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Zur liturgischen Verwendung des Innsbrucker Cantionarius

Reinhard Strohm

Die Musiker, die Cod. 457/II anfertigten oder benützten, hatten auch Zugang zu weiteren liturgischen Büchern mit Melodien oder wenigstens Texten von Kirchengesängen. Die Gesänge im Cantionarius sind nur Ausschmückungen des regulären, vorgeschriebenen Ritus. Öfters werden sie durch abgekürzte Incipits den regulären Gesängen des Gottesdienstes zugeordnet, deren Bekanntheit und Zugänglichkeit vorausgesetzt wird; z.B. verweist Nr. 13, „Flos de spina“, auf den Introitus „Gaudeamus“, Nr. 48, „Hec virga Iesse“, auf „Hodie“.[20] In umfangreicheren Stücken wie den liturgischen Lesungen Nr. 6-11 sind abgekürzte Hinweise auf dazwischen vorzutragende Texte häufig. In der tropierten Lesung Nr. 10 („Jube domine … In principio erat verbum“) steht auf fol. 77r unten, ohne Noten, der Vermerk „Sacerdos dicat et r[eliqua] et legat usque Tu“ (Der Priester soll auch das Übrige sprechen und lesen bis „Tu“), worauf der notierte Abschnitt „Tu autem“ folgt. Dies bedeutet, dass das ganze Stück in Zusammenarbeit mit dem Priester einstudiert und vorgetragen wurde und einen ganz bestimmten Moment in der gottesdienstlichen Handlung ausfüllte.

In der Lesung Nr. 9 („Jube domine … Maria candens lylium“), deren zweistimmige Abschnitte (eingeschobene Tropenverse) immer dieselbe Musik haben, ist bei den Wiederholungen nur je eine der beiden Stimmen notiert.[21] Bei Strophenliedern beschränkt sich die Notation oft auf die erste Strophe; von den anderen folgt nur der Text. Kenntnis der Gattung und des Zusammenhangs wird auch vorausgesetzt, wenn z.B. der Sanctus-Tropus Nr. 49 „Flos candens oritur“ (fol. 102v) durch das Incipit „Sanctus“ eingeleitet wird, die folgenden Sanctus-Tropen Nr. 50 und 51 jedoch keine solche Identifizierung aufweisen, sondern unvermittelt mit dem Tropustext beginnen.[22] Zu einer effektiven Verwendung des Cantionarius im Gottesdienst war daher ein Ensemble erfordert, das unter kundiger Leitung stand, mit den umgebenden Teilen des Gottesdienstes vertraut war und diese mit einstudieren konnte. Das Vorhandensein regulärer Choralbücher für Messe und Offizium (Gradualien und Antiphonalien) wurde vorausgesetzt. Ein Liber ordinarius, in dem die Gottesdienste in ihrem gesamten Zusammenhang dargestellt waren, kann sehr wohl existiert haben – wie im Seckauer Cod. 756.

Die Gesänge im Cantionarius sind annähernd chronologisch geordnet, beginnend mit dem Weihnachtsfest. Stücke für den Sommerteil der regulären Choralbücher und für Heilige (abgesehen von Maria) fehlen fast ganz. Ein zweites Buch ähnlicher Art dürfte jedoch nicht existiert haben, denn die Feste der Sommerperiode und die Heiligenfeste des Sanctorale waren im Spätmittelalter viel seltener mit Tropen oder Mehrstimmigkeit ausgeschmückt.

Inhalt und Anlage der Handschrift legen nahe, dass sie einer klösterlichen Gemeinschaft gedient hat, denn bei Verwendung aller aufgezeichneten Gesänge ergibt sich eine üppige ad libitum-Ausstattung des Stundengebets (vor allem zum Weihnachtsfest), die an Weltkirchen damals ungewöhnlich gewesen wäre. Das Repertoire scheint einerseits charakteristisch für Benediktiner und Augustiner-Chorherren zu sein, doch stehen auch konkordante Musikstücke in Handschriften der Augustiner-Eremiten (» Kap. Konkordanzen). Auf einen bestimmten Diözesangebrauch lässt der Inhalt der Sammlung nicht schließen.

[20] Wahrscheinlich ist der Introitus „Hodie scietis quia Dominus veniet“ gemeint, doch kann Stenzl 2000, 167, keine dem Incipit entsprechende Melodie identifizieren.

[21] Vgl. Göllner 1969, I, 114-116 und 321.

[22] Diese Tropen wurden auch in Marienantiphonen gesungen: » Kap. Gattungen.