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Tiroler Kirchengesang?

Reinhard Strohm

Das Repertoire des Innsbrucker Cantionarius hat schon seit den 1930er Jahren auch primär musikalische Aufmerksamkeit erregt. Ein Ausdruck davon sind die aus der Handschrift transkribierten 18 Notenbeispiele in Marius Schneiders Geschichte der Mehrstimmigkeit (1935).[101] Inwieweit diese Transkriptionen, in denen die Textunterlegung meistenteils weggelassen ist, einem heutigen Verständnis dieser Kunst entsprechen, sei dahingestellt.

Sehr willkommen ist die CD-Einspielung des Ensemble Peregrina, Codex 457: Musik des Mittelalters aus Tirol (2017).[102] Während jedoch Marius Schneider die Musik des Cantionarius in einen sowohl europäischen als auch außereuropäischen Zusammenhang zu stellen versuchte, reduziert die CD-Einspielung ironischerweise die musikalische Erfahrung dieser Stücke auf Tirol allein, wie bereits der Titel der Sammlung und der lehrreichen Einleitung von Agnieszka Budzińska-Bennett anzeigt.[103] Die nicht aus Cod. 457/II stammenden Vokalstücke bzw. Choralmelodien der Einspielung sind allein aus Tiroler mittelalterlichen Quellen abgeleitet. Dass Cod. 457/II nicht nur in Neustift/Novacella entstanden sei, sondern auch eine spezifische Tiroler Musikrichtung darstelle, hatte Marco Gozzi vorgeschlagen;[104] die Idee einer gleichsam musikalischen Patenschaft Oswalds von Wolkenstein, obwohl seinerseits „internationaler“ Musiker, kam von Erika Timm (1974). Um diese Interpretationen vom Kopf auf die Füße zu stellen, sei betont, dass der Inhalt von Cod. 457/II nicht einmal dann als spezifisch tirolerisch gelten könnte, wenn die Handschrift tatsächlich in Tirol entstanden wäre, und ebensowenig als steirisch, wenn sie, wie hier vorgeschlagen, in der Steiermark niedergeschrieben worden wäre. Was dieses von Kroatien bis Skandinavien verbreitete Tropenrepertoire und dessen Art von Mehrstimmigkeit mit Oswald von Wolkenstein zu tun haben könnte, wäre allenfalls, dass er etwas davon gelernt hätte – z.B. als er sich gerade in Wien oder Basel aufhielt.

[101] Schneider 1935, 13, 100 f.; Beispiele Nr. 135-143, 151, 155-156 und 161-166.

[102] Codex 457, 2017.

[103] Budzińska-Bennett 2017.

[104] Gozzi 2011.