee, enthält den Text des bekannten Benedicamustropus Nr. 2. Cod. 3946 (datiert 1424), eine Handschrift aus Gmunden () bzw. aus dem Domkapitel Salzburg, überliefert die weit verbreiteten Kyrietropen Nr. 15 und 17. A-Wn Cod. S.n. 228 (aus Salzburg?, Kantionale des frühen 14. Jahrhunderts) enthält Nr. 62 (Nachtrag des 14. Jh.).

[38] Arlt 1983, besonders 29-30, zu den mehrstimmigen Fassungen.

[39] Stenzl 2000, 181, mit Variantenvergleich von Nr. 59 (Notenbeispiel S. 182).

[40] Zu Clm 5539 siehe Marie-Louise Göllner 1992 (wo nur Konkordanz Nr. 17 erwähnt ist), Willimann 1999 II.1, 311-313.

[41] Edition: Dömling 1972.

[42] Willimann 1999 II.1, 340-350 und II.2, 400-418. Jan Ciglbauer (briefliche Mitteilungen 6. Juni und 28. Oktober 2021) vermutet für LoD eher eine süddeutsche, mit Böhmen verbundene Provenienz.

[43] Dömling 1972, Bd. 53, 70.

[44] Das Motettenrepertoire in deutschen Quellen untersucht Willimann 1999 II.I, 311-363.

[45] Willimann 1999 II.I, 371-372.

[46] Nr. 2 steht auch in einem Antiphonale aus Neustift/Novacella, Cod. 15063 (Ende 15. Jahrhundert), fol. 14r.

[47] Beide ediert in Göllner 1969, I, 109-117 und 320-322, Faks. XXII.

[48] Klugseder 2014, 337 und 341-343; Klugseder 2011, 114 f. (zu A-Wn S.n. 228).

[49] Madas 1982, 94 f.  Vielleicht war Vorbesitzer die von Herzog Albrecht II. im Jahr 1360 gegründete Dorotheakapelle. Andererseits erhielt das Dorotheastift 1414 eine Bücherschenkung von Rektor Petrus von Mautern: » E. Kap. Bücher und Weltlauf (Susana Zapke).