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Beginn einer Spurensuche

Sonja Tröster

Neben der Problematik der unscharfen Definition dessen, was ein Volkslied sein soll, stellt eine der Hauptforderungen an das Repertoire, die orale Überlieferung, die größte Schwierigkeit für die Forschung dar. Wie sollte es möglich sein, ein Liedrepertoire des späten Mittelalters zu erforschen, zu dessen Eigenschaften es zählt, mündlich überliefert zu werden? Außerdem ist ein Charakteristikum der mündlichen Liedüberlieferung die Variabilität von Liedtext und Melodie, die häufig so weit geht, dass nicht einmal eine stabile Verbindung dieser zwei Liedkomponenten vorausgesetzt werden kann. Diese Eigenschaft widerspricht sogar einem allgemein gebräuchlichen Liedbegriff, der das Lied als Einheit von Text und Melodie ansieht.

Ein Beispiel für die lückenhafte Dokumentation, die uns diese Liedtradition in losen Mosaiksteinen präsentiert, ist das im deutschen Sprachraum als Ach Elslein liebes Elselein bekannte Lied. Als Einheit von Text und Musik ist dieses Lied erstmals in einem vierstimmigen Liedsatz von Ludwig Senfl (» G. Ludwig Senfl) dokumentiert. Doch bereits aus dem 15. Jahrhundert stammen einzelne, geographisch gestreute Funde, die Ähnlichkeiten mit dem Melodieverlauf des späteren Liedes besitzen und Hinweise auf den Text liefern. Das früheste dieser Zeugnisse stammt aus einer Handschrift aus Vyšehrad, die um 1455 datiert wird (» CZ-Pnm Vysehrad 376, fol. 39v.). Dort ist eine dem Elslein-Lied sehr ähnliche Melodie mit dem Text „Gaudeamus pariter omnes et singuli“ notiert. Eine Textstrophe, die später aufgezeichneten Textversionen zumindest inhaltlich nahe steht, erscheint im Kontext eines Falkenliedes im sogenannten Königsteiner Liederbuch um 1470 (» D-B Ms. germ. quart 719, fol. 142r [Nr. 82]). In den Saganer Stimmbüchern (» PL-Kj Berol. Mus. ms. 40098, in älterer Literatur als „Glogauer Liederbuch“ bezeichnet), die um 1480 im Augustinerstift  Żagań (zwischen Cottbus und Wrocław im heutigen Polen gelegen) geschrieben wurden, taucht die Melodie etwas verändert erneut auf, nun bereits als Discant in einem dreistimmigen Satz und in Verbindung mit dem Textincipit „Elzeleyn lipstes Elzeleyn“.[14] Erst über vierzig Jahre später, in einer Lautentabulatur von Hans Judenkünig (» Ain schone kunstliche underweisung, Wien: Singryener 1523), erscheint der nächste sichere Hinweis auf die Existenz des Liedes.[15] Die drei intabulierten Stimmen sind bereits aus Senfls Satz übertragen, der in Vokalnotation erst einige Jahre später in einer Basler Handschrift (erneut allein mit Textincipit) und 1534 schließlich in einem Druck greifbar ist, wo die Melodie erstmals mit einem vollständigen Text überliefert ist.[16] Die weitere Verarbeitung des Liedes in mehrstimmigen Sätzen anderer Komponisten scheint sich meist auf Senfls Vorlage zu beziehen, so dass die mündliche Überlieferung hier in den Hintergrund getreten scheint.[17]

Die spärliche Dokumentation der Text- und Musikbausteine von Ach Elslein liebes Elselein im 15. und frühen 16. Jahrhundert, die in einem starken Gegensatz zu der hier nicht ausgeführten Fülle an Belegen des textlich und melodisch weitgehend stabilen Liedes ab dem zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts steht, führt die Probleme der Dokumentation von überwiegend mündlich überlieferten Liedern aus dem 15. Jahrhundert vor Augen: Wie weit können wir den sehr späten Belegen von Liedern Glauben schenken? Dokumentieren Sie eine über Jahre mündlich am Leben erhaltene Tradition oder gaukeln gebräuchliche Melodie- und Textbausteine wie auch die Persistenz von geistlichen Melodien, die möglicherweise Ausgangspunkte für weltliche Lieder bildeten, eine Liedtradition vor, die in dieser Weise nie existierte? Im Zentrum dieses Beitrags wird daher nicht „das Volkslied des 15. und 16. Jahrhunderts“ stehen. Vielmehr soll der Versuch unternommen werden, mit einer vielgestaltigen Spurensuche den Gegenstand einzukreisen und sich ohne zu eng gesetzte Definitionsgrenzen dem zuzuwenden, was an weltlichen Liedern vor allem abseits der bekannten Liedsammlungen und außerhalb der Quellen aus prägenden Komponisten- und Dichterkreisen der Zeit überliefert ist. Die Suche richtet sich auf Lieder, die eher zufällig als gezielt aufgezeichnet wurden und zumindest nicht eindeutig einem höfischen Kontext zuzurechnen sind – sei es aufgrund des Liedtextes oder der Art der Überlieferung. Der Schwerpunkt der Betrachtungen soll im Folgenden auf Liedzeugnissen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts liegen, da diese Zeit die Schnittstelle zwischen der früher so benannten  „Blütezeit des Volkslieds“ (16. Jahrhundert) und dem in diesem Projekt betrachteten Zeitraum darstellt.

Auf dem Weg der Entdeckung dieser oft in einem ganz unmusikalischen Kontext überlieferten und sich der zufälligen und beiläufigen Niederschrift verdankenden Lieder kann ein Repertoire zu Tage gefördert werden, das in manchen Fällen in seiner Wirkung und Funktion dem näher steht, was wir den Definitionen nach als Volkslied bezeichnen würden, auch wenn es dem allgemeinen Verständnis nach heute wahrscheinlich keinen Eingang in eine Volksliedsammlung fände. Andere Spuren könnten sich allerdings in Bezug auf die Volksliedsuche auch als falsche Fährten, als Trugspuren erweisen.

[14] Gancarczyk 2014.

[15] »D-Mbs 4 Mus.th. 729, fol. c4v.

[16] » CH-Bu F X 1–4, Nr. 23, und » Ott, Hans (Hrsg.), Der erst teil. Hundert vnd ainundzweintzig newe Lieder, von berümbtenn dieser kunst gesetzt, lustig zu singen, vnd auff allerley Jnstrument dienstlich, vormals dergleichen im Truck nye außgangen, Nürnberg: Hieronymus Formschneider 1534, Nr. 37 (Digitalisat des Exemplars D-Mbs Mus. pr. 35: http://stimmbuecher.digitale-sammlungen.de/view?id=bsb00082621).

[17] Zur weiteren Verbreitung in der Sphäre polyphoner Musik siehe Grosch 2013, 160–178. In böhmischen Quellen wurde dagegen auch die einstimmige Liedweise (meist mit tschechischen Texten) weiter aufgezeichnet. Vgl. die Datenbank Melodiarium Hymnologicum Bohemiae [http://www.musicologica.cz/melodiarium/MHB/245.