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Spätmittelalterliche „Volkslieder“ – (Trug-)Spuren in österreichischen Quellen

Sonja Tröster
  • Singen in der Region Österreich

    Mit großer Selbstverständlichkeit geht man heute davon aus, dass der Alltag der Menschen im Spätmittelalter von Musik und vor allem von Vokalmusik begleitet war.[1] Wir sind überzeugt, dass nicht nur gebildete und elitäre Kreise sangen oder dem Gesang lauschten und auch abseits von Feiern und Festen gesungen wurde. Gesang, beispielsweise als Unterhaltung oder Ablenkung bei der Arbeit oder auf Reisen, ist für den Raum Österreich durch Quellen belegt. Eine dieser Quellen ist ein Itinerar, das von der Reise eines Klerikers u. a. durch Kärnten angefertigt wurde, und berichtet, dass ein einheimischer Begleiter auf dem Weg „in seiner Muttersprache“ sang.[2] Auch Bildquellen belegen die starke Präsenz von Vokalmusik, wobei sie überwiegend Musik im kirchlichen oder höfischen Kontext abbilden.[3] Außerhalb der gebildeten Gesellschaftsschichten wird im 15. Jahrhundert dagegen häufig das Musizieren auf schalmeiartigen Instrumenten, Dudelsack (» Hörbsp. ♫ Dudelsack) oder (Kuh-)Horn (» Hörbsp. ♫ Kuhhorn) dargestellt. Bildzeugnisse, die das Singen außerhalb der kirchlichen oder höfischen Sphäre belegen, sind demgegenüber weitaus seltener. Werden Sänger abgebildet, so musizieren diese oft nach Notenblättern oder -heften, was meist auf eine professionelle Praxis schließen lässt. Allerdings ist dies auch eine einfache Option, die Tätigkeit des Singens eindeutig darzustellen. Wenn die Singenden keine Noten verwenden, können allein der geöffnete Mund und der Kontext das Singen ins Bild setzen. Das Singen ohne Noten – wie es für das weltliche und geistliche Volkslied anzunehmen ist – stellt für die bildende Kunst eine besondere Herausforderung dar, da keinerlei eindeutiges Attribut auf diese Tätigkeit verweist: » Abb. Singen ohne Noten. In den ersten beiden Abbildungen deutet der weit geöffnete Mund aufgrund des Kontexts ohne Zweifel auf Singen hin, aber auch bei den Darstellungen eines Handwerkers und eines Bettlers könnte es sich um Singende handeln.

    Abb. Singen ohne Noten

    Abb. Singen ohne Noten

    Miniaturen aus dem Graduale von Kutná Hora (Kuttenberg) (» A-Wn Mus.Hs. 15501; um 1490). a: fol. 31v: Singender Lautenist (illuminierte Initiale); b: fol. 110r: Singende Engel (illuminierte Initiale); c: fol. 1v: möglicherweise singender Handwerker (Ausschnitt aus einer ganzseitigen Illumination mit Darstellung eines Bergwerks); d: fol. 229v: singender Bettler (Federzeichnung). Mit Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek.

  • Definitionen für den Begriff „Volkslied“ in der Volksliedforschung

    Die Frage nach den konkreten Musikstücken, die von Personen außerhalb der höfischen und kirchlichen Sphäre gesungen wurden, gestaltet sich schwierig. Die von breiten Volksschichten tradierte Musik wird im allgemeinen Sprachgebrauch gerne als „Volksmusik“ oder – wenn es sich dabei um Vokalmusik handelt – als „Volkslied“ bezeichnet. In der frühen Volksmusikforschung galten gerade das 15. und 16. Jahrhundert als Blütezeit des Volkslieds, da man einen Großteil der überlieferten Lieder als solche klassifizierte. Allerdings veränderte sich der Blick in die Vergangenheit mit der bis heute eifrig geführten Diskussion darüber, welche Eigenschaften ein Volkslied erfüllen sollte, was also ein Volkslied überhaupt ausmache.[4]

    Während man zu Beginn des 19. Jahrhunderts zunächst relativ wahllos geselliges Liedgut sammelte, wurden mit der Zeit verschiedene Kriterien etabliert, um das Volkslied von anderen Liedern zu unterscheiden. Diese beziehen sich einerseits konkret auf die Faktur des Liedes und betreffen die Thematik, die sprachliche Gestaltung und Wortwahl sowie den formalen Aufbau des Liedtexts, was sich auf musikalischer Seite mit einer einfachen und eingängigen Melodie mit geringem Tonumfang spiegeln sollte. Zum anderen wurde neben der unumstößlich vorausgesetzten mündlichen Überlieferung der Lieder als das wichtigste Merkmal des Volkslieds entweder die Art der Entstehung – aus dem Volk heraus,[5] daher ohne bekannten Autor – bzw. die Art der Rezeption – nicht allein wiederholend (reproduzierend), sondern schöpferisch umbildend – bestimmt.

    Der Wiener Volksliedforscher Josef Pommer (1845–1918) stellte die sogenannte „Produktionsthese“ auf, die für das Volkslied eine notwendige Entstehung im Volke voraussetzt. Zwar geht auch Pommer davon aus, dass ein Einzelner es gedichtet hätte, doch da das Lied vollkommen dem Gedankenkreis einer Gruppe von Menschen entspräche und ohne jeglichen Anspruch auf literarische Wirkung geschaffen wäre, könne es vom Volk aufgenommen und weitergegeben werden.[6] Der Begründer der modernen deutschen Volksliedforschung John Meier (1864–1953) formulierte dagegen die sogenannte „Rezeptionstheorie“, die das Entstehen eines Volkslieds allein der Rezeption durch das Volk zuschreibt. Es sei vollkommen egal, ob das Lied einen Verfasser besitze, aus welchen Kreisen dieser stamme und unter welchen Voraussetzungen und mit welchen Absichten das Lied entstanden sei.[7] Die weiteren Forschungs- und Definitionsansätze wandten sich vermehrt einem enger gefassten Liedrepertoire der jeweiligen Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit zu. Stichworte blieben aber weiterhin Oralität, Popularität, Variabilität, daneben die langwährende Tradition (Anciennität und Persistenz).[8]

    In Bezug auf die Liedproduktion im späten 15. und frühen 16. Jahrhundert einigte man sich in der musikwissenschaftlichen Forschung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf den Konsens, die eingebürgerte Nomenklatur weiterhin zu verwenden, jedoch ausgewählte Konnotationen des Begriffs „Volkslied“ – wie etwa eine soziale Verortung der Lieder – auszublenden.[9] Damit nahm man in Kauf, dass Liedsätze mit vermutlich aus dem höfischen Milieu stammenden Texten, die von Komponisten vertont wurden, also der musikalischen Elite angehörten, als Volkslieder galten, obwohl oftmals die von der Volksmusikforschung geforderten Kriterien orale Verbreitung, Popularität und Variabilität nicht nachgewiesen werden konnten. Ein Beispiel, das die Verwirrung in Bezug auf den Umgang mit den Begrifflichkeiten dokumentiert, stellt das Lied Innsbruck ich muss dich lassen dar (» I. Isaac’s Amazonas, Kap. Innsbruck, ich muss dich lassen), das in der musikwissenschaftlichen Literatur zwar nach der Textgestaltung als Hofweise bezeichnet wird,[10] jedoch seit der Aufnahme in Ludwig Uhlands Alte Hoch- und Niederdeutsche Volkslieder (1845) und zahlreichen sich anschließenden Veröffentlichungen in das allgemeine Bewusstsein in erster Linie als Volkslied eingegangen ist.[11] Und tatsächlich treffen sehr viele der rezeptionsbezogenen Kriterien für das Volkslied (Verbreitung, Variabilität und Anciennität) sowohl im 16. als auch erneut im 19. und 20. Jahrhundert auf das Lied zu. Erst in jüngster Zeit stellte Nils Grosch die Anwendung des Begriffs auf Liedzeugnisse des 15. und 16. Jahrhunderts sogar gänzlich in Frage.[12]

    Die Definitionsschärfe des Begriffs „Volkslied“ hat folglich gegenüber den zuvor genannten Bestimmungen heute sogar weiter abgenommen und die Volkslieder des 15. und 16. Jahrhunderts definieren sich vor allem in Bezug auf eine einstimmige Melodie (die jedoch häufig nur im mehrstimmigen Satz vorliegt:  » B. Kap. Einstimmige Weise – mehrstimmiges Lied) und in Abgrenzung zu dem anderen großen Liedtypus der Zeit, der mit dem nicht weniger umstrittenen Begriff „Hofweise“ bezeichnet wird. Versteht man unter „Hofweise“ eher ein neu entstandenes Lied, so bezeichnet man als Volkslieder bereits bekannte, ältere und häufiger gesetzte Liedmelodien. Zeigt die Liedführung der Hofweise oft einen großen Ambitus und komplexere rhythmische Formungen, so sind Volkslieder im Gegensatz dazu durch geringen Ambitus und klare rhythmische Struktur bestimmt. Ebenso verhält es sich mit den Texten der Lieder: Inhalt, Textstruktur und Wortwahl der Hofweise sind elaboriert, während sich das Volkslied in allen diesen Bereichen durch Schlichtheit auszeichnet. Vor allem im Verlauf des 16. Jahrhunderts treten jedoch abseits der charakterisierten noch weitere Liedformen auf, die keinem der beiden Genres zuzusprechen sind, sie fallen aber aus dem zeitlichen Rahmen dieser Betrachtung.

    Nicht zuletzt am Beispiel des 19. Jahrhunderts hat man gelernt, dass Schlichtes nicht gleichbedeutend mit „einfacher Herkunft“ ist. Viele der Lieder, die heute als „Alte Volkslieder“ in Sammlungen erscheinen,[13] stammen nicht aus dem 15. Jahrhundert, der vermeintlichen Blütezeit des Volksliedes, sondern wurden im 19. Jahrhundert komponiert bzw. zumindest manipuliert, etwa von Komponisten wie Johannes Brahms oder Volksliedforschern und -sammlern wie Anton Wilhelm von Zuccalmaglio. Im weltlichen Bereich stellen solche Lieder heute einen Großteil dessen dar, was wir als deutschsprachige Volkslieder bezeichnen.

    Die weiteste Verbreitung unter den Liedern des 15. und 16. Jahrhunderts erreichten wohl vor allem geistliche Lieder, die zum Teil mit der Bindung an das überregional gültige Repertoire an liturgischen Gesängen und Ritualen über den Entstehungskreis hinaus wirken konnten (» B. Geistliches Lied). Diese Lieder nahmen in ihrer Funktion und in ihrer Verwendung eine den weltlichen „Volksliedern“ sehr ähnliche Stellung ein (» B. Kap. Rufe und Leisen und » B. Kap. Umzüge, Wallfahrten, Geißlerlieder). Immer wieder erschienen weltliche Lieder in geistlichen Kontrafakturen; seltener wurden geistliche Lieder auf einen neugedichteten weltlichen Text gesungen. Die Grenze zwischen geistlichem und weltlichen Lied war für die Zeitgenossen sicherlich eine fließende und oftmals nicht einmal wahrgenommene, was häufig in Kontrast zu der Art und Weise steht, wie sich die Forschung diesem Gegenstand nähert.

  • Beginn einer Spurensuche

    Neben der Problematik der unscharfen Definition dessen, was ein Volkslied sein soll, stellt eine der Hauptforderungen an das Repertoire, die orale Überlieferung, die größte Schwierigkeit für die Forschung dar. Wie sollte es möglich sein, ein Liedrepertoire des späten Mittelalters zu erforschen, zu dessen Eigenschaften es zählt, mündlich überliefert zu werden? Außerdem ist ein Charakteristikum der mündlichen Liedüberlieferung die Variabilität von Liedtext und Melodie, die häufig so weit geht, dass nicht einmal eine stabile Verbindung dieser zwei Liedkomponenten vorausgesetzt werden kann. Diese Eigenschaft widerspricht sogar einem allgemein gebräuchlichen Liedbegriff, der das Lied als Einheit von Text und Melodie ansieht.

    Ein Beispiel für die lückenhafte Dokumentation, die uns diese Liedtradition in losen Mosaiksteinen präsentiert, ist das im deutschen Sprachraum als Ach Elslein liebes Elselein bekannte Lied. Als Einheit von Text und Musik ist dieses Lied erstmals in einem vierstimmigen Liedsatz von Ludwig Senfl (» G. Ludwig Senfl) dokumentiert. Doch bereits aus dem 15. Jahrhundert stammen einzelne, geographisch gestreute Funde, die Ähnlichkeiten mit dem Melodieverlauf des späteren Liedes besitzen und Hinweise auf den Text liefern. Das früheste dieser Zeugnisse stammt aus einer Handschrift aus Vyšehrad, die um 1455 datiert wird (» CZ-Pnm Vysehrad 376, fol. 39v.). Dort ist eine dem Elslein-Lied sehr ähnliche Melodie mit dem Text „Gaudeamus pariter omnes et singuli“ notiert. Eine Textstrophe, die später aufgezeichneten Textversionen zumindest inhaltlich nahe steht, erscheint im Kontext eines Falkenliedes im sogenannten Königsteiner Liederbuch um 1470 (» D-B Ms. germ. quart 719, fol. 142r [Nr. 82]). In den Saganer Stimmbüchern (» PL-Kj Berol. Mus. ms. 40098, in älterer Literatur als „Glogauer Liederbuch“ bezeichnet), die um 1480 im Augustinerstift  Żagań (zwischen Cottbus und Wrocław im heutigen Polen gelegen) geschrieben wurden, taucht die Melodie etwas verändert erneut auf, nun bereits als Discant in einem dreistimmigen Satz und in Verbindung mit dem Textincipit „Elzeleyn lipstes Elzeleyn“.[14] Erst über vierzig Jahre später, in einer Lautentabulatur von Hans Judenkünig (» Ain schone kunstliche underweisung, Wien: Singryener 1523), erscheint der nächste sichere Hinweis auf die Existenz des Liedes.[15] Die drei intabulierten Stimmen sind bereits aus Senfls Satz übertragen, der in Vokalnotation erst einige Jahre später in einer Basler Handschrift (erneut allein mit Textincipit) und 1534 schließlich in einem Druck greifbar ist, wo die Melodie erstmals mit einem vollständigen Text überliefert ist.[16] Die weitere Verarbeitung des Liedes in mehrstimmigen Sätzen anderer Komponisten scheint sich meist auf Senfls Vorlage zu beziehen, so dass die mündliche Überlieferung hier in den Hintergrund getreten scheint.[17]

    Die spärliche Dokumentation der Text- und Musikbausteine von Ach Elslein liebes Elselein im 15. und frühen 16. Jahrhundert, die in einem starken Gegensatz zu der hier nicht ausgeführten Fülle an Belegen des textlich und melodisch weitgehend stabilen Liedes ab dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts steht, führt die Probleme der Dokumentation von überwiegend mündlich überlieferten Liedern aus dem 15. Jahrhundert vor Augen: Wie weit können wir den sehr späten Belegen von Liedern Glauben schenken? Dokumentieren Sie eine über Jahre mündlich am Leben erhaltene Tradition oder gaukeln gebräuchliche Melodie- und Textbausteine wie auch die Persistenz von geistlichen Melodien, die möglicherweise Ausgangspunkte für weltliche Lieder bildeten, eine Liedtradition vor, die in dieser Weise nie existierte? Im Zentrum dieses Beitrags wird daher nicht „das Volkslied des 15. und 16. Jahrhunderts“ stehen. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, mit einer vielgestaltigen Spurensuche den Gegenstand einzukreisen und sich ohne zu eng gesetzte Definitionsgrenzen dem zuzuwenden, was an weltlichen Liedern vor allem abseits der bekannten Liedsammlungen und außerhalb der Quellen aus prägenden Komponisten- und Dichterkreisen der Zeit überliefert ist. Die Suche richtet sich auf Lieder, die eher zufällig als gezielt aufgezeichnet wurden und zumindest nicht eindeutig einem höfischen Kontext zuzurechnen sind – sei es aufgrund des Liedtextes oder der Art der Überlieferung. Der Schwerpunkt der Betrachtungen soll im Folgenden auf Liedzeugnissen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts liegen, da diese Zeit die Schnittstelle zwischen der früher so benannten  „Blütezeit des Volkslieds“ (16. Jahrhundert) und dem in diesem Projekt betrachteten Zeitraum darstellt.

    Auf dem Weg der Entdeckung dieser oft in einem ganz unmusikalischen Kontext überlieferten und sich der zufälligen und beiläufigen Niederschrift verdankenden Lieder kann ein Repertoire zu Tage gefördert werden, das in manchen Fällen in seiner Wirkung und Funktion dem näher steht, was wir den Definitionen nach als Volkslied bezeichnen würden, auch wenn es dem allgemeinen Verständnis nach heute wahrscheinlich keinen Eingang in eine Volksliedsammlung fände. Andere Spuren könnten sich allerdings in Bezug auf die Volksliedsuche auch als falsche Fährten, als Trugspuren erweisen.

  • Streuüberlieferung von Liedern aus dem monastischen Umfeld (A-Wn Cod. 3027, CZ-VB Ms. 28)

    Im 15. und auch noch weit in das 16. Jahrhundert hinein stellten Klöster und geistliche Residenzen die primären Träger von Wissenschaft und Bildung dar. Die Fähigkeit des Lesens und Schreibens sowie insbesondere die musikalische Literalität waren hier deutlich verbreiteter als in anderen Gesellschaftskreisen. Vor diesem Hintergrund ist es wenig überraschend, dass eines der ältesten bekannten Liebeslieder aus dem Mittelalter, Iam, dulcis amica, venito, in einem Codex aus dem Umfeld des Salzburger Domkapitels aufgezeichnet wurde.[18] Auch andere Liedsammlungen mit geistlichem, aber auch weltlichem Repertoire stammen aus dem monastischen Umfeld, wie etwa die Saganer Stimmbücher (» PL-Kj Berol. Mus. ms. 40098).

    Die heute in der Österreichischen Nationalbibliothek befindliche Handschrift » A-Wn Cod. 3027 mit vermischtem Inhalt wurde teilweise von einem unbekannten Schreiber in Passau geschrieben, in Abschnitten aber auch von einem Mönch des Klosters Mondsee, wo sie bis 1791 verwahrt wurde. Die Handschrift enthält neben Sprüchen, Gebeten und Schauspielen Aufzeichnungen von einigen geistlichen sowie weltlichen Liedern, die teilweise  mit Notation versehen sind.[19] Der Mondseer Schreiber ist der Benediktiner Johannes Hauser, der von 1474 bis 1518 im Kloster lebte, dort als Schreiber und Leutpriester (plebanus) wirkte und wahrscheinlich auch Stiftsbibliothekar und Schulmeister war.[20] Zwar kann keine der Liedaufzeichnungen direkt der Hand Hausers zugeschrieben werden, längere Einträge von seiner Hand finden sich jedoch stets in unmittelbarer Nähe der Lieder, so dass deren Niederschrift in Mondsee naheliegt.[21]

    Auf den Folios 214v–215v ist das Lied Wer Els wer eingetragen. Die in Mensuralnotation aufgezeichnete Melodie geht der Textaufzeichnung voraus. Die Linien des Notensystems wurden nicht mit einem Rastral gezogen, sondern der Schreiber fertigte mit einem Lineal Gruppen von vier bzw. fünf Linien in weiten Abständen an, denen er bei Bedarf eine weitere mit der Hand gezogene Linie hinzufügt. Die Notenschlüssel sind im Verhältnis dazu sehr klein und nicht immer eindeutig positioniert, so dass das Notat nicht einfach zu lesen ist. In den untenstehenden Notentext wurden zudem zwei Pausen eingefügt, die für den Liedverlauf notwendig erschienen (» Notenbsp. Wer Els wer).

     

    Notenbsp. Wer Els wer

    Notenbsp. Wer Els wer

    Das Lied Wer Els wer in einer Transkription nach der Handschrift » A-Wn Cod. 3027, fol. 214v–215v. Die rot markierten Pausen wurden von der Autorin eingefügt und sind nicht in der Handschrift notiert.

     

    Text von Wer Els wer

    Wer els wer vnnd prauch guet fleys
    das wier das jar
    nit reycher werdenn,
    Dar zwe ich dier auch helffn will,
    tag vnd nacht
    auff diser erdenn
    Wer els wer so wer ich auch,
    kain aygens haus
    wo(e)ll wir vns v(e)ber kumenn
    prichstu dye ho(e)ffen, so prich ich die krieg,
    wie es sich fuegt
    so hu(e)tt dich vor dem frumen

    Wer els wer vnnd brauch gu(e)tt fleys
    Das vnsser weyss
    kaÿm menschenn gevalle
    Dar zwe ich dir auch helffenn will,
    zw aynem zyll
    mit reychem schalle
    Wer els wer wie ichs maÿnn,
    halt mich nit allain
    zw aÿnem eelichenn manne
    Der dyr gefelt und dich dan pitt
    ver sachs ym nit,
    so kemb mir vön ander

    Wer els wer das ratt dir
    alle wochenn
    zwier pade vnd sey wolle
    Dar zwe ich dier auch helffenn wil,
    tag vnd nächt
    wie ich solle
    Wer els wer dan kauf kain hoff
    … kain schoff
    der kwe dorfstw nit melchnn
    vnd wer wier vnsser gutt verzeren
    so vor wir dahin
    mit anderen gueten gesellen.

    Der Inhalt der ersten Strophe dieses ironischen Liedtextes (der mit dem Elselein-Lied der Saganer Stimmbücher nichts zu tun hat) könnte in etwa folgendermaßen übertragen werden: „Wehre dich, Else, mit deinem ganzen Fleiß dagegen, dass wir in diesem Jahr reicher werden. Dabei will ich dir auch gerne Tag und Nacht helfen. Wehre dich, Else, so will ich mich auch dagegen wehren. Kein Haus soll unser eigen werden. Wenn du die Töpfe zerbrichst, so zerbreche ich die Krüge, wie es sich fügt. Und hüte dich vor dem Tüchtigen!“

    Im Liedtext wird das Verhältnis von Mann und Frau angesprochen, dennoch entspricht er nicht dem innigen Liebesliedtypus, der oftmals mit dem Volkslied verbunden wird. Es handelt sich vielmehr um ein satirisches Lied. Der Sprecher, der aus der Rolle des Ehemanns berichtet, bedient sich des rhetorischen Kunstgriffs der Ironie, um eindeutige Elemente eines Liebesliedes in ihr Gegenteil zu verkehren. Das positiv besetzte „prauch gut fleiß“ wird ins Komische gewendet, da die angesprochene Else all ihren Fleiß aufwenden soll, damit das Ehepaar ja nicht reicher wird. Die Unterstützungszusage des Mannes ist im Liedtext in gleichermaßen ungewöhnlich auf das Zerbrechen des Geschirrs (Töpfe und Krüge) bezogen.[22] Auch eine häufig in der Liedliteratur zu findende Warnung, sich vor den bösen Klaffern zu hüten, erscheint völlig verdreht, da sich Else nun vor den frommen Menschen hüten soll: „So hütt dich vor dem frumen“. In der zweiten Hälfte der zweiten Strophe folgt sogar die unverblümte Ermunterung, doch auch einen weiteren Mann neben dem Ehemann zu erhören, da der Sprecher damit von der Ehefrau loskäme.

    Der Liedtext ist sehr klar gegliedert und symmetrisch gebaut,[23] was wohl die Eingängigkeit des Liedes unterstützte. Der Schreiber scheint den Text aus dem Kopf aufs Papier gebracht zu haben: Er ließ eine größere Lücke in der dritten Strophe, wo er sich nur an die reimenden Schussworte der Zeile erinnern konnte. Auch an weiteren Stellen könnten sich Fehler in die Erinnerung geschlichen haben: Das Reimschema scheint in der vorliegenden Abschrift nur in der zweiten Strophe verwirklicht.

    Obwohl nach meinem Wissen heute nur diese eine Quelle das Lied überliefert, finden sich an verschiedenen Orten Verweise, die belegen, dass es bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts hinein weit verbreitet gewesen sein muss. Das erste Zeugnis dieser Art weist erneut auf den österreichischen Raum als Wirkungskreis des Liedes. Im Jahr 1544 erschien ein in Nürnberg gedrucktes Liederbuch, das von Wolfgang Schmeltzl herausgeben wurde, der in Wien Schulmeister am Schottenstift war.[24] Im Vorwort der Sammlung schreibt dieser, dass er „den aller künstlichisten, eltisten, seltzamsten und besten Teutschen gesang, so ich im landt Osterreich und anderßwo, bekommen mügen“ gesammelt habe (» B. Lieder 1450–1520, Kap. Streuüberlieferung).[25] Der Druck ist heute besonders dafür bekannt, dass er das früheste Dokument für die Anwendung des Begriffs „Quodlibet“ auf ein Musikstück ist. Die Nummer VII des Drucks stellt einen bestimmten Typus eines solchen Quodlibets dar, der von Schmeltzl mit dem Zusatz „Fürt yede stymm jren eygen Text“ gekennzeichnet ist. Das bedeutet, dass in dieser Komposition nicht nur mehrere Liedmelodien übereinander geschichtet sind – was wir heute in erste Linie mit dem Begriff Quodlibet verbinden –, sondern zusätzlich innerhalb der einzelnen Stimmen eine Aneinanderreihung kurzer Ausschnitte von bekannten Liedmelodien stattfindet. Von Wer Els wer wird in diesem Satz allein am Beginn der Bassstimme (Secunda pars, T. 97f.) zitiert. Neben dem Text („Wer Els wer“) unterstreicht auch der markante Quintsprung des Liedbeginns das Zitat ( » Notenbsp. Schmeltzl, Wer Els wer).

     

    Erstaunlich ist, dass offensichtlich diese drei Wörter und Töne ausreichen, um bei einem breiten Publikum die Erinnerung an das zugehörige Lied wachzurufen. An keiner anderen Stelle innerhalb des Quodlibets oder auch der gesamten Sammlung wird sonst auf Wer Els wer zurückgegriffen.

    Ähnlich knapp ist auch ein zweiter Verweis auf das Lied gehalten, der sich zudem allein auf die textliche Ebene des Liedes bezieht. Er findet sich auf einem Flugblatt mit der Darstellung einer menschlichen Sonnenuhr, das von Peter Flötner (ca. 1485–1546) gestochen wurde und um 1540 datiert wird (» Abb. Menschliche Sonnenuhr).[26] Unterhalb des Holzschnitts ist ein erläuternder und interpretierender Text in Reimform in vier Kolumnen angeordnet.

     

    Abb. Menschliche Sonnenuhr

    Abb. Menschliche Sonnenuhr

    Um 1540 von Peter Flötner (ca. 1485–1546) gestochenes Flugblatt mit der Darstellung einer menschlichen Sonnenuhr und einem die Abbildung erläuternden und interpretierenden Text, welcher einen Tagesablauf beschreibt, der sich allein aus einer Abfolge von Essen und Ausruhen zusammensetzt.

    (Exemplar: Herzog Anton Ulrich-Museum Braunschweig, Pfloetner WB 3.11: http://kk.haum-bs.de/?id=p-floetner-wb3-0011. Mit Genehmigung.)

    Ganz rechts unten in der letzten Kolumne ist in einer abgesetzten Zeile zu lesen: „Wer Els wer/ das wir nit Reich wern*“. Es handelt sich dabei um eine Zusammenstellung aus der ersten und der dritten Kurzzeile des Liedes. Unklar ist, welche Rolle das Sternchen (oder handelt es sich um einen hoch positionierten Punkt?) einnimmt und weshalb der Liedbeginn so unvermittelt in diesem Kontext erscheint. Das verbindende Element des Liedes zu Holzschnitt und Kommentar ist sicherlich in der Satire auf einen genussorientierten und müßigen Lebenswandel zu suchen.

    Eine etwas verkürzte Version des Liedtextes Wer Els wer, die wahrscheinlich auch Flötner bekannt war, taucht in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts erneut im Druck auf. Dieses Mal als abschreckendes Beispiel innerhalb einer moralisierenden Schrift wider das Karten- bzw. Glücksspiel, das den bildhaften Namen Spilteufel trägt.[27] Das kurze Gedicht lautet in diesem Umfeld:

    Wehre/ wehre Else wehre/
    Das wir nicht zureich werden.
    zerbrich du Krüse [= spätere Auflage: Krüge]/ ich die töpff/
    So schlahen wir uns umb die köpff.
    Verspiel du den mantel ich den rock/
    So gerathen wir an den Bettelstock.

    Es lassen sich zwar übereinstimmende inhaltliche Elemente und sprachliche Wendungen in diesem Text wiederfinden, die Reduktion und die Vereinfachung des Liedtexts sind allerdings einschneidend: Sie betreffen den Textgehalt, da der moralisierende Zeigefinger nun ausschließlich gegen das Laster des Spielens gerichtet ist, das im ursprünglichen Text nicht einmal explizit genannt wird, als auch die formale Strophengestalt (alle Kurzzeilen sind eliminiert, alle Zeilen sind ausschließlich im Paarreim verbunden). Aufgrund der veränderten Strophengestalt und Silbenzahl ist es denkbar, dass dieser Text entweder auf eine adaptierte Version der bekannten Melodie gesungen wurde (zumindest die Wiederholung müsste ausgelassen werden) oder aber ausschließlich der Sphäre der Leseliteratur angehörte.

    In der Handschrift A-Wn Cod. 3027 ist neben geistlichen Liedern (» B. Geistliches Lied, Kap. Patris sapientia) auch ein weiteres weltliches Lied aufgezeichnet, dem sogar ein einfacher dreistimmiger Satz hinzugefügt ist. Es ist das Hans Hesselloher zugeschriebene Lied Von üppiglichen Dingen, aus dem ebenfalls in einem der Schmeltzl’schen Quodlibets zitiert wird (» B. Lieder 1450–1520, Kap. Vom Spruchsang zum Zeitungslied).

    Einer anderen monastischen Quelle verdanken wir die früheste einstimmige Überlieferung eines Liebesliedes, das vom mittleren 15. bis ins 17. Jahrhundert bekannt war: Nun laube, Lindlein, laube (» Notenbsp. Nun laube, Lindlein, laube). Die Handschrift » CZ-VB Ms. 28 der südböhmischen Zisterzienserabtei Viššy Brod (Hohenfurt), geschrieben im 3. Viertel des 15. Jahrhunderts, enthält unter 79 deutschen geistlichen Liedtexten, die oft mit Noten versehen sind, als Nr. 52-57 sechs ausdrücklich als „weltliche rayen“ (Reigen) bezeichnete Gesänge, also Kontrafakte weltlicher Tanzlieder. Nr. 52, O Sünder, grosser Sünder wurde bereits von Wilhelm Bäumker als Kontrafakt des im 16. Jahrhundert häufiger überlieferten Liedes Nun laube, Lindlein, laube erkannt.[28] (» Notenbsp. O Sünder, grosser Sünder).

     

     

    Bäumker wusste nicht, dass dieselbe Melodie mit der Textmarke „Grune Linden“ auch als cantus firmus eines dreistimmigen Messordinariumszyklus im Trienter Codex » I-TRbc 88 (um 1460) erscheint. Außerdem ist der Melodieanfang mit den Worten „Nun lobe linde lobe“ in einem Quodlibet (Nr. 117) der Saganer Stimmbücher (um ca. 1480 ) zitiert.[29] Dieselbe erste Zeile erscheint im 16. Jahrhundert auch in anderen Quellen, während der gesamte fünfstrophige Text nur in kuhländischem (nordmährischem) Dialekt überliefert ist; die erste Strophe der hochdeutschen Fassung bei Erk-Böhme lautet:

    Nun laube, Lindlein, laube,
    Nicht länger ich’s ertrag;
    Ich hab mein Lieb verloren,
    Hab gar so traurig‘ Tag.[30]

     

     

    Es ist zu vermuten, dass dieses „weltliche Reigenlied“ aus Schlesien oder Mähren stammt. Die Melodie erschien ferner als Kantionalsatz mit dem protestantischen Kontrafakturtext „Nun lobet mit Gesängen den Herrn Gott allesamt“ im » Schlesisch Singebüchlein von Valentin Triller (Breslau 1555) und in den » Musae Sioniae von Michael Praetorius (Teil 7, Wolfenbüttel 1609).

  • Streuüberlieferung von Liedern im Kontext der Universität

    Ein soziales Umfeld, das ebenso wie Kirche und Kloster von einer Elite bestimmt wurde und das zahlreiche schriftliche Dokumente und damit auch beiläufige Liedaufzeichnungen in gattungsfremdem Kontext hervorgebracht hat, war die Universität. Sie war einer der Orte, an denen das Musizieren teils als Ausbildungselement, teils zur reinen Unterhaltung gepflegt wurde. Ein Beispiel für die bildungsbezogene Musikpflege stellt der sogenannte Codex St. Emmeram (» D-Mbs Clm 14274) dar, dessen Hauptteil von Hermann Poetzlinger während seines Aufenthalts an der Universität Wien angefertigt wurde (» G. Hermann Pötzlinger). Der Codex enthält vorwiegend polyphone Musik mit lateinischen Texten. Bei fünf Kompositionen sind weltliche deutschsprachige Lieder als Melodien eingeflochten oder als mögliche Vortragstexte angegeben. Drei davon sind allerdings Kontrafakte französischer Chansontexte, die beiden anderen sind Autorenlieder des Mönchs von Salzburg und Oswalds von Wolkenstein (»B. Oswalds Lieder, » G. Oswald von Wolkenstein), die in Universitätskreisen in Umlauf gekommen waren:[31]
    Nr. 1:Qui latuit in virgine / (Je suis povere de liesse) / (Du pist mein hort). Die Tenormelodie dieser Komposition von Guillaume Du Fay war eine offenbar verbreitete basse danse. Das dreistimmige Stück trägt in der Konkordanzhandschrift » I-TRbc 87 (fol. 109r) das Incipit „Du pist mein hort“: wohl eine deutsche Kontrafaktur der Tenormelodie.
    Nr. 114: Veni rerum conditor. Die Tenormelodie entspricht der „Taghorn“ benannten Weise des Mönchs von Salzburg mit dessen (Kontrafaktur-?)Text „Gar leis, in sanfter Weis“.[32]
    Nr. 162: Crist ist erstanden. Dreistimmiges geistliches Kontrafakt des Liedes Ain Jetterin junck frisch frei früt von Oswald von Wolkenstein. (» B. SL Christ ist erstanden; » Hörbsp. ♫ Christ ist erstanden).
    Nr. 182: Wo ich in aller werld hin var, so ist mein hertz alzeit bey dir. Der wohl ursprünglich französische Text dieser dreistimmigen Komposition von „Roller“ (Johannes Roullet) ist nicht notiert; der deutsche Zweizeiler – „Volkslied“ oder höfisches Minnelied? – ist am Schluss angefügt.
    Nr. 216: Ecce panis angelorum / Umb im pad. Geistliches Kontrafakt einer wahrscheinlich französischen dreistimmigen Chanson von (Johannes) „Roullet“. Der deutsche Textanfang („Im Bad herum“?) beim Contratenor besteht nur aus diesen drei Worten.

    Eindeutig der Unterhaltung diente ein Lied, das sich in einem Codex der Stiftsbibliothek in Melk (» A-M Cod. 869) erhalten hat. Es handelt sich bei dem Band um ein Konvolut aus verschiedenen Handschriften, die wohl erst im 19. Jahrhundert zusammengebunden wurden. Bei einigen der einzelnen Abschnitte der Handschrift, die auf die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts zu datieren ist, lassen sich deutliche Bezüge zur Universität Wien nachweisen. So könnte es möglich sein, dass auch das ursprüngliche Einzelblatt (fol. 50) mit der Textaufzeichnung des Liedes Es fur ein hubsche vischerin nach vischen auff einen se, das aus dem 15. Jahrhundert stammt, diesem Kontext zuzurechnen ist. Es handelt sich um ein Lied, das metaphorisch mit Bildern und Begriffen der Fischerei davon berichtet, wie eine Frau einen Jüngling verführt (» Notenbsp. Ich weiß ein hüpsche Fraue Fischerin).

    Die Aufzeichnung im Melker Codex » A-M Cod. 869  um 1470/80 bildet die älteste erhaltene Quelle des Fischerin-Lieds,[33] auch wenn es Hinweise darauf gibt, dass das Lied bereits zu einem früheren Zeitpunkt entstand.[34] Neben der Niederschrift in Melk ist das Lied in späteren Quellen aus dem 16. Jahrhundert überliefert. Zu diesen zählen ein » Einblattdruck mit einer niederdeutschen Fassung, der vermutlich in Rostock gedruckt wurde ([L. Dietz] um 1515), und ein wahrscheinlich ebenfalls aus dem zweiten Jahrzehnt stammender » Augsburger Einblattdruck.[35] Der erste Druck ist ein Beispiel für die erstaunliche Mobilität solcher Lieder, der zweite tradiert eine Fassung, die im 16. Jahrhundert am weitesten verbreitet gewesen zu sein scheint. Es fällt auf, dass die Textgestalt der unterschiedlichen Textzeugen stark variiert. Das betrifft sowohl die Zeilenzahl (in der Melker Fassung zehn, in den anderen elf Zeilen) als auch die Anzahl der Strophen (im Rostocker Druck ist das Lied auf vier Strophen im Gegensatz zu fünf in den anderen Quellen zusammengefasst). Zudem überliefert keine der Quellen eine Melodie für das Lied. Dass überhaupt eine Melodie zu diesem Lied existierte, beweist eine geistliche Kontrafaktur, die wie das weltliche Pendant als Einblattdruck » Das Lied von der Fischerin gaystlich zu singen in Augsburg um 1525 gedruckt wurde und auf dem angegeben ist, dass das Lied „in dem weltlichen thon“ zu singen sei.[36] Den einzigen Hinweis darauf, wie dieses Lied geklungen haben könnte, gibt die Quodlibet-Sammlung von Wolfgang Schmeltzl (vgl. Kap. Streuüberlieferung von Liedern aus dem monastischen Umfeld (A-Wn Cod. 3027, CZ-VB Ms. 28) .

    Das Lied der Fischerin erscheint dort wie Wer Els wer in einem der Quodlibets, in denen jede Stimme einen eigenen Text besitzt und auch innerhalb der Stimmen Liedbausteine in schneller Abfolge aneinandergereiht werden. Es ist das Quodlibet Nr. 7, in dem gleichzeitig in Alt und Tenor Liedzeilen aus dem Lied der Fischerin zitiert werden, denen ein weiteres Zitat an späterer Stelle im Bass folgt. Da viele der weiteren bekannten Liedmelodien gemeinsam mit den zugehörigen Textzeilen in diesem Quodlibet verarbeitet sind, lässt sich der Versuch unternehmen, das Lied der Fischerin zumindest in Abschnitten grob zu rekonstruieren. Auch wenn die rhythmische Gestaltung und die Tonlage der Melodie sehr unsicher sind, könnten die Zeilen 1–4, 7–8, und 10 (in der Fassung des » Augsburger Einblattdrucks) in etwa folgendermaßen ausgesehen haben:

    Das Singen von derartig spöttisch-erotischen Liedern war jedoch im Universitätskontext nicht immer erwünscht: In den um 1500 aufgezeichneten Statuten einer Studentenburse in Freiburg im Breisgau[37] wird das Singen von schlüpfrigen und weltlichen Liedern („cantilene lascive vel mundane“) verboten, da schlechte Unterhaltung die guten Sitten verderbe. Bei Verstoß gegen dieses Verbot wie auch das jeglicher Musikinstrumente (mit Ausnahme des Clavichords) drohte ein Tag Weinentzug. (» Abb. Singende Studenten).

     

    Abb. Singende Studenten

     Abb. Singende Studenten

    Miniatur aus den Statuten einer Studentenburse in Freiburg im Breisgau, um 1500. © Universitätsarchiv der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, Coll. Sap. 2a, fol. 35r.

    Auf der das Liedverbot illustrierenden Miniatur singen zwei Studenten aus einem Notenblatt mit Mensuralnotation. Darauf sind die nicht ganz verständlichen Worte „Wer ls rycz dz fruntliche herz“ zu entziffern, die jedenfalls auf ein volkssprachliches weltliches Lied schließen lassen. Ein dritter Student scheint zum Gesang zu tanzen. Der Blick der drei Dargestellten richtet sich auf zwei Instrumentalisten mit Laute (» Hörbsp. ♫ Laute) und Schalmei (» Hörbsp. ♫ Schalmei) auf der gegenüberliegenden Seite der Handschrift. Die Universität Freiburg wurde 1457 von Erzherzog Albrecht VI. von Österreich gegründet.

    (Reproduktion nach dem Faksimile: Johannes Kerer, Statuta Collegii Sapientiae zu Freiburg im Breisgau 1497, hrsg. von Josef Hermann Beckmann, übersetzt von Robert Feger, Bd. 2. Lindau-Konstanz 1957.)

     

  • Trugspuren

    Das Charakteristikum der Streuüberlieferung ist für sich genommen selbstverständlich kein Garant dafür, dass Lieder notwendigerweise im Alltag weiter Bevölkerungsschichten verankert gewesen wären. Unter den verstreuten Funden in österreichischen Bibliotheken befinden sich auch Lieder, die an anderen Orten sehr wohl im Kontext von dezidierten Liedsammlungen auftreten. Dennoch stellt sich die Frage, was die Streuüberlieferung über die Lieder aussagen könnte.

    Der Codex » A-Gu Cod. 1405, eine Handschrift mit vorwiegend kirchlichen lateinischen Schriften aus dem 14. und 15. Jahrhundert, enthält zwei in den Band eingeklebte Pergamentblätter mit der Aufzeichnung von zwei Liedern (fol. 130d und 132cd). Beide sind mit Notation versehen und wurden von Hellmut Federhofer in Übertragungen und mit einer Abbildung veröffentlicht.[38] Federhofer konnte feststellen, dass eines der beiden Lieder Textkonkordanzen im sogenannten „Liederbuch der Clara Hätzlerin“ (» CZ-Pn X A 12) und verwandten Handschriften (u.a. Bechsteins Handschrift » D-LEu Ms. Apel 8 [39]) aufweist.[40] Bemerkenswert an der Grazer Quelle A-Gu Cod. 1405 ist, dass sie die beiden Lieder Das wetter het verkeret sich und Ich trag ein hercz, das ist genaigt als einzige der genannten Quellen mit Melodie überliefert.

     

    Das wetter het verkeret sich ist eine Liebesklage, in der der Natureingang die Gemütsverfassung des Protagonisten widerspiegelt (» Notenbsp. Das wetter het verkeret sich).[41] Das Lied besitzt sicherlich keine Charakteristika, die eine Bezeichnung als „Volkslied“ rechtfertigen würden; es stellt ein Zeugnis der urbanen Kulturpflege dar.[42] Dennoch ist die geographische und zeitliche Streuung der Fundstellen[43] (von Mitte des 15. Jahrhunderts bis um 1530) bemerkenswert.

    Ein ähnliches Beispiel bietet die Handschrift » A-Wn Cod. 4989 der Österreichischen Nationalbibliothek aus dem 14. und frühen 15. Jahrhundert, die über das Kloster Mondsee nach Wien gelangte.[44] Den Hauptteil der Sammelhandschrift bilden verschiedene lateinische Traktate, aber auf fol. 154v ist das Lied Frewtleichen hab ich geschaiden mich mit Notation der Melodie eingetragen (»Notenbsp. Frewtleichen hab ich geschaiden mich).[45] Der Eintrag dürfte bereits aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts stammen und ihm folgt noch auf derselben Seite – von anderer Hand und mit dunklerer Tinte geschrieben – ein zweistimmiges Venerari matrem sanctam, das in schwarzer Mensuralnotation notiert ist. Das deutschsprachige Lied ist mit einem instrumentalen Vorspiel aufgezeichnet, was daraus ersichtlich wird, dass die Zuordnung von Textabschnitten zu den Noten mithilfe senkrechter Striche angegeben ist. Ob Melodie und Text vollständig aufgezeichnet sind, ist zunächst unklar; die metrische Textgestaltung weicht in den ersten zwei Zeilen gegenüber den folgenden etwas ab. Mit wenigen Freiheiten ist es jedoch möglich, den Text der Melodie zu unterlegen.

    frewtleich[e]n hab ich geschaid[e]n mich
    von der liebst[e]n fraw[e]n mein.
    Die zeit von zeit die lenget sich,
    das ich so lang můz an sei sein.
    das machet mich an frewd[e]n swach,
    daz ich so lang vermeid[e]n můs.

     

    Auch dieses Lied besitzt melodielose Konkordanzen in Handschriften mit Liedabschnitten aus dem 15. Jahrhundert.[46] Die Textfassung weicht in diesen Handschriften an mehreren Stellen von derjenigen in der Wiener Handschrift ab. Vor allem das erste Wort erscheint übereinstimmend als zweisilbiges „Fruntlich“, so dass die metrische Anlage dieser Zeile mit den Folgezeilen übereinstimmt. Zudem stellt sich heraus, dass der in A-Wn Cod. 4989 überlieferte Text nicht einmal die gesamte erste Strophe des Liedes wiedergibt, es fehlen zwei Zeilen. In der Parallelüberlieferung umfasst der Liedtext sogar drei Strophen. Auch diese Liebesklage ist nicht als „Volkslied“ einzuordnen, sondern stellt ein weiteres Beispiel urbaner Liedkultur dar, wie sie vielleicht auch in Österreich gepflegt wurde.

  • Liedtexte mit Verweis auf Orte oder Ereignisse aus der Region Österreich

    Hinweise auf bestimmte Städte oder Regionen sind häufiger in Liedern zu finden, die von historischen Geschehnissen berichten. Rochus von Liliencron benannte diesen Liedtypus im 19. Jahrhundert als „historisches Volkslied“ und veröffentlichte eine materialreiche fünfbändige Sammlung von Texten solcher deutschsprachigen Lieder.[47] Da die unter diesem Namen veröffentlichten Lieder und Reden nicht mit der volkskundlichen Definition des Volksliedes übereinstimmen, wird das Repertoire heute unter dem Begriff der historisch-politischen Ereignisdichtung gefasst.[48] Die Neuprägung des Gattungsbegriffes war notwendig und für die Forschung äußerst hilfreich, um dieses Liedrepertoire dem inadäquaten Volksliedkontext zu entheben. Dennoch ist festzustellen, dass einige der historisch-politischen Lieder auch jenseits ihres Bezugs auf ein konkretes historisches Ereignis weit verbreitet wurden und daher vielleicht ein musikalisches Eigenleben besaßen. Dieses entwickelte sich aus einer produktiven Auseinandersetzung mit dem Liedmaterial. Das bekannteste Beispiel für eine derartige Aneignung ist der sogenannte Benzenauer. Das ursprüngliche Lied geht auf ein Ereignis nahe Kufstein im Jahr 1504 zurück. Der großen Verbreitung des Liedes, das auch häufig als Tonangabe zu finden ist,[49] folgte die Bearbeitung der Melodie für die Instrumentalmusik und der Benzenauer wurde im 16. Jahrhundert zu einem der Standardtänze in Sammlungen für Lautenmusik.[50]

    Aus dem 15. Jahrhundert sind einige weitere Lieder überliefert, die Ereignisse in der Region Österreich schildern.[51] So das Lied von König Ladislaus‘ Ermordung (1457) , Nun will ichs aber heben an, das jedoch erst aus einem Augsburger Flugblatt » Ein hüpsches lied von dem Künig Lasla um 1540 bezeugt ist.[52] Oder das Lied Ich wais ain haws, das haist Wildan, das davon berichtet, wie der damalige König Friedrich den Christoph von Wolfsau auf der Burg Wildon in der Steiermark 1441 belagerte.[53] Auch dieses Lied mit 24 vierzeiligen Strophen wird erst in einer Handschrift aus dem 16. Jahrhundert greifbar.[54]

    Große Bekanntheit in der Volksliedforschung erreichte das Lied Es liegt ein Schloss in Österreich, das sich nicht wie die vorausgegangenen Lieder auf ein konkretes Ereignis bezieht, sondern bekannte Erzählmuster aufgreift: Ein (zu Unrecht) zum Tode verurteilter Jüngling liegt im Kerker; der Versuch seines Vaters ihn freizukaufen schlägt fehl, und der Jüngling wird hingerichtet; sein Tod wird jedoch durch göttliches Eingreifen gerächt. Das früheste musikalische Zeugnis des Liedes ist ein dreistimmiger Satz in den Saganer Stimmbüchern (» PL-Kj Berol. Mus. ms. 40098, um 1480), der das Textincipit „Es leyt eyn schlos eyn österreich“ trägt. Da die im Cantus liegende Melodie jedoch nur geringe Ähnlichkeit mit den Melodieformen aus dem 16. Jahrhundert aufweist, ist das Verhältnis dieses Satzes zu der späteren Liedtradition unsicher.[55] Deren Zeugnisse setzen in den 1540er Jahren mit geographisch weit gestreuten Quellen ein. So erscheint in den in Antwerpen gedruckten » Souterliedekens 1540 zu einem Psalmlied die Tonangabe In oosten rijck daer staet een stadt und in der zweiten Auflage von Georg Forsters zweiter Liedsammlung (» Der ander Teil des aussbunds kurtzweyliger frischer Teudtscher Liedlein. Nürnberg: Johann Berg and Ulrich Neuber 1549) findet sich ein vierstimmiger Satz Es ligt ein schloß in Osterreich, das ist gar wol erbawet von Caspar Othmayr. Vor allem im 16. und 17. Jahrhundert tritt das Lied als Tonangabe, in Kontrafakturen und mit verschiedenen Melodien verknüpft in zahlreichen Quellen auf.[56] In einer Liedflugschrift um 1610 » Drey Schöne newe Weltliche Lieder lautet die letzte Strophe von Es ligt ein Schlößlein in Oesterreich:[57]

    „Wer ist der uns diß Liedlein sang/
    so frey gesungen hatte/
    das haben gethan drey Jungfräulein zart/
    zu wien wol in der Stadte.“

    Überhaupt erst aus dem Ende des 16. Jahrhunderts stammen Quellen, die ein Lied von den Bauern in St. Pölten überliefern.[58] In dem Lied wird eine Hochzeit besungen, zu deren Gästen Bauern und ein Schultheiß bzw. Richter zählen. In den unterschiedlichen Fassungen stehen dabei entweder die Bauern oder der Schultheiß im Fokus des Spottes. Neben einer reinen Textaufzeichnung ist das Lied auch mit einem einfachen vierstimmigen Satz überliefert, der Jacob Handl-Gallus (1550–1591) zugeschrieben wird.[59] Die Melodie dieses Satzes ist jedoch vermutlich in keiner Weise mit derjenigen verwandt, auf die das Lied ursprünglich – und nach der Vermutung des Volkskundlers Leopold Schmidt sogar bereits im 15. Jahrhundert[60] – gesungen wurde.

  • Kontexte des Singens

    In gleicher Weise spärlich und verhalten wie die Fundstücke zu mündlich tradierten weltlichen Liedern sind die schriftlichen Quellen in Bezug auf die Frage, zu welchen Gelegenheiten des Alltags im 15. Jahrhundert tatsächlich gesungen wurde. Besonders das Singen außerhalb der höfischen und kirchlichen Sphäre ist spärlich belegt. Wie bei der Frage nach dem Repertoire gilt wohl auch hier, dass Informelles und Alltägliches eben nur in Ausnahmefällen schriftlich festgehalten wurde. Nur über Umwege drangen solche Informationen in die Schriftlichkeit ein, beispielsweise dann, wenn gegen gewisse Praktiken Beschwerden geführt wurden. In Wiener Neustadt beschwerte man sich in den 1470er Jahren beispielsweise darüber, dass Bettler „auf den Freithöfen, vor den Kirchen, auf den platzen oder in den gassen“ singen würden.[61]

    Aus einigen Liedtexten geht hervor, dass das Tanzen häufig mit Singen verbunden war. Bereits die Eingangszeilen der Lieder Ich spring an disem ringe oder Mit Lust tritt ich an diesen Tanz signalisieren diese Verwendung. Der im ersten Lied genannte „ring“ in der Bedeutung „Kreis“ weist auf einen Kreis- oder Reigentanz hin, der wohl die üblichste Form des Volkstanzes darstellt.[62]

    Hin und wieder erscheinen Informationen zu gewöhnlichen Liedpraktiken aber auch in Berichten über außergewöhnliche Ereignisse. Eine solche Randinformation teilt der Sänger Michel Beheim in seinem Buch von den Wienern mit. Beheim stand in den Diensten Kaiser Friedrichs III. und erlebte die Belagerung der Burg in Wien im Jahr 1462 mit (» G. Michel Beheim). Bei der Schilderung dieses Ereignisses erwähnt Beheim ein interessantes Detail: In einer Kampfpause setzten sich die Soldaten der feindlichen Parteien zusammen, um sich die Zeit mit dem gemeinschaftlichen Singen und Musizieren zu vertreiben.[63]
    Nach der Schilderung des Kampfes im Graben heißt es bei Beheim (» D-HEu Cpg 386, fol. 63r–v: „von dem hovirn in dem graben“):

    Das triben sy so lange zeit,
    pis sy müd wurden paider seit […]

    Das [= den Kampf] trieben sie so lange
    bis beide Seiten müde wurden […]

    Sy puten ainander dy hend.
    pegunden do mit mancher lei
    susser vnd senfter melodei
    lieplichen iubelire[n]
    und mit saiten psaliren.

    Sie reichten einander die Hände
    und begannen mit mancherlei
    süßer und sanfter Melodie
    lieblich zu jubilieren
    und begleitet von Saitenspiel zu singen.

    Und dez gleichen sich in der grub
    ain solchez wider umb erhub.
    alz im wasser uon den sirenn
    hort man uon disen vnd ach genn
    Saiten spil vnd auch singen
    wid[er] ainander klingen.

    Und desgleichen [Gesang] erklang aus
    dem [Burg-]Graben.
    Wie von den [mythologischen] Sirenen im
    Wasser hört man von beiderseits
    Saitenspiel und Singen widerhallen.

    Wann disez ain weil wa[r]t getan,
    so viengen sy dann wider an
    mit schiessen, schlahen, werffen, als
    ich euch uermeldet han uormals …

    Als sie [die Kämpfenden] dieses eine Zeit
    getan hatten,
    fingen sie wieder mit schießen, schlagen
    und werfen an, wie ich es euch zuvor
    beschrieben habe …

    Eine andere informationsreiche Quelle stellt das Itinerar dar, das Paolo Santonino von der Visitationsreise des Bischofs von Caorle u. a. durch Kärnten, Ostttirol, Steiermark und Krain  in den Jahren 1485–1487 anfertigte (vgl. » D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen).[64] Mehrmals werden darin musikalische Darbietungen bei Tisch geschildert. So berichtet Santonino von einem Festmahl, das dem Bischof in Tristach (bei Lienz) bereitet wurde: „Sänger würzten uns das Mahl, indem sie vor jedem einzelnen Gange Lieder in ihrer Sprache zum Besten gaben“.[65] Auch in Kötschach (heute im Bezirk Hermagor in Kärnten gelegen) wurde der Bischof während des Essens mit Gesang unterhalten. Santonino berichtet: „In der Mitte der Mahlzeit kamen acht gut im Gesang ausgebildete Knaben mit ihrem Lehrer, die auf Deutsch einige Loblieder zu Ehren des Bischofs sangen, dafür zu trinken bekamen und dann wieder abgingen“.[66]

    Singen oder Musizieren bei der Tafel wird sehr häufig in literarischen Quellen beschrieben. Eine entsprechende Darstellung entstammt einer Übersetzung der Aeneis durch Heinrich von Veldeke, die von Georg von Erlbach (Erbach an der Donau) um 1474 in Pfaffenhausen (Schwaben) aufgezeichnet wurde. (» Abb. Musik und Tanz zum Bankett)

     

    Abb. Musik und Tanz zum Bankett

    Abb. Musik und Tanz zum Bankett

    Musikanten und ein Gaukler („Hofierer“) bei dem Hochzeitsmahl von Aeneas und Lavinia : „Da hoviert man vor in dieweil sij essent“ (Man hofierte vor ihnen, während sie aßen). Illustration aus » A-Wn Cod. 2861 (Übersetzung der Aeneis von Heinrich von Veldeke), fol. 95r. Mit Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek.

     

    Es ist ein Glücksfall, dass Santonino häufig die Sprache vermerkt, in der gesungen wurde, auch wenn er nicht weiter darauf eingeht, welcher Art der Gesang war. Nur einmal schreibt er ausdrücklich, dass es sich bei der Musik zur Tafel (in Gonobitz, heute: Slovenske Konjice, Slowenien) um mehrstimmigen Gesang handelte: „Das Mahl selbst verschönten uns der Lehrer und die Kantoren der besagten Gonobitzer Kirche, welche mehrstimmig verschiedene Loblieder und Hymnen sangen.“[67] In diesem Kontext ist jedoch wahrscheinlich davon auszugehen, dass es sich bei der mehrstimmigen Musik um geistliches Repertoire handelte. Eine andere Gelegenheit, bei der Santonino das Singen als Unterhaltung beschreibt, ist das Reisen selbst. Wie in den vorangegangenen Beispielen handelt es sich um musikalische Darbietungen für den hohen Besuch. Während jedoch an der Tafel lokale Kantoren und Lehrer mit ihren Schülern mit Gesang aufwarteten, ist es nun der die Reisegesellschaft begleitende Ritter Hermann von Hornegg, der selbst musizierte: „Der Herr Ritter war voll Heiterkeit und hat zuvorkommend fast während des ganzen Rittes mit einem seiner Junker einige Lieder in seiner Muttersprache gesungen, um dem Herrn Bischofe und seinem Gefolge gefällig zu sein.“[68]

    Der Bericht Santoninos belegt den hohen Stellenwert, den das Singen – und vor allem das Singen in der Volkssprache – im Spätmittelalter im österreichischen Raum einnahm. Auch wenn es sich bei den von ihm beschriebenen Kontexten nicht unbedingt um alltägliche Situationen handelt, kann man doch davon ausgehen, dass man bei den Darbietungen für den Bischof aus der im Alltag gepflegten Praxis schöpfte. Da mit Sicherheit nicht alle der in diesem Beitrag vorgestellten Lieder dafür geeignet waren, im Rahmen eines bischöflichen Besuchs vorgetragen zu werden, ist es nur zu deutlich, wie viele weitere Gelegenheiten und Anlässe sich in der Zeit geboten haben müssen, um gemeinsam oder allein, mit Zuhörern oder ohne, zu singen.

[1] Wichtige Hinweise auf die Singpraxis im Alltag bei Strohm 2001, 53–76.

[3] Eine schöne Darstellung von Singen im paraliturgischen Kontext, verbildlicht durch geöffnete Münder, ist die Abbildung einer Kirchweihprozession aus einem Graduale des Stiftes Geras: » Abb. Kirchweihprozession.

[4] Vgl. Bröcker 1998b, insbes. Sp. 1733–1741.

[5] Brandt 2001, 1080–1090: „Der Begriff ‹V.› benennt heute 1. die Bewohner eines Staates, namentlich die Inhaber der Souveränität in der Demokratie, 2. die Angehörigen einer Ethnie mit gemeinsamer Herkunft, Sprache und Kultur bzw. einer sich als auch außerstaatliches V. verstehenden Großgruppe, 3. die ,einfachen‘ Mitglieder oder unteren Schichten einer Gesellschaft im Sinn von ,Volksmassen‘ im Gegensatz zu ,Obrigkeit‘ oder ,Führungsschicht‘.“

[6] Vgl. Suppan 1966, 9.

[7] Vgl. Suppan 1966, 8.

[8] Bröcker 1998b, Sp. 1735.

[9]„Obwohl der Terminus Volkslied weder dem artifiziellen noch dem soziologischen Sachverhalt gerecht wird, und obwohl er seit seiner Geburt mit romantischen Gedanken belastet ist, behalten wir ihn bei. Wir müssen uns aber seiner Grenzen bewußt sein. ‚Volkslied‘ ist für uns nicht mehr als eine bekannte, aus dem schriftlosen Usus in die res facta aufsteigende Weise.“ (Seidel 1969, 109).

[10] Z. B. Salmen 1997, 245–253.

[11] Vgl. Lindmayr-Brandl 1997, 255–279.

[13] Vgl. beispielsweise das Lieder•Projekt (http://www.liederprojekt.org/), ein Benefizprojekt zum Singen mit Kindern von Carus Verlag, Reclam und SWR2. Selbst die Lieder, die dort mit einer Entstehungszeit im 16. Jahrhundert angeführt werden, stellen in fast allen Fällen Bearbeitungen des 19. Jahrhunderts dar.

[17] Zur weiteren Verbreitung in der Sphäre polyphoner Musik siehe Grosch 2013, 160–178. In böhmischen Quellen wurde dagegen auch die einstimmige Liedweise (meist mit tschechischen Texten) weiter aufgezeichnet. Vgl. die Datenbank Melodiarium Hymnologicum Bohemiae [http://www.musicologica.cz/melodiarium/] MHB/245.

[18] » A-Wn Cod. 116. Vgl. Haug 2007, 13–33.

[21] Vgl. Menhardt 1961,  280. Zur Handschrift vgl. weiterhin Lackner : Wien, Österreichische Nationalbibliothek (ÖNB), Cod. 3027.

[22] „höffen“ = „hafen“ in der Bedeutung Töpfe (siehe Lemma „Hafen“, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Bd. 4/2 [dtv-Ausgabe: Bd. 10], Leipzig 1877, Sp. 120; Link: http://www.woerterbuchnetz.de/DWB?lemma=hafen) und „krieg“ = Krüge.

[23] Eine Strophe umfasst zweimal sechs Zeilen, die jeweils mit den Worten „Wer els wer“ eingeleitet werden. Beide Teile zerfallen zudem jeweils in zwei gleichartig gebaute Dreizeiler, die sich als kleinstes Element aus einer Langzeile und zwei Kurzzeilen zusammensetzen. Zusätzlich zum stets wiederkehrenden Ruf „Wer els wer“ beginnt der zweite Dreizeiler jeder Strophe mit „Darzu ich dir auch helfen will“.

[26] Der Holzschnitt ist nicht signiert, aber die ungewöhnliche Perspektive der Darstellung und die skatologische Szenerie deuten stark auf Peter Flötner hin. Vgl. hierzu und im Folgenden Dienst 2002, 78f. (Abb. 19) und 127, sowie Kammel 2007.

[27] Eustachius Schildo, Spilteufel. Ein gemein Ausschreiben von der Spiler Brüderschafft und Orden …, Frankfurt an der Oder: Johann Eichorn 1557, fol. [E4]r.

[28] Bäumker 1895, Reprint 1970, 53f. Auch das dort ohne Melodie eingetragene Lied Nr. 74, Ein gartt, ain edler garten soll auf dieselbe Melodie gesungen werden.

[29] Zu diesen Quellen vgl. Strohm 2012, 167.

[30] Erk/Böhme 1893/1894, Bd. 2, 216.

[31] Welker 2006, Bd. 1, 115–142.

[33] Digitalisat: http://manuscripta.at/diglit/AT6000-869/0103. Zur Datierung siehe Schmidtke 1976, 165.

[34] Bereits in Fichards Liederbuch (nach 1450), das 1944 in Frankfurt am Main verbrannte, klingt das Lied der Fischerin an, vgl. Schanze 2004, Sp. 455.

[35] Gedruckt von Matthäus Elchinger. Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, 39 in: 2“ Yd 7801: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001AA2000000000.

[36] Gedruckt von Matthäus Elchinger. Exemplar der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, 12 in: 2“ Yd 7802: http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0001B20A00000000 .

[40] Das wetter het verkeret sich: » CZ-Pn X A 12, fol. 299v; D-LEu Apel 8, fols. 361v–362r; D-B Mgf 488, fol. 230r–v; D-Mbs Cgm 379, fol. 116r–v. Das Liedinitium ist verzeichnet in D-Mbs Cgm 5919, fol. 297r; das Lied erschien auch in dem heute nicht mehr existierenden Fichard’schen Liederbuch.

[41] Kern 2005, insb.  375–382.

[42] Siehe hierzu Knor 2008, 122 (Nr. 166).

[43] Vgl. die Zusammenstellung bei Zimmermann 1982, 291 (Nr. 26).

[45] Vgl. Menhardt 1961, 1084f.

[46] » D-Mbs Cgm 379 („Augsburger Liederbuch“), fol. 123r–v; D-DS Hs. 2225, fol. 80v. Das Liedinitium ist aufgezeichnet in D-Mbs Cgm 5919, fol. 297r. Vgl. Zimmermann 1982, 289f. (Nr. 21).

[48] Vgl. Kellermann 2000, bes. 7–34 und 49–65.

[49] Insbesondere in Liedflugschriften und auf Liedeinblattdrucken wurden selten Melodien in Notation wiedergegen. Dagegen findet man häufig den Hinweis „zu singen im Ton …“. Diese Tonangabe verwies auf die Melodie eines als bekannt vorausgesetzten Liedes.

[51] Anneliese Stoklaska gibt an, dass 300 historische Ereignislieder mit Österreichbezug aus dem Zeitraum von 1278 bis 1519 überliefert seien (Stoklaska 1986, 126f.). Diese Zahl (die ohnehin nur Textüberlieferungen betrifft) ist deutlich zu hoch gegriffen, da sie sich auf Liliencrons Angaben (Liliencron 1865–1869) stützt, der jedoch die Liedüberlieferung im gesamten deutschsprachigen Raum für diesen Zeitraum verzeichnet.

[52] Exemplar in der Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz (Ye 2206): http://digital.staatsbibliothek-berlin.de/werkansicht/?PPN=PPN759625425. Zu diesem Lied vgl. auch » E. Kap. Lieder für König Lassla

[53] Seemüller 1897; siehe auch Suppan 2000, 40–42.

[54] GB-Lbl Add. 16592, fol. 22r–23v.

[56] Meier 1935, 250–276.

[57] Exemplar Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ye 1081.

[58] Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Ms. germ. fol. 754, fol. 81r; Staatsbibliothek zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Sammlung Bohn Mus. ms. 10, Nr. 50; Wrocław, Ms. Brieg.Musik K.51, Nr. 25.

[59] Motnik 2012, 183f.

[62] Bröcker 1998a, Sp. 373f.

[63] Vgl. auch Schmidt 1970a, 390.

[64] Edition: Santonino (hrsg. von Vale) 1943; gekürzte Übersetzung ins Deutsche: Santonino (übers. von Egger) 1947; musikalische Auswertung: Schmidt 1970b und Brodl 2007.

[65] Santonino (übers. von Egger) 1947, 27. „Reddiderunt cantores prandium jucundius, qui singulis ferculis cantilenas aliquas suo idiomate premitere curaverunt.“ (Santonino [hrsg. von Vale] 1943, 136 [fol. 13v]).

[66] Santonino (übers. von Egger) 1947, 41. „In medio autem prandio, applicuerunt pueri octo cum suo preceptore bene in cantu instructi, qui aliquas laudes in honorem pontificis more tamen suo cecinere, et acceptis bibalibus recesserunt.“ (Santonino [hrsg. von Vale] 1943, 145 [fol. 26v]).

[67] Santonino (übers. von Egger) 1947, 172. „Cenam ipsam, iucundiorem reddidere, scholasticus et cantores ecclesie predicte de Gonabicz qui diversas laudes et ymnos, figuratis notis cecinerunt.“ (Santonino [hrsg. von Vale] 1943, 254 [fol. 127r]).

[68] Santonino (übers. von Egger) 1947, 151. „…qui dominus miles totus hilaris et benignus per omnem fere viam cum uno ex suis domicellis, plures sui ydiomatis cantilenas cecinit, ut maius ac jocundius eidem d. presuli et suis.“ (Santonino [hrsg. von Vale] 1943, 237 [fol. 111r]).

Fritz 1993/1994 | Pausch 1977 | Petzsch 1966 | Petzsch 1973 | Senn 1956 | Suppan 1976 | Zwieržina 1896


Empfohlene Zitierweise:
Sonja Tröster: „Spätmittelalterliche „Volkslieder“ – (Trug-)Spuren in österreichischen Quellen“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/spatmittelalterliche-volkslieder-trug-spuren-osterreichischen-quellen> (2017).