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A-Iu Cod. 457 und die Kartause Schnals

Reinhard Strohm

Der zusammengebundene Cod. 457 (frühere Signatur: II 2 D 1 ) der Universitäts- und Landesbibliothek Tirol (ULBT) gelangte 1784 aus der Kartause Allerengelberg in Schnals nach Innsbruck, im Zuge der Klosteraufhebung durch Kaiser Joseph II. im Jahre 1782. Der Codex, der in Schnals die Signatur E 102 getragen hatte, war damals in seinem mittelalterlichen Einband vollständig erhalten und wurde auch später nicht weiter verändert. Der schmucklose „gotische“ (lt. Katalog) Einband, besteht aus mit hellbraunem Leder überzogenen Holzdeckeln. Er trägt den eingepressten Titel Dicta Haymonis de sanctis, der auch auf fol. 1r als Überschrift der originalen Beschriftung in roter Tinte erscheint. Daneben befindet sich, von späterer Hand (17. Jh.?), der Besitzvermerk „Carthusie Snals“. Im 1784 angefertigten Inventar der aus Schnals übernommenen Bücher wird der Codex beschrieben als „Dicta Haymonis de Sanctis, unvollständig, daran angeschlossen kirchlicher Gesang mit Musiknoten“.[63]

Dass die Kartause Allerengelberg bei Schnals/Senales nahe Meran (gegr. 1326) Vorbesitzer des vollständigen, gebundenen Codex gewesen war, ist somit erwiesen. Nicht belegt ist, seit wann die Handschrift sich dort befand und wo sie urspünglich angefertigt wurde. Da sie aus zwei inhaltlich und kodikologisch unabhängigen Teilen (fol. 1-71: Predigtsammlung; fol. 72-107: Musiksammlung) besteht, müssen für die Herkunft beider Teile getrennte Antworten gefunden werden. Der Einband des Codex, der beide Teile umfasst, stammt jedenfalls schon aus dem 15. Jahrhundert, wie gezeigt werden soll.

Musikausübung war im Kartäuserorden sehr eingeschränkt. Die Mönche lebten individuell in einzelnen Wohnungen, hatten keine Möglichkeit zur Kommunikation mit der Laienwelt durch Predigt oder Seelsorge und durften in Stundengebet und täglicher Messe nur die einfachsten, demutvollen Gesänge ausführen; hierfür sollte ein Gesangmeister zur Verfügung stehen.[64] Gemeinsame Feiern von Messe und Stundengebet unterlagen bestimmten Einschränkungen. Zwar sind praktische und theoretische Musikquellen aus mittelalterlichen Kartausen erhalten:[65] Jedoch sind einige davon der reinen Kopiertätigkeit einzelner Mönche zu verdanken. Ein Beispiel ist das umfangreiche Kantionale des Basler Kartäusers Thomas Kress (gest. 1564), der am Ende seines Lebens als einziger verbliebener Insasse der Basler Kartause von der inzwischen protestantischen Stadtverwaltung besondere Erlaubnis erhielt, überlieferte lateinische Gesänge aufzuschreiben.[66] Ein Choraltraktat des 15. Jahrhunderts aus der niederösterreichischen Kartause Gaming (gegr. 1330) bezieht sich nicht auf die Choralpraxis des Ordens selbst.[67] Musikquellen aus der Kartause Buxheim bei Augsburg (gegr. 1402), seit 1883 in der Bayerischen Staatsbibliothek und anderswo befindlich, waren vermutlich als Geschenkbände erst seit dem 16. Jahrhundert nach Buxheim gelangt. Andererseits sind aus der Kartause Žiče/Seiz (Slowenien, früher Steiermark, gegr. 1160) mehrere mittelalterliche Antiphonalien und Gradualien erhalten, die für den Eigengebrauch angefertigt wurden.[68]

Mit der Musikpflege der Kartäuser im 14.-15. Jahrhundert ist der Inhalt von Cod. 457/II unvereinbar. Gesänge wie Tropen und Cantionen sowie Mehrstimmigkeit waren verboten; eine für solche Gesänge gedachte besondere Sammlung wäre erst recht unzulässig gewesen, sei es für die Mönche oder die Konversen. Auch für eine Zweckbestimmung außerhalb des Klosters, etwa die Pfarrei des Schnalstales selbst, hätten Kartäuser diese Sammlung nicht angefertigt. Es ist also hochwahrscheinlich, dass Cod. 457/II nicht in Schnals entstanden ist.

Ähnliches gilt für Cod. 457/I, die lateinische Predigtsammlung, denn auch das Predigen war den Kartäusermönchen mit bestimmten Ausnahmen verboten. Die Predigten, vorwiegend anonym, stammen von Haymo von Halberstadt (zweifelhaft zugeschrieben), Iacobus de Voragine, Peregrinus de Oppeln, Aldobrandinus de Cavalcantibus, Siboto, Iohannes Nider, Graeculus, Berthold von Regensburg, Iohannes de Rupella und Conradus Holtnicker de Saxonia.[69] Die genannten Autoren sind fast sämtlich Dominikaner (Predigermönche) und Franziskaner. Der jüngste Autor ist Iohannes Nider (Isny 1380-Nürnberg 1438), weshalb diese einheitlich angelegte Predigtsammlung in das 15. Jahrhundert zu datieren ist. Gelegentliche deutsche Randglossen zur Predigtsammlung, die nicht erst nachträglich hinzugefügt wurden, deuten auf Schreiber aus dem südlichen Teil des bairischen Mundartgebietes.[70] Obwohl lateinische Predigten für Kartäusermönche als Leseliteratur in Frage kamen, muss damit gerechnet werden, dass auch die Predigtsammlung nicht in oder für Schnals angefertigt wurde, sondern erst im zusammengebundenen Band dorthin kam. [71] Dass sie aus einem Bettelordenskloster stammte, ist durchaus möglich.

[63] Stenzl 2000, 145. Zur Schnalser Bibliothek vgl. Neuhauser 1991/2010.

[64] Hüschen 1996/2016; Ginex 2020.

[65] Zu Schnals vgl. Neuhauser 1991/2010, wo aber Cod. 457 nicht erwähnt ist.

[66] Labhardt 1978.

[67] Rausch 2007; Rausch 2008.

[68] Golob 2006.

[69] Neuhauser 2008, 361. Zu den vielen handschriftlichen Predigtsammlungen in der Region vgl. Schneyer-Hödl-Knoch 2001.

[70] Die einmal vorkommende Wortform „gat“ für „geht“ könnte auf Tirol deuten. Ich bin Nigel F. Palmer († 2021) für einschlägige Beratung dankbar.

[71] Zur Schnalser Bibliothek vgl. Neuhauser 1991/2010 und Sepp 1980, 117-119 (beide ohne Erwähnung von Cod. 457).