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Kontexte des Singens

Sonja Tröster

In gleicher Weise spärlich und verhalten wie die Fundstücke zu mündlich tradierten weltlichen Liedern sind die schriftlichen Quellen in Bezug auf die Frage, zu welchen Gelegenheiten des Alltags im 15. Jahrhundert tatsächlich gesungen wurde. Besonders das Singen außerhalb der höfischen und kirchlichen Sphäre ist spärlich belegt. Wie bei der Frage nach dem Repertoire gilt wohl auch hier, dass Informelles und Alltägliches eben nur in Ausnahmefällen schriftlich festgehalten wurde. Nur über Umwege drangen solche Informationen in die Schriftlichkeit ein, beispielsweise dann, wenn gegen gewisse Praktiken Beschwerden geführt wurden. In Wiener Neustadt beschwerte man sich in den 1470er Jahren beispielsweise darüber, dass Bettler „auf den Freithöfen, vor den Kirchen, auf den platzen oder in den gassen“ singen würden.[61]

Aus einigen Liedtexten geht hervor, dass das Tanzen häufig mit Singen verbunden war. Bereits die Eingangszeilen der Lieder Ich spring an disem ringe oder Mit Lust tritt ich an diesen Tanz signalisieren diese Verwendung. Der im ersten Lied genannte „ring“ in der Bedeutung „Kreis“ weist auf einen Kreis- oder Reigentanz hin, der wohl die üblichste Form des Volkstanzes darstellt.[62]

Hin und wieder erscheinen Informationen zu gewöhnlichen Liedpraktiken aber auch in Berichten über außergewöhnliche Ereignisse. Eine solche Randinformation teilt der Sänger Michel Beheim in seinem Buch von den Wienern mit. Beheim stand in den Diensten Kaiser Friedrichs III. und erlebte die Belagerung der Burg in Wien im Jahr 1462 mit (» G. Michel Beheim). Bei der Schilderung dieses Ereignisses erwähnt Beheim ein interessantes Detail: In einer Kampfpause setzten sich die Soldaten der feindlichen Parteien zusammen, um sich die Zeit mit dem gemeinschaftlichen Singen und Musizieren zu vertreiben.[63]
Nach der Schilderung des Kampfes im Graben heißt es bei Beheim (» D-HEu Cpg 386, fol. 63r–v: „von dem hovirn in dem graben“):

Das triben sy so lange zeit,
pis sy müd wurden paider seit […]

Das [= den Kampf] trieben sie so lange
bis beide Seiten müde wurden […]

Sy puten ainander dy hend.
pegunden do mit mancher lei
susser vnd senfter melodei
lieplichen iubelire[n]
und mit saiten psaliren.

Sie reichten einander die Hände
und begannen mit mancherlei
süßer und sanfter Melodie
lieblich zu jubilieren
und begleitet von Saitenspiel zu singen.

Und dez gleichen sich in der grub
ain solchez wider umb erhub.
alz im wasser uon den sirenn
hort man uon disen vnd ach genn
Saiten spil vnd auch singen
wid[er] ainander klingen.

Und desgleichen [Gesang] erklang aus
dem [Burg-]Graben.
Wie von den [mythologischen] Sirenen im
Wasser hört man von beiderseits
Saitenspiel und Singen widerhallen.

Wann disez ain weil wa[r]t getan,
so viengen sy dann wider an
mit schiessen, schlahen, werffen, als
ich euch uermeldet han uormals …

Als sie [die Kämpfenden] dieses eine Zeit
getan hatten,
fingen sie wieder mit schießen, schlagen
und werfen an, wie ich es euch zuvor
beschrieben habe …

Eine andere informationsreiche Quelle stellt das Itinerar dar, das Paolo Santonino von der Visitationsreise des Bischofs von Caorle u. a. durch Kärnten, Ostttirol, Steiermark und Krain  in den Jahren 1485–1487 anfertigte (vgl. » D. Fürsten und Diplomaten auf Reisen).[64] Mehrmals werden darin musikalische Darbietungen bei Tisch geschildert. So berichtet Santonino von einem Festmahl, das dem Bischof in Tristach (bei Lienz) bereitet wurde: „Sänger würzten uns das Mahl, indem sie vor jedem einzelnen Gange Lieder in ihrer Sprache zum Besten gaben“.[65] Auch in Kötschach (heute im Bezirk Hermagor in Kärnten gelegen) wurde der Bischof während des Essens mit Gesang unterhalten. Santonino berichtet: „In der Mitte der Mahlzeit kamen acht gut im Gesang ausgebildete Knaben mit ihrem Lehrer, die auf Deutsch einige Loblieder zu Ehren des Bischofs sangen, dafür zu trinken bekamen und dann wieder abgingen“.[66]

Singen oder Musizieren bei der Tafel wird sehr häufig in literarischen Quellen beschrieben. Eine entsprechende Darstellung entstammt einer Übersetzung der Aeneis durch Heinrich von Veldeke, die von Georg von Erlbach (Erbach an der Donau) um 1474 in Pfaffenhausen (Schwaben) aufgezeichnet wurde. (» Abb. Musik und Tanz zum Bankett)

 

Abb. Musik und Tanz zum Bankett

Abb. Musik und Tanz zum Bankett

Musikanten und ein Gaukler („Hofierer“) bei dem Hochzeitsmahl von Aeneas und Lavinia : „Da hoviert man vor in dieweil sij essent“ (Man hofierte vor ihnen, während sie aßen). Illustration aus » A-Wn Cod. 2861 (Übersetzung der Aeneis von Heinrich von Veldeke), fol. 95r. Mit Genehmigung der Österreichischen Nationalbibliothek.

 

Es ist ein Glücksfall, dass Santonino häufig die Sprache vermerkt, in der gesungen wurde, auch wenn er nicht weiter darauf eingeht, welcher Art der Gesang war. Nur einmal schreibt er ausdrücklich, dass es sich bei der Musik zur Tafel (in Gonobitz, heute: Slovenske Konjice, Slowenien) um mehrstimmigen Gesang handelte: „Das Mahl selbst verschönten uns der Lehrer und die Kantoren der besagten Gonobitzer Kirche, welche mehrstimmig verschiedene Loblieder und Hymnen sangen.“[67] In diesem Kontext ist jedoch wahrscheinlich davon auszugehen, dass es sich bei der mehrstimmigen Musik um geistliches Repertoire handelte. Eine andere Gelegenheit, bei der Santonino das Singen als Unterhaltung beschreibt, ist das Reisen selbst. Wie in den vorangegangenen Beispielen handelt es sich um musikalische Darbietungen für den hohen Besuch. Während jedoch an der Tafel lokale Kantoren und Lehrer mit ihren Schülern mit Gesang aufwarteten, ist es nun der die Reisegesellschaft begleitende Ritter Hermann von Hornegg, der selbst musizierte: „Der Herr Ritter war voll Heiterkeit und hat zuvorkommend fast während des ganzen Rittes mit einem seiner Junker einige Lieder in seiner Muttersprache gesungen, um dem Herrn Bischofe und seinem Gefolge gefällig zu sein.“[68]

Der Bericht Santoninos belegt den hohen Stellenwert, den das Singen – und vor allem das Singen in der Volkssprache – im Spätmittelalter im österreichischen Raum einnahm. Auch wenn es sich bei den von ihm beschriebenen Kontexten nicht unbedingt um alltägliche Situationen handelt, kann man doch davon ausgehen, dass man bei den Darbietungen für den Bischof aus der im Alltag gepflegten Praxis schöpfte. Da mit Sicherheit nicht alle der in diesem Beitrag vorgestellten Lieder dafür geeignet waren, im Rahmen eines bischöflichen Besuchs vorgetragen zu werden, ist es nur zu deutlich, wie viele weitere Gelegenheiten und Anlässe sich in der Zeit geboten haben müssen, um gemeinsam oder allein, mit Zuhörern oder ohne, zu singen.

 

[61] Schober 1885, 228; Schmidt 1970a, 391.

[62] Bröcker 1998a, Sp. 373f.

[63] Vgl. auch Schmidt 1970a, 390.

[64] Edition: Santonino (hrsg. von Vale) 1943; gekürzte Übersetzung ins Deutsche: Santonino (übers. von Egger) 1947; musikalische Auswertung: Schmidt 1970b und Brodl 2007.

[65] Santonino (übers. von Egger) 1947, 27. „Reddiderunt cantores prandium jucundius, qui singulis ferculis cantilenas aliquas suo idiomate premitere curaverunt.“ (Santonino [hrsg. von Vale] 1943, 136 [fol. 13v]).

[66] Santonino (übers. von Egger) 1947, 41. „In medio autem prandio, applicuerunt pueri octo cum suo preceptore bene in cantu instructi, qui aliquas laudes in honorem pontificis more tamen suo cecinere, et acceptis bibalibus recesserunt.“ (Santonino [hrsg. von Vale] 1943, 145 [fol. 26v]).

[67] Santonino (übers. von Egger) 1947, 172. „Cenam ipsam, iucundiorem reddidere, scholasticus et cantores ecclesie predicte de Gonabicz qui diversas laudes et ymnos, figuratis notis cecinerunt.“ (Santonino [hrsg. von Vale] 1943, 254 [fol. 127r]).

[68] Santonino (übers. von Egger) 1947, 151. „…qui dominus miles totus hilaris et benignus per omnem fere viam cum uno ex suis domicellis, plures sui ydiomatis cantilenas cecinit, ut maius ac jocundius eidem d. presuli et suis.“ (Santonino [hrsg. von Vale] 1943, 237 [fol. 111r]).

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