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Überlieferung und Originalität

Reinhard Strohm

Die Frage nach einer irgendwie zu bestimmenden Eigeninitiative, Originalität oder musikalischen Erfindung muss von der Feststellung ausgehen, dass die klösterliche Musikkultur vorzugsweise nicht komponierte Einzelstücke, sondern rituelle Einheiten von Sprache und Musik erfand bzw. zusammenstellte und aufführungspraktisch realisierte.[50] Wir wissen auch meist nicht, inwieweit musikalische Varianten zwischen zeitlich differierenden Quellen irgendeiner „Stilentwicklung“ zu verdanken sind, oder ob jeder Musiker auf Grundlage traditioneller Schemata neu gestalten konnte.

Das Repertoire von Cod. 457/II beginnt auf fol. 72r mit dem Responsorium „Iudea et Ierusalem“ zum ersten Gottesdienst des Weihnachtsfestes, nämlich der Vesper am Vorabend. Das Responsorium gehört zur regulären Liturgie, wird hier aber teilweise zweistimmig vorgetragen. Die Anfangsworte, „Iudea et Ierusalem“, sind motto-artig auskomponiert (» Abb. Iudea et Ierusalem; » A. Kap. Mehrstimmige Soloabschnitte). Danach geht es zunächst einstimmig weiter. Zweistimmig sind dann wieder der Vers „Constantes estote“ und das „Gloria patri“. Eine Fassung des Responsoriums findet sich schon im Notre-Dame-Repertoire, wo dieselben Abschnitte zweistimmig sind wie in Cod. 457/II.[51] Hier ist jedoch ist die Zusatzstimme ganz anders. Sie differiert auch, obwohl weniger, von den Quellen ENG (CH-EN 314) und LoD (GB-Lbl add. 27630), wo nur der Vers „Constantes estote“ zweistimmig ist.[52] In A-Gu Cod. 29, fol. 37v, wurde dieser zweistimmige Vers später in deutschen Neumen nachgetragen (» Notenbsp. Constantes estote). Diese nachgetragene Niederschrift könnte auf Cod. 457/II selbst beruhen, wäre dann allerdings vereinfacht worden: Trotz weitgehender Ähnlichkeit hat die Innsbrucker Zusatzstimme größere melodische Beweglichkeit und größeren Umfang.

Notenbsp. Constantes estote

Constantes estote

Der Vers „Constantes estote“ zum Introitus „Iudea et Ierusalem“ der ersten Weihnachtsvesper wird in spätmittelalterlichen Quellen öfters nichtmensural-zweistimmig überliefert. Hier zum Vergleich die Fassungen in A-Gu Cod. 29 (fol. 37v, Nachtrag um 1400) und  A-Iu Cod. 457 (fol. 72r). 

Weit verbreitete mehrstimmige Stücke wie die Lektionen Nr. 6-8 oder der Episteltropus „Laudem deo dicam“ (Nr. 11) sind manchmal lokale Neuvertonungen allgemein bekannter einstimmiger Choralvorlagen. Wie bei Nr. 1 konnte nicht nur die Musik der mehrstimmigen Abschnitte von Ort zu Ort differieren, sondern bereits die Auswahl der mehrstimmig vorzutragenden Textabschnitte. Bei Nr. 8 steht der Cantionarius mit einer Textvariante („Jube domine nos tuis benedictionibus adimpleri et sacris lectionibus proficere“) allein gegenüber mindestens 12 anderen Quellen.[53] Er trifft auch eine andere Auswahl zweistimmiger Abschnitte – die jedoch musikalisch von der Hauptüberlieferung kaum abweichen. Bei Nr. 7 stimmen unter vielen Quellen nur Cod. 457/II, CZ-Pu V H 11 und A- Ms. 307 (Benediktiner-Lektionar, Göttweig, 15. Jahrhundert) in der Wahl des seltenen 4. Modus auf A überein; das melodische Detail ist nur in Cod. 457/II und Göttweig gleich.[54] Da Göttweig 307 die jüngere Quelle der beiden ist, könnte die neue Melodiefassung aus dem Umfeld des Innsbrucker Cantionarius stammen. Auch in anderen Fällen, z.B. „Virgo mater, consolatrix“ (Nr. 57), gibt es melodische Abweichungen zwischen Cod. 457 und V H 11,[55] die auf originalen Initiativen, nicht auf Zwischenvorlagen beruhen dürften. Üppige Ausgestaltung einer traditionellen Matrix zeigt Nr. 9: Die Anfangs- und Schlussworte sind mit großen Vokalisen ausgestattet, während die gereimten Tropusverse („Maria candens lilium“) vorwiegend syllabisch gesungen werden.[56] Die melodischen Abweichungen zwischen Cod. 457/II und EN 314 bei „Ego comparabilis“ (Nr. 59) bezeichnet Jürg Stenzl hingegen als „Überlieferungsvarianten“: Sie haben sich durch (schriftliche oder mündliche) Weiterverbreitung wie von selbst ergeben.

Völlig unterschiedliche Überlieferungen kennzeichnen die Lesung Nr. 10, deren Fassung in Cod. 457/II als Unicum gelten kann.[57] Doch wird hier der Lektionston im 3. Modus nur mit einer traditionellen Eingangsformel und mit melismatisch erweiterten Zeilenenden ausgeschmückt: Das Stück ist also nicht neu erfunden, sondern folgt der Tradition, oder ist gar Kontrafaktur eines anderen Stücks.[58] Freilich erlaubte ein formelhafter Gebrauch von Lektionstönen bisweilen phantasievolle Ausarbeitung, wie in der dreistimmigen Lesung „Jube domne … Primo tempore“ der Handschrift SI-Lna Ms. 13, fol. 1r, aus Kranj/Krainburg (Slowenien).[59] Das Stück ist nicht mit Nr. 6 verwandt, da ein anderer Lektionston (5. Modus) gewählt wurde.

Der Cantionarius enthält nur eine Motette bzw. motettenartige Komposition, erkennbar an der mensuralen Notation (Hand 5) und der als Tenor zu verstehenden Unterstimme in längeren Notenwerten: „Auctor vite virgine“ (Nr. 68). Der Text kommt in Notre-Dame-Handschriften vor, doch ist keine musikalische Konkordanz bekannt. Tenor und Oberstimme passen seltsamerweise nicht zusammen. Motettensammlungen des 14. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum (ENG, MüC, LoD) überliefern oft vereinfachte oder in Einzelstimmen zertrennte Fassungen.[60] Das kann dazu geführt haben, dass textlose Tenores mit nicht zugehörigen Oberstimmen kombiniert wurden. Ein anderes Beispiel ist die Motette “Salve Maria regia” mit anscheinend unpassendem Tenor in A-Wn Cod. S.n. 228,[61] von der PL-Kj Mus.ms. 40580 eine einstimmige Fassung überliefert. Auch der Seckauer Cantionarius, fol. 218v-219v, bietet Stücke mit als “Tenor” bezeichneten Unterstimmen. Angesichts dieser Überlieferungssituation ist „Auctor vite virgine“, obwohl Unicum, wahrscheinlich nicht als Eigenschöpfung zu betrachten.

Die Oberstimme der Sequenz „Salve proles Davidis“ (Nr. 30) käme als Eigenkomposition in Frage, da sie Unicum ist, während die Grundstimme weit verbreitet war. Jedoch würde der einfache syllabische Stil dieser Zusatzstimme nicht den Eigenvarianten von Cod. 457/II in anderen Stücken entsprechen.

Die Cantio auf St. Dorothea „Par concentu rogito“ (Nr. 23) hat ihr musikalisches Vorbild in der Pastourelle „Exiit diluculo“ (Carmina Burana Nr. 90), mit lesbarer Notation versehen in MüC. Der neue Text und dessen Melodie scheinen durch Anlehnung an das ältere Lied entstanden zu sein (» B. Kap. Traditionsbildung durch Anklang; » Notenbsp. Par concentu) – vielleicht im Umfeld des Innsbrucker Cantionarius. Da jedoch eine ältere geistliche Kontrafaktur mit derselben Melodie existierte, ist die Abhängigkeit von MüC ungewiss.[62]

[50] » A. Kap. Kulturelle Eigenleistung (Stefan Engels).

[51] Göllner 1989, 183 und 186-188.

[52] Göllner 1961, 28-29, 134-140 und 150-151 (Transkription und Vergleich der Fassungen).

[53] Dieselbe Textvariante steht auch in Nr. 6, sowie bei Nr. 8 in der Konkordanzquelle V H 11.

[54] Editionen: Göllner 1969 I, 57 f. (Transkription) und 309 f. (Nr. 4); Beschreibung II, 41-56.

[55] Stenzl 2000, 178-179, mit Notenbeispiel. Zur Variabilität bzw. Stabilität hinzugefügter Stimmen vgl. auch Celestini 2002.

[56] Göllner 1969, vgl. Fassungen 1 (A-Gu 29) und 2 (Cod. 457/II).

[57] Nicht zu verwechseln mit dem Responsorium “In principio erat verbum““, das z.B. in  A-Wn Cod. S.n. 228 zweistimmig gesetzt ist: vgl. Klugseder 2011, 113-116.

[58] Göllner 1969 I, 127-129 (Edition), II, 74-77 (Analyse).

[59] Snoj 1997, 70-72 (mit Abb.).

[60] Vgl. Willimann 1999.

[61] Klugseder 2011, 113-116.

[62] Marie-Louise Göllner 1992, Nr. 15; 20, 127, 136f. mit Transkription des Originals und Kontrafaktur „Surrexit de tumulo“ in E-HU, fol. 93r-v.

[63] Stenzl 2000, 145. Zur Schnalser Bibliothek vgl. Neuhauser 1991/2010.