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Die Tiroler Spieltradition. Musik und Tanz in geistlichen und weltlichen Spielen

Andrea Grafetstätter
  • Die Tiroler Spieltradition

    Um 1500 bringt die wirtschaftliche Blüte der Bren­ner­städte eine bürger­liche Spiel­­kul­tur hervor, die vor allem mit der Person des Malers und Spiel­leiters Vigil Raber (gest. 1552) als Schreiber zahlreicher Spiel­tex­te greifbar wird. Die Spieltradition umfasst dabei ungewöhnlicherweise geistliche und weltliche Spiele gleichermaßen, die im „Sterzinger Spielarchiv“ überliefert sind (» H. Sterzinger Spielarchiv). Zu den geistlichen Spielen in dieser Sammlung gehören z. B. die Sterzinger Passionsspiele von 1486 und 1496/1503 und die Bozener Passionsspiele von 1495 und 1514. Hier sind bisweilen in den Manuskripten mit roter Tinte die Namen einzelner Schauspieler neben der Rollen­be­zeichnung eingetragen; auch eine Benachrich­tigung für eine Kostümprobe im Jahre 1514 in Sterzing ist bekannt. Man spielte die geistlichen Spiele in der Kirche oder auf einem freien Platz, den die Zuschauer von allen Seiten um­stan­den oder auf den sie von den umliegenden Häusern blickten,[1] und zwar auf einer Simultanbühne. Diese Bühnenform bedeutet, dass alle Schauplätze des Spiels simultan auf der Bühne durch sogenannte mansionen oder stant einsehbar sind. Bei diesen durch Dekoration verdeutlichten mansionen hat man sich durch vier Pfosten gestützte Dächer vorzustellen,[2] die von allen Seiten Einblick gewähren. Ortswechsel werden durch Aufstehen der Schauspieler in einem stant oder durch den Zug von Schauspielern zu einem bestimmten stant angezeigt. Das bedingt, dass sich auf der Bühne mehrere Handlungen simultan vollziehen können.[3] Man kann also beim Publikum eine große Flexibilität im Verfolgen des Gesamtgeschehens an­neh­men.[4] Frauenrollen wurden in geistlichen wie auch in weltlichen Spielen üblicherweise von Männern repräsentiert; dies umfasst auch die Ver­hand­lung weib­li­cher Stereotype. Im Brixener Passionsspiel etwa erwägt der Apos­tel Thomas als Grund, Gott habe sich zuerst Frauen gezeigt und den Auftrag gegeben, sei­ne Auferstehung zu verkünden, da Frauen ohnehin nicht schweigen könnten (Wackernell 1897, 424, 4245–4250).

    Im Jahre 1514 wurde in Bozen ein siebentägiges Passionsspiel aufgeführt. Hierzu liegt ein Bühnenplan Rabers vor, den bereits Reinhold Nordsieck in die Bozner Stadtpfarrkirche hinein­pro­ji­ziert.[5]

     

     

    Die Weite der Bühnenanlage wird im Bozner Abendmahlsspiel vom Precursor (Spielansager) einge­for­dert: „Precursor dicit Rigmum: […] Darumb sey in andacht ein yeder man/ Vnd thue das in gottes nam/ Vnd eng vns nyempt zw kainer czeitt,/ Darumb stet vmb yn dy weytt“ (Lipphardt/Roloff Bd. 1, 375–376, 28–31). (Darum möge jeder andächtig sein und das im Namen Gottes tun, und uns [=die Schauspieler] niemand zu irgendeinem Zeitpunkt einengen, deshalb umsteht uns in weitem Kreis.)[6]

  • Die geistliche Spieltradition

    Tanz, Instrumentalspiel und Gesang

    Zwar bestand eine dauerhafte Restriktion des Tanzes im Mittelalter,[7] aber es sind auch li­tur­gi­sche Tänze bzw. mit dem Kirchenraum oder mit liturgischen Anlässen und Prozes­sio­nen ver­bun­dene Tänze belegt.[8] Man könnte auch an die vor allem in der Mystik beliebten Vor­stel­lun­gen vom (himmlischen) Tanzen denken mit Jesus als Tanzmeister, der den himm­li­schen Rei­gen anführt.[9] Nach Richard Leighton Greene wurde zu Liedern wie Josef lieber nefe mein/Resonet in laudibus so­gar in der Kirche getanzt.[10] Der Tanz im Kirchenraum könnte also – nach entsprechenden Restriktionen seitens der Kirche – in die geistlichen Spiele verlagert worden sein. Bei Marias An­kunft im Himmel im Innsbrucker (Thüringischen) Maria Himmel­fahrts­spiel wird ein Tanz durch Raphael und Michael in Aussicht gestellt. Zunächst sagt Raphael: „Kunig aller gewaldiger herren,/ Wir wullen vil gerne dir czue eren/ tanczen unnd unser frawen czue prise/ und singenn manche suße wise“ (Mone 1841, 87, 2435a–2439). (König aller mächtigen Herren,/ wir wollen sehr gerne dir zu Ehren/ tanzen, und unserer Frauen (Maria) zum Lobe/ auch singen manche süße Weise.) Michael präzisiert: „nue tancz wir alle, daz ist myn rat“ (Mone 1841, 87,  2455). (Nun tanzen wir alle, das schlage ich vor.) Gegen Ende des Spiels kommen selbst Spiel­leute zum Einsatz: „Rex dicit: Nue schlat uff ir spellute,/ und pauck frolichen hute,/ und czyn wir alle hen mit salden,/ daz ez got von hymmel muz walden“ (Mone 1841, 104, 3084a–3088). (Der König sagt: Nun schlagt auf, ihr Spielleute, und paukt heute fröhlich, und ziehen wir alle von hinnen mit Segen, dass Gott vom Himmel es beschütze.) Die En­gel fungieren oft als Erklärer und Deuter des Spiels; diese Deu­tungen singen sie. Eine Regie­an­weisung zur Divisio Apostolorum (Diaspora) kann das Verfahren der Insze­nie­rung zeigen: „Deinde apostoli recedunt dividentes se in circulum. chorus interim/ cantat: cives apostolorum. hic apostoli separantur ab invicem. Angeli/ cantant ad laudem dei“ (Mone 1841, 29, 268a–c). (Danach ziehen sich die Apostel zurück, indem sie sich in einem Kreis verteilen. Inzwischen singt der Chor: Cives apostolorum. Hier trennen sich die Apostel voneinander. Die Engel singen zum Lobe Gottes.) Es werden so­gar die Gesangsarten bestimmt, wenn Simon zum Gesang aufruft: „und singet uwir leyse [also]“ (Mone 1841, 42, 766). Sogar Synagoga tritt singend auf: „Ad laudem vel synagoga cantat“ (Mone 1841, 37, 572a). (Zum Lob singt die Synagoge.) Nicht von ungefähr listet daher Peter Dinzel­bacher bei den Bestandteilen spät­mittel­alter­licher Religiosität die Musik als eigenen Punkt auf.[11] Der Gesang kann auch ko­mi­schen Zwecken dienen: Im Klosterneuburger Osterspiel singen die Grab­wäch­ter das Spott­lied Schowa propter insidias,[12] und eine abwer­tend-ver­spot­ten­de Funktion haben auch die Ju­den­gesänge einiger Spiele, die Cantica hebraica; diese Ge­sänge wurden oft separat eingeübt.[13]

     

    Dramatische Funktionen der Gesänge

    Die meisten Szenen des geistlichen Spiels wurden von Musik (in ihren verschiedenen Formen wie Antiphonen, Rezitationen, Chorgesängen) inhaltlich wie strukturell dominiert. Hierbei wurde auch oft die Zuschauergemeinde integriert, mit der Aufforderung, gemeinsam mit den Schauspielern Lieder zu singen. Als Beispiel kann das Trierer Osterspiel dienen, an dessen Ende die Aufforderung steht: „Hude van des dodes banden/ ist unßer here froelychen vff erstanden./ Mit deme sollen wyr froelychen syn/ Vnd laessen alle truren lygen. Et cum hoc incipiet cantor sequentiam Victime paschali etc“ (Mone 1841, 66, 176ff.).[14] (Heute ist von des Todes Banden/ unser Herr fröhlich auferstanden./ Mit ihm sollen wir fröhlich sein/ und alles Trauern liegen lassen. Und damit beginnt der Kantor die Sequenz Victimae paschali usw.) Hier ist davon auszugehen, dass die Zuschauer in das Lied eingestimmt haben. Häufig wurden solche bekannten Lieder in die geistlichen Spiele integriert. Sie sind oft nur mit dem Incipit in den Spieltexten vermerkt.

    Mittelalterliche Autoren skizzieren ihre Sinneseindrücke bei der Rezeption von Musik: „Listening and singing, the experience of music, are portrayed as having a corporeal effect that produces sensations of an intense sensory and emotional character.“[15] Bernhard von Clairvaux fordert, dass ein Lied das Ohr liebkosen und das Herz erreichen müsse,[16] und Thomas von Aquin äußert, dass sowohl stimmliche als auch instrumentale Musik in der Lage sei, die Seele auf Gott auszurichten.[17] In eine ähnliche Richtung geht Roger Bacon, wenn er schreibt, dass eine Melodie die Macht habe, die christliche De­votion zu gewährleisten.[18] Resümierend hält Wolfgang Fuhrmann diese und vergleichbare Aussagen fest: „Wesent­lich für die christliche Musikanschauung ist die existen­ziel­le Verankerung des Singens: Man muss an die Inhalte des Gesungenen mit aller Inbrunst glauben, und das wiederum hat zur Folge, dass man sie auch in seinem Leben im Wortsinn beherzigen muss.“[19] Demnach konnten die geistlichen Spiele durch ihre oft zahl­rei­chen Lied­ein­lagen, die bisweilen auch die Zu­schauer­gemeinde mitgesungen hat, eine be­son­de­re emo­tio­na­le Wirkung erzeugen. Es scheint sogar, dass die Vermittlung von emotionalen und kognitiven Gehalten durch die Musik der Spiele derjenigen des Kirchenchorals an Fülle und Variabilität zu vergleichen war. Die Frage von Hansjürgen Linke, ob „man im Mit­tel­alter schon Affekte komponieren und so Melodien zu Bedeutungsträgern machen wollte und konnte“, darf bejaht werden.[20] Die Musik in den geistlichen Spielen ist dabei gewissermaßen als paralleles Erzählen aufzufassen: „Der differenzierte stimmliche Ausdruck des Gesangs kann Text­in­hal­te verständlich oder doch verstehbar machen, auch wenn das Wort nicht verstanden wird.“[21]

     

    Ausdruckscharakter der Musik

    Bei ihrer Untersuchung der Musik der in den Sterzinger Spielen überlieferten Marien­klage stellt Sabine Prüser fest, dass die Melismen­le­gung zur Betonung bestimmter Wörter die­­nen kann, denn durch die Setzung der Me­lis­men auf Wörtern wie wainen oder herczenlaid, die kurzzeitig den Quintraum erweitern oder die phrygische Halbtonfigur e-f-e-d-e verwenden, wird das Leid musikalisch versinnbildlicht.[22]

     

    Notenbsp. Wainet vill liebe cristenheit

    Notenbsp. Wainet vill liebe cristenheit

    Eröffnendes Lied (zwei Strophen) von  „Prima“ und „Secunda persona”, aus Planctus beatae Mariae cum Prophetis (» Sterzing, Stadtarchiv (I-VIP), Hs. XVIII, 1511?), nach Lipphardt/Roloff, Bd. 3, 339.

    (Erste Person. Weinet sehr, liebe Christenheit, beweinet unser großes Herzeleid, helft mir beklagen Jesu Christ, der von den Juden gemartert ist.)
    (Zweite Person. Weinen will ich, das ist mir Not, beweinen will ich Gottes Tod, der mich von den Sünden hat erlöst.)

     

    Auch bietet die Integration geläufiger Lieder die Mög­lichkeit des Einfühlens in präsentiertes Gesche­hen, was bis zur Evokation von Com­passio reichen kann.[23]

     

    Notenbsp. O liebe kind

    Dritte Strophe des eröffnenden Liedes aus Planctus beatae Mariae cum Prophetis (» Sterzing, Stadtarchiv (I-VIP), Hs. XVIII, 1511?), nach Lipphardt/Roloff, Bd. 3, 340. Die Marienklage O liben kind der cristenheit steht zusammen mit ihrer notierten lateinischen Vorlage O filii ecclesie im Innsbrucker Cantionarius A-Iu Cod. 457/II, fol. 102r, Nr. 47: Hörbsp. O filii ecclesie.

    (Dritte Person. O liebe Kinder der Christenheit, helft mir zu klagen mein großes Herzeleid, die erde öffnet sich und die Steine, dazu die Gräber alle zusammen, von den großen bitteren Schmerzen, die die Juden meinem Kind angetan haben.)

     

    Entsprechend werden in der Tiroler Spieltradition Gesang und Instrumentalmusik gleichermaßen genutzt: „Ibi tanguntur Instrumenta musicalia. Post hoc Saluator cantat“ (Lipphardt/Roloff, Bd. 1, 42, 732ab). (Hier werden Musikinstrumente gespielt. Danach singt der Erlöser.)  Dabei ergän­zen sich in mischsprachigen Spielen gesungene lateinische (canere / cantare) und im Sprech­gesang vorgetragene deutschsprachige (dicere) Passagen.

     

     

     

    So wird „das Hin- und Herpendeln zwischen ritualisierter Feierlichkeit und lebensweltlicher Dramatik […] für ein lateinun­kun­di­ges Publikum zu einem ein­prägsamen Erleb­nis. Es erhält seine pastorale Sinn­ge­bung dadurch, daß die lateinischen Texte meistens von einer Gruppe (den Engeln, Marien, Aposteln), die deutschen Gegenstücke dagegen von einer Spielerfigur aus diesem En­semble vorgetragen werden: Durch sie kann sich jeder einzelne Zuschauer im Akt des Ver­ste­hens in das heilsgeschichtliche Geschehen integrieren, dessen Gültigkeit der Gruppengesang bei den liturgiesprachlichen Textpassagen versinnbildlicht.“[24]

    In Rabers Passion wird die Grabwache mit großem korporalen und musikalischen Aufwand im Rahmen einer Sing-/Tanzprozession inszeniert: „Primus miles dicit volens ire: Wier varen dahin mit schalle,/ Wier rueffn vnd singen alle,/ […] Drummb tretet all auf mein gespor,/ Get mir nach, ich ge euch vor./ Et sic vadunt ad sepulchrum cantando: Wir sullen zu dem grabe gan [etc.]/ Secundus miles Waxring dicit ad primum: […] Gern tancz wir, nun sinng vnns vor./ Primus miles Vnuerczagt cantat vt prius vel aliud: Wier sullen vmb daz grabe gan/ vt supra” (Lipphardt/Roloff Bd. 3, 93–94, 2275a–2278a). (Der erste Kriegsmann, der abgehen will, singt: Wir fahren dahin mit Schalle/ wir rufen und singen alle: […] Darum tretet nach mir in meine Spur/ geht mir nach, ich geh euch vor. / So gehen sie zum Grab, singend: Wir sollen zu dem Grabe gehn […] Der zweite Kriegsmann, Waxring, sagt zum ersten: […] Wir tanzen gern, nun sing uns vor. Der erste Kriegsmann, Unverzagt, singt wie zuvor oder etwas anderes: Wir sollen um das Grabe gehn, wie oben.)

     

    Ausrichtung auf die Zuhörer

    Weit verbreitet in den Spielen ist der Gesang des Liedes Christ ist erstan­den, das vom Publikum  mitgesungen wurde,[25] das sich dadurch in das Spielge­sche­hen integrierte. Die er­zäh­len­den Gesänge können auch die Funktion eines Bühnen­bildes übernehmen, da sie den Hintergrund des Geschehens illustrieren.[26] Joerg Fichte wird durch die Anzahl von in Spielen integrierten Gesängen (er benennt u. a. im Sterzinger Passionsspiel 82, in Pfarrkirchers Passion 79, im Boze­ner Spiel 61 Gesänge im Laufe der Pas­sions­hand­lung) motiviert, diese in die Nähe von Sing­spie­len zu rücken.[27] Er nimmt überdies eine Milderung des grausamen Gesche­hens durch Mu­sik an, entweder, indem Jesus selbst singt oder indem von anderen gesungen wird.[28] Die gesungenen „Silete“(„Schweigt“)-Rufe, die oft vor einschneidenden Dar­stellungen stehen (z. B. im Wiener Osterspiel vor der Höllenfahrt Christi oder vor der Erschei­nungsszene) haben u. a. die Funktion, die aus den Szenen­wech­seln resultie­ren­de Unruhe im Pu­bli­kum zu besänf­tigen.

    Die Zweck­­orien­tie­rung der geistlichen Spiele ist die religiöse Belehrung und Erbau­ung; dement­sprechend steht nicht un­be­dingt die künstlerische Elabo­riertheit im Vorder­grund, sondern die Allgemeinver­ständ­lich­keit im Sinne der Wir­kungs­absicht einer breit gestreuten religiösen Vermittlung von Heils­tatsachen.[29] Wie Linke darlegt, ist das geistliche Spiel „Mas­senmedium des Mittelalters“.[30] Eine Scheidewand zwischen geistlichem und weltli­chem Spiel zu etablie­ren, entspricht nicht mittelalterlicher Auffassung, gerade die Techniken der Theatra­li­­sierung sind aufgrund ähn­licher Voraus­setzungen vergleichbar. Dementsprechend leisten die geistlichen, genauso wie die weltlichen Spiele einen wichtigen Bei­trag zur städtischen Kultur.

  • Musik und Tanz in der Neidhartspieltradition

    Überblick

    Die Neid­hart­spie­le sind als „a special type of co­medy“[31] eine besondere Form der weltlichen Spiele. Erhalten sind fünf Neid­­hart­­spiele des aus­ge­hen­den Mit­tel­al­ters – das St. Pau­ler Neid­hartspiel, das Gro­­ße Neid­hartspiel, das Sterzinger Neid­hart­­spiel, das Sterzinger Szenar und das Kleine Neid­­­hartspiel. Mit dem Neid­hartspiel von Hans Sachs zeigt sich die konti­nu­ier­liche Rezeption des Stof­fes, die mit der Bear­bei­tung als Ballett (Salvatore Viganò, Das wie­der­ge­fundene Veil­chen, Auf­füh­rung 1795 im Wiener Kärntnertor-Theater) bis in die Neuzeit reicht.

     

    St. Pauler Neidhartspiel, Großes Neidhartspiel

    Das wohl in Schwäbisch Gmünd auf­ge­zeich­nete, nach einem auf 1367 da­­­tierten la­tei­ni­schen Brief eingetragene St. Pauler Neidhartspiel,[32] eines der ältesten über­lie­ferten welt­­lichen Spiele überhaupt, wurde 1895 im Bene­dik­tinerstift St. Paul (Lavanttal/Kärn­ten) entdeckt (A-SPL Cod. 261/4, Papier­hs., 22,5 x 15 cm; 272 Bl.). Es weist nur 58 ge­spro­­­che­ne Ver­se und drei Spre­cher­­­­rollen (Ein­schrei­er, Herzogin und Neid­hart) auf.

    Das Gro­­ße Neid­hartspiel mit 2624 Zeilen (2268 Sprechverse) ist mit sechs anderen Spie­len in einer Sammlung, wohl aus Tirol, aus den ersten Deka­den des 15. Jh. überliefert.[33] Viel­leicht wurde das Spiel mit Unterbrechung bzw. an zwei Tagen auf­geführt, da der Einschreier (Precursor) einen zweiteiligen Aufbau nahe legt.[34] 103 Rol­len wer­den namentlich er­­wähnt (da­von 69 Spre­cher­rollen).[35] Mu­­sik spielt eine do­­mi­nierende Rolle.

     

    Singende Teufel, invalide Bauern

    Bei der Teu­felsszene des Gro­­ßen Neid­hartspiels ver­mu­tet Konrad Gusinde, dass der Lob­ge­sang Luzifers – „Da singn die Teuffl all mit einander dz gesangk/ Luci­per vnserem heren/ Süllen wir alle eren/ Poldrius paldrius poldrianus“ (Margetts 1982, 69, 1632–1635) – „von einem gro­­tesken Teufelstanze“ be­­gleitet ge­wesen sei.[36] Diese Teufel müssen durch Kos­tü­mierung und Requisiten identifizier­bar gewe­sen sein, auch in Abgrenzung zu den Bau­ern. Teufel traten in Spielen oft in schwarzer, tier­haf­­ter Gestalt mit langen Schnei­de­zäh­nen, unförmigen Bäuchen, auf Krücken gestützt, flink und wen­dig, schrei­end, fluchend und mit expressiver Mimik auf,[37] sie trugen bisweilen Mas­ken, Klauen an Hän­den und Füßen so­wie einen Schwanz und Fell. Als Re­qui­si­ten dienten Stan­­gen, Keulen, Ha­ken, Ketten, Stricken, Kessel etc.[38] Die Aufführung erforderte von den Interpreten der Teufel stimmgewaltige Darsteller, die den gefährlichen Charakter dieser Höllenwesen durch schreckliches Geschrei verdeutlichen sollten.[39]

    Dabei ist die Verbindung von Musik und Teufel auffällig, denn in Pfarrkirchers Passion rühmen sich die Teufel, dass sie „zw wegen müg pringen/ Manige hoffart vnd Rppigkayt“ (viele Arten von Hoffahrt und Vergnügung hervorbringen), und dazu zählt freilich „Singen, springen vnd hoffieren“ (Lipphardt/Roloff, Bd. 2, 181–182, 3581a–3592). Der „Tercius Diabulus dicit Rossenkrantz“ lobt sich selbst: „Ich hays fürst Rossenkrancz./ Ich haysz dy lewt springen an dem tancz“ (Lipphardt/Roloff, Bd. 2, 182, 3598a–3600).

    Die weiteren zahl­rei­chen hö­fi­schen und „dör­per­lichen“ (unhöfischen, bäuerlichen), mit Musik unterlegten Tänze im Großen Neidhartspiel, die einen er­höh­­ten Raum­­be­darf konturieren und möglicher­wei­se das Spiel gliederten, führen zu Gu­sin­­des Wertung, das Spiel sei „ein voll­­stän­diges Tanz­spiel.“[40] Da die Bauern ab einem be­­­stimm­­ten Zeit­­punkt im Spiel als Inva­li­den charakterisiert sind, muss eine gewisse Un­­be­hol­­fen­heit der Bewe­gun­­gen (auch beim Tanz!) an­ge­­nom­men wer­­den, die als Feh­ler des Körpers Komik erzeugen konnte.  

     

    Sterzinger Neidhartspiel, Kleines Neidhartspiel

    Die Neidhartspiele selbst, sowie die ikonographi­schen Re­zeptionsdokumente, deuten an, dass Spiele um das Veilchenthema für Tirol typisch waren und sich im gesamten südlichen deutschen Sprachraum verbreiteten.[41] Die Neidharttradition im Tiroler Gebiet wird weiter dokumentiert durch zwei auf etwa 1511 datierte Sterzinger Spiel­do­ku­mente (ver­mut­­­lich aus Bozen): ein Spiel­text (Sterzinger Neidhartspiel) und ein Dirigierheft (Sterzinger Szenar).[42] Das Szenar (28 Bl.) wird in einem Pa­­pier-Heft überliefert (22,5 x 16,2 cm); es stimmt inhaltlich weit­­gehend mit dem Sterzinger Neidhartspiel über­ein, die Regie­an­mer­kungen sind im Sze­­nar al­ler­dings erwartungsgemäß ausführ­licher. Benö­tigt wer­den etwa 50–60 Schau­­spieler.[43] Die Hand­schrift des Sterzinger Neidhartspiels (15 Kanz­lei­pa­pierbo­gen, mittig zu einem Heft gefügt, etwa 27 x 19 cm) mit 1064 Zei­len (796 ge­spro­che­ne Ver­se[44]) zeigt eine funk­­tio­nale Text­for­ma­tie­rung durch den Schrei­ber, der das Sterzinger Szenar und das Sterzinger Neidhartspiel ein­getragen hat.[45] Die Zusam­men­­hänge zwischen Sze­nar und Spiel sind um­­stritten; Anton Dörrer ver­mu­tet: „Das Sze­nar stellte […] ein wesentlich neu aus­­­ge­stal­te­tes Regie­buch gegenüber dem Spiel­text dar“[46], „vom oder für den damaligen Spielleiter geschrie­ben […], um den Spielbrauch mög­lichst thea­tralisch-ein­drucksvoll auszu­ge­­stalten.“[47] Max Siller hin­ge­gen geht von der Kongru­enz der Spiele aus; Ab­wei­chun­gen erklärt er als noch im Rahmen mittel­alter­licher Abschreibegepflo­gen­hei­ten und mit An­for­de­run­gen der Improvisations­kunst.[48]

    Die vielleicht am Stadt­rand lo­ka­­li­sierte Spiel­flä­che des Spiels mit 40 sprechenden und etwa 20 stummen Rol­­len war mög­li­cher­­weise „an outdoor jousting field surrounded by bar­riers.“[49] Es begann mit einer hierar­chisch ge­ord­ne­ten, mu­si­ka­­li­schen Pro­zes­sion der Schau­­spieler zur Spielbühne; auch der Gang zum Veil­chen wurde als Musik­pa­ra­de um das Spielfeld herum inszeniert. Wäh­rend zwei Herol­de das Spiel ankün­di­gten, trat die Truppe in den Ring, um auf Stühlen und Bänken Platz zu nehmen. Für die Musiker war dabei ein eigener Stand vorgesehen. Die Ein­schrei­er des Sterzinger Szenars und des Sterzinger Neidhartspiels baten um wohl­wol­len­­de Auf­nah­me des Stücks und bagatellisierten vorab Fehl­­leis­tun­gen der Schau­spieler, „Wann Sy künnent nit alle lesn/ Jr sint Ettliche nye zG SchGl ge­we­sen“ (Margetts 1982, 124, 34–35) (Denn sie können nicht alle lesen,/ es sind einige nie zur Schule gegangen). Auch in Tiroler geistlichen Spielen gibt es Auf­for­­de­run­gen, qua­li­ta­tiv min­der­wertige Performanz von Schau­spie­lern zu ex­kul­pie­ren, so in Pfarrkirchers Passion:

    Dar vmb seyt petrüebt heint in got
    Vnd treybt dar aus nicht schimpf noch spot,
    Als man manign groben menschen vindt,
    Als paldt er enpfint,
    Das ainer in einem reim misredt
    So treibt er dar aus sein gespöt
    Vnd lacht des spils gar,
    Das man nicht thuen solt fürwar,
    Wan es doch zw eren Ihesu Crist
    Gänczlich angefangen ist
    (Lipphardt/Roloff, Bd. 2, 47, 749–758).

    (Deshalb trauert heute in Gott,
    Und zieht daraus weder Schimpf noch Spott,
    wie man manchen groben Menschen findet,
    der, wenn er bemerkt,
    dass einer in einem Vers sich verspricht,
    sich davon zum Spott berechtigt fühlt
    und das Spiel sogar auslacht,
    was man wahrlich nicht tun sollte,
    da es doch zur Ehre Jesu Christi
    ganz und gar bestimmt ist.)

    Ermahnungen in Spielen, bei Versehen der Schauspieler nicht zu lachen, können entweder mit Linke als „ein Reflex des Publikumsverhaltens“[50] oder mit Dorothea Freise als vorgreifende Präventivmaßnahme erklärt werden.[51]

    Das am Ende des 15. J­ahrhunderts entstandene Kleine Neidhartspiel wurde wohl als ursprüng­li­ches Markt­­spiel (Spiel, das auf dem Marktplatz im Freien aufgeführt wurde)  in ein fastnächt­li­ches Ein­kehr­spiel (Spiel, das in Privathäusern oder Gaststuben aufgeführt wurde) transferiert.[52] Es ist, zusammen mit anderen Nürnberger Fastnachtspielen, in der Wolfen­bütteler Sam­­­mel­­hand­schrift G (» Wolfenbüttel, Herzog August Bibl. (D-W) Cod. 18.12 Aug. 4°) tradiert. Das Kleine Neidhartspiel hat nur 198 ge­spro­chene Ver­­­se (insge­samt 236 Zeilen), allerdings über 20 Sprecher­rollen. Es weist nur spartanische Regiean­mer­kun­gen auf. Die Tän­ze und gerade der Schlusstanz im Kleinen Neidhartspiel weisen auf das Fastnachts­brauch­tum voraus.

  • Aufführung und Publikum

    Die äl­tes­ten Auffüh­rungs­be­le­ge zu Neidhartspielen (aus Arnheim) datieren auf 1395 und 1419.[53] Weitere Belege stammen aus Baden/Schweiz (1432), Nürnberg (1479, 1488), Bam­berg (1488), Passau, Kloster St. Nikola (1488), Preß­burg/Bratislava (1492), Salzburg (1497, 1518, 1535, 1539, 1546, 1558), Eger/Cheb (1516), Lau­fen/Salzach (1517), Butzbach (1517, 1518) und Burg­hau­sen (1519).[54] Zählt man zu den genannten Notizen noch einen Brief Maximilians I. aus dem Jah­re 1495 hinzu,[55] lie­­gen ins­gesamt 21 externe Hin­weise zum Neidhartstoff vor. Auffällig ist die Präsen­tation von Neid­hart­spie­len für eine kle­rikale Klien­­tel. Die Auf­füh­rung der größer kon­zi­pier­ten Neidhartspiele als Freilichtspiele in ihrer „besondere(n) Art von ‚Öffent­lichkeit‘“[56] erforderte be­trächt­­li­che monetäre und künstlerische Ressourcen; Aufführungen in wohl­ha­ben­den Städten wie Nürnberg, Bozen oder Sterzing boten sich daher an.

    Früh wurde in der Forschung diskutiert, ob die Spiele als „Maispiele“ im Frühling (z. B. Gu­sinde) oder als „Fastnachtspiele“ zwischen Winterende und Früh­lings­an­fang (z. B. Dör­rer) aufgeführt wurden. Man bemühte dazu den (höfisierten) Brauch am Wiener Hof zur Zeit Leopolds VI., im März (!) nach dem ersten Veilchen Ausschau zu halten, außerdem den Brauch der Maibuhlschaft.[57] Allerdings wird das „Veil­chenfest“ von Erhard Jöst und Eckehard Si­mon mit gewichtigen Argumenten in den Bereich der ro­man­tischen Mythen­bildung ver­wie­sen.[58] Denn erhaltene Auf­füh­­rungsbelege machen die Fastnachtszeit als Auf­füh­rungstermin der Neid­hart­spiele wahr­­­schein­­­­lich, der für nahezu alle belegten Neid­­hart­spielauf­führungen bis 1558 gilt.[59] Das Sterzinger Neidhartspiel und Sze­nar wurden auf einem durch Schrannckn abgesteckten Platz auf­ge­führt;[60] gleichwohl wird das Argument der zu großen Kälte bei ei­ner Aufführung im Freien (Feb­ruar oder März) durch be­zeug­te Auf­führungen von Spielen im Winter entkräftet.[61] Die Spie­ler des Sterzinger Szenars zogen in einer be­stimmten Ord­nung zum Freilichtplatz ein, was an pro­zes­sua­le Auftritte der geistlichen Spiele erinnert: Es sollten die pfeyffer mit begleitenden Ord­nungs­kräf­ten voran gehen, „das Volck aus dem wege zeweysn“ (das Volk aus dem Weg zu weisen), da­nach folgten der Precursor und in hie­rar­chischer Abfolge die restlichen Personen (Margetts 1982, 123–124, 1–21). Dieser prozessionsartige Einzug ist auch in anderen Spie­len der Sterzinger Spieltradition belegt, so im Spiel ‚Rex Viole‘.

    Ordo processionis: primoprocedunt comes et miles, deindeduos Juuenes post portantes duosgladios, post modum seruus regis cumprecursore habentes baculos, et postmodum Juuenis post regentem por[-]tans in manibus suis gladiumnudum, deinde rex et post regemseruus comitis et militis, deindefilia regis, quam ducit studens, deinderegina, quam domicellus dusit, deindedue virgines, seruus domicelli et studentisducentes, Tandem rusticus cum amasia sua,finaliter seruus rustici cum Matrerusticy et ante filiam regis lutifigulus(Bauer 1982, 268–269, 1086–1100)
    (Prozessionsordnung. Voran gehen der Graf und der Ritter, dann zwei junge Männer, die zwei Schwerter tragen, danach ein Diener des Königs mit dem Precursor, beide mit Stäben, dann nach dem Spielleiter ein junger Mann, der in den Händen ein bloßes Schwert hält. Dann der König und nach ihm die Diener des Grafen und des Ritters, dann die Tochter des Königs, geführt vom Studenten, dann die Königin, geführt vom Höfling, dann zwei Jungfrauen, geführt von den Dienern des Höflings und des Studenten. Schließlich der Bauer mit seiner Liebschaft, zuletzt der Knecht des Bauern mit dessen Mutter und vor der Königstochter [noch] der Lautenspieler.)

    Wenn John Margetts die Frage aufwirft, ob Bauern im Publikum der Neidhartspiele gewesen seien, die an der Ko­mik teilhaben konn­ten,[62] so ist dagegen zu halten, dass das Publikum der Neid­hartlieder in höfischen Kreisen zu suchen ist. Jöst vermutet, „daß auch bei den Spie­len zu­nächst nur Hofkreise als Zu­schauer auf­tra­ten, in zunehmendem Maße dann auch Bür­gerkreise mit den Aufführungen an­­ge­spro­chen wor­den sind.“[63] Als Publikum des Großen Neidhartspiels ad­ressiert „der vor lauffer“ (Precursor) die Adelskreise („Fürsten, Grafen, Herren, Ritter vnd ‘ritters kind‘“), aber auch „kauflewt“, die jedoch bestimmte Kriterien erfüllen müssen, nämlich, dass sie „mit hübschait/ Sich ziern künen jn hohe klaid, wol geperen und guten lewten hoffieren“ (mit Eleganz in vornehmen Kleidern erscheinen, sich anständig gebärden und wohlgeborenen Leuten den Hof machen) können (Margetts 1982, 17, 2–16).

  • Die Schwankliedtradition

    Zahlreiche Neid­hartiana-Lieder[64] rücken Schwänke in den Mittelpunkt; bereits in ei­nem relativ frü­hen Stadium wurden wohl einzelne Schwank­er­­zäh­lun­­­­gen drama­tisch be­ar­beitet und auf­geführt, was insbesondere für den ‚Veil­chen­schwank‘ zutrifft. In der Schwankliedtradition ste­hen Situa­ti­ons­beschreibungen aus der Ich-Per­spek­­ti­­ve als eine Art Rah­men­erzählung vor dem eigent­li­chen Bericht. In den Spielen er­set­zt ein Precursor diese Ich-Re­de: „Der Prolog zunächst vertrat nicht nur den Theaterzettel, da er Titel und Personen – was sich in jener Zeit mit der Inhaltsangabe des Stückes deckt – angibt, er vertritt auch den Vorhang.“[65] Im Gro­­ßen Neid­hartspiel sorgt der „vor lauffer“ in einer langen Ein­­schreierrede (66 Verse) für Ruhe mit „Schweiget hört und vernemet alle“ (Margetts 1982, 17, 3) und stellt die Her­zogin von Österreich vor, als deren Bote er sich stili­siert; sukzessive ruft er die Akteure hin­zu und umreißt ihre Funktion im Spiel. In den Neidhart­spielen der Tiroler Spieltradition haben die Akteure oft komisch sprechende Namen, z. B. Treybm­schalkh im Spiel ‚Ipocras‘ (Bauer 1982, 90, 44) oder gretl pruntz jn stall und Schlickenprein im Gro­­ßen Neid­hartspiel (Margetts 1982, 26, 296 bzw. 27, 339). Diese sind schon aus der Lied­tra­di­tion, insbeson­dere aus Neidharts Winter­liedern[66], be­kannt. Adaptiert wird in den Neidhartspielen die Dörper­fi­gur der Lieder, al­ler­­dings in ihrer li­te­ra­ri­schen Rolle stän­­disch als rusticus oder pawer ausge­wie­sen.[67] Be­­reits in Zusatz­strophen zu Neid­hart­lie­dern ma­ni­fes­tie­ren sich spezifische Interessen von Bear­­bei­tern, so die Pro­lon­ga­tion von Kampf­hand­lungen oder An­dro­hungen von kör­per­li­chen Ver­seh­run­gen.[68]

    Der in den Liedern kultivierte Kontrast von bäuerlichen und höfischen Tänzen wird in den Spielen mit bemerkenswerter Vehemenz akzentuiert. Die Instruktion für einen Tanz lautet z. B.: „so die vortanzer danne swigen,/ so sult ir alle sin gepeten,/ daz wir treten/ ob ein hove­tanzel nah der geigen“ (Müller/Bennnewitz/Spechtler 2007, Bd. 1, 234, R 33, II, 9–12) (wenn nun die Vortänzer ruhig sind, so seid ihr alle gebeten, dass wir noch einen höfischen Tanz nach der Geige tanzen). Das offenbart, dass sich die Vortänzer, denen die anderen Teilnehmer nachfolgen sollten, auch als Vorsänger betätigten. [69] Hieraus ergibt sich möglicherweise ein Hinweis auf die Aufführung solcher Tänze oder Gesangsszenen in den Neidhartspielen.[70]

  • Gesang und Tanz in den Neidhartspielen

    Die Veilchensuche erfolgt im Gro­­ßen Neid­hartspiel unter der Be­to­nung der hö­fi­schen Hoch­stim­mung: Man ist frölich, wie es auch die entsprechende Lied­tra­­dition vor­sieht: In dem Lied Urlaub hab der winter,[71] das Neidharts Suche nach dem Veilchen und dessen Auf­fin­den cha­rak­terisiert, wird  fröide insgesamt fünf Mal er­wähnt.[72] Die Schwank­lieder und die Neidhartspiele spie­geln dabei das Liedgut des histo­­ri­schen Sängers Neid­hart: Im Lied Urlaub hab der winter singt Neidhart nach dem Fin­den des Veil­­chens „wol laut“ (Müller/Bennnewitz/Spechtler 2007, Bd. 2, 61, c 17, II, 5), im Gro­­ßen Neid­hartspiel will er  unter Ge­sang zu­­rück zur Her­zogin, um die fro­­he Botschaft zu überbringen: „Aller erst wil ich heben an/ Ze sin­­gen das ich gelernt han/ Der Nayt­hart kert wider haim zu der hertzogin/ mit fröli­chem ge­sang“ (Margetts 1982, 37–38, 672–675). Ge­sangs­einlagen sind aus der Sterzinger Spieltradition bekannt, z. B. aus dem Spiel ‚ain zend­precherey‘( Ein Zahnarztbesuch): „Gredt: Sy, mein nachper gratz, thue yns ain liedl singen!/ Es get dir woll so raingkhlach vom mund./ Grätz: Sy, mein gret, wenn Ich nur ain guetz kundt,/ So wollt Ich thuen Nach deim rat./ Gredt: Sy, mein gratz, sing: het Ich ain puelln, als menige hat./ da singt der Grätz“ (Bauer 1982, 153, 306–314). (Grete: Sieh, mein Nachbar Gratz, sing uns ein Liedchen! Es geht dir ja so sauber vom Mund. Grätz: Sieh, meine Grete, wenn ich nur ein gutes könnte, so würde ich tun, was du vorschlägst. Grete: Sieh, mein Grätz, singe: „Hätt‘ ich einen Buhlen, wie manche (einen) hat“. Da singt der Grätz.)

    Wie in den Sterzinger Werbespielen wird auch in den Gerichtsspielen musi­ziert, z. B. ‚Rumpolt-Mareth‘-Spiel I (Bauer 1982,  315, 663); ‚Ludus de erhardo‘, (ebda. 326, 345) ‚Juristis‘ (ebda. 368, 376). Wenn im Spiel ‚quatuor filias‘ die einzelnen Töchter verheiratet werden, wird Laute gespielt: „Pater ad lutifi[gu]lum: N., lieber diener meinn,/ nun richt vns zu lieb die lautn dein,/ Das sy mügn tanczen vnd springenn./ So mag In dan des pas gelingenn./ et sic corisant“ (Bauer 1982, 278, 269–274). (Der Vater zum Lautenspieler: N., lieber Diener mein, nun richt‘ uns zu Liebe die Laute dein, damit sie tanzen und springen können, dann wird es ihnen umso besser gelingen. So tanzen sie.) Auch im Spiel ‚der verstossen Rumpold‘ wird gesungen: „Rumpold: mir ist mein hercz so gar gering,/ das ich gleich von rechtn freiden sing./ Da get er singund/ zu den weibern“ (Bauer 1982, 390, 181–184). Auffällig sind Anweisungen und Schlussbemerkungen am Ende von Spielen der Tiroler Spieltradition im Rahmen von musikalischen Inszenierungen, so beim ‚Ludus de erhardo‘: „Mareth: Spilman, pfeyff mir auf zu gefallen!/ Et sic est finis/ Precursor wene possit dicere rithmum/ vltimum in eodem ludo in conclusio: Ir hern, nun seyt wolgemut etc.“ (Bauer 1982, 328, 394–399). (… Und das ist das Ende. Der Precursor kann einen letzten Vers in diesem Spiel zum Beschluss sprechen: Ihr Herren nun seid wohlgemut usw.)

  • Bauerntanz in den Neidhartspielen

    Tanz um das Veilchen

    Bei der Veilchensuche sind in allen Spielen neben dem Gesang auch Tanz und Instrumentalmusik der Ad­li­gen und der Bauern omni­prä­sent: Zum rayen (Reigen) sollen im Großen Neidhartspiel paucken und sayttenspil, pfeyffen und schalmayen dienen; Neid­hart fordert: „Jr spillewt machet vns ain süessen don“, kom­plet­tiert durch die Re­gie­an­mer­kung: „Da pfeyfft man auff mit fröden […] Vnd Neythart füert dye hertzogin/ vnd Tantzen vmb dem veyol“ (Margetts 1982, 38–39, 701–720). (… und sie tanzen um das Veilchen.)

     

    Abb. Tanz der Herzogin

    Abb. Tanz der Herzogin

    Der Tanz der Herzogin um das Veilchen. Holzschnitt aus Neithart Fuchs.

    Inkunabel Augsburg 1491–97 (z) III. „Hie danczt die herczogin vmb den veiel vnd die herczogin hept den huot auf.“ (Bobertag 1884, 155).

     

    Auch das Sterzinger Neidhartspiel (Margetts 1982, 175, 235–238) ins­ze­­niert hier mit ei­ni­gem Auf­wand, vgl. das Szenar: „So steent die Pfeyffer auf Jr/ Ort, vnd pfeyffent zu Tanntz,/ So tanntzt der Neydthardt/ mit der Herzogin, auch die/ Ritter vnd Jungk­frawen,/ Vnd die Pawrn mit Jren/ Weybn vnd Dyern nach Jn“. (So stehen die Pfeifer auf ihren Plätzen … und die Bauern mit ihren Frauen und Mädchen nach Ihnen.) Im Großen Neidhartspiel ist die Beauftragung von Musikanten auffällig, wenn einer der Bauern fordert: „So wellen wir gen frolichen/ Die spill leUt hayssen auff pfeyffen/  Da tantzen die pawren hyn gen hoff“ (Margetts 1982, 19, 90–92). (So wollen wir fröhlich gehen, die Spielleute anweisen, aufzuspielen. Da tanzen die Bauern hin zum Hof.) In diesem Spiel beschreiben die Bauern überdies ihre Kostümierung selbst: „Ja ich trag auch ain gneytten/ Hye an meiner seytten“ (Margetts 1982, 54, 1194–1195). (Fürwahr, ich trage hier ein Schwert an meiner Seite.); „Jch trag heUr nun mein erstes schwerd/ Vnd han ain newes gürttlgewant“ (Margetts 1982, 25, 266–267). (Ich trage in diesem Jahr mein erstes Schwert/ Und habe ein neues Gürtelgewand).

     

    Abb. Wirtshausszene mit Tanz

    Abb. Wirtshausszene mit Tanz

    Bauern in der Kneipe: Katzunghaus-Relief. Wirtshausszene mit Spielleuten und tanzenden Bauern. Relief (um 1500), Katzunghaus, Innsbruck (Familie Dengg). Mit Genehmigung.

     

    Die Holzschnitte des Neithart Fuchs zei­gen bei der Darstel­lung des Veilchen­schwanks eine Stan­ge,[73] auf der das Veilchen drapiert wur­de und um das die Bauern tanzen (Bobertag 1884, 158), wie im Großen Neidhartspiel: „Da hayst aber auff pfeyffen vnd die pawren/ heben aber an zu tantzen“ (Margetts 1982, 45, 924–925).

     

    Abb. Tanz um den Veilchenstab

    Abb. Tanz um den Veilchenstab

    Bauern tanzen um den Veilchenstab. Holzschnitt aus Neithart Fuchs.

    Inkunabel Augsburg 1491–97 (z)  (IV) „Hie danczen die pawren vmb den feiel den si dem Neithart heten gestolen“ (Bobertag 1884, 158).

     

    Geschichtliche Interpretation der Bauernauftritte

    Blickt man speziell auf die Neidharttradition, wird in Neidharts Liedern – in den wenigen Ausnahmen des Vorkommens – mit (ge)bûre der Bauernstand, mit dörper oder dörpel dessen Verhalten signalisiert, es wird ein plumpes, täppisches, un­passendes Benehmen skizziert. Der Dör­­per in Neid­harts Liedern, der generell norm­trans­­gre­dierend in Bezug auf seinen Stand agiert,[74] wird in den Spielen und im Neithart Fuchs zum pawr, der Dörperfeind Neidhart zum Bauern­feind. Als Gegenbilder[75] bergen die Bauernfiguren die Möglichkeit von Parodie, denn einer der bei­den the­ma­ti­schen Schwer­punkte der Parodie­be­we­gung des 13. Jahrhunderts ist „die kri­ti­sche Selbstreflexion des Adels ge­­spie­gelt in der Gegenüberstellung mit der Figur des Bau­ern.“[76] Die Auftritte der Bauern in den Neidhart­spielen, „Engelmâr’s village dandies“[77], können wohl am ehesten auf der Grundlage von Neid­harts Dörperliedern, aber auch von der Dar­stel­lung der Bauern im Drama her be­ur­teilt wer­den:

    „Das Verfahren, im Bauern ein Gegenbild zu ent­­werfen – das von bäuerlicher Realität weit entfernt ist –, un­terliegt also einer starken Ab­stu­fung. Ist im Schwank ein Klischee aus­geprägt, das nur dazu dient, ver­lacht zu werden und allenfalls die Negativierung sonst gel­ten­der Regeln in einer ‚verkehrten Welt‘ vor­zu­füh­ren, so setzt der Sänger Neidhart das Ge­gen­bild ein, um eine sehr viel differenziertere Wirkung zu er­zielen.“[78]

    Mar­getts verweist auf soziale Unruhen und einen Bauernaufstand des Jahres 1525 in Ster­zing und betont einen gegen die Bauern gerichteten sozialkritischen Aspekt der Spiele.[79] Mit Blick auf die Interpretation der Tiroler Spiele ist die herausragende sozialge­schicht­liche Stellung der Tiroler Bauern­schaft bedeutend, die umfassende Vorteile und Rechte ge­noss, da die Bau­ern direkt dem Landes­fürsten von Tirol subordiniert waren, der sie zu­un­gun­sten ständischer Tiroler Noblesse pro­te­gierte; die Bauernkriege und speziell der Tiroler Bauernkrieg von 1525 sind Teil einer späteren Entwicklung.[80] Die historische Situation zeigt demnach zwei wider­strei­ten­de Parteien, ein starkes Bauerntum und einen de­pra­vier­­ten Landadel.

     

    Mittel der Parodie

    Aus diesem histo­ri­schen Be­fund ergibt sich auf die Spiele übertragen eine Parodierung bäuerlicher An­maßung. Ge­rade die Schlussrede Neidharts an die Bauern im Sterzinger Neidhartspiel, die bäuerliche Laster wie Dumm­heit, Geil­heit, Trunksucht und Verstoß gegen die Kleider­ordnung anpran­gert, wertet Siller dem­­ent­­sprechend – trotz Derbheiten – nicht als komisch, sondern als „res­tau­­rative So­zial­­kri­tik aus der Perspektive des Bürgers und Adligen, der Versuch, ange­bo­re­ne, an­ererbte oder neu­er­wor­be­ne, neuangemaßte Privilegien gegen die Ansprüche einer nie­de­reren Schicht zu ver­tei­di­gen“[81], und er sieht Neidhart als Integrationsfigur, die vor diesem Hintergrund ein Verspotten erlaubt habe. Allerdings schließen sich Komik und Dif­fa­mie­rung letzt­end­lich nicht aus, sondern im Gegenteil kann Komik als Mittel der Diffamierung in­stru­men­ta­li­sert wer­den. Die Bauern werden gerade durch ihre „performance“ als animalisch, entmensch­licht-triebhaft vorge­führt: Im Sterzinger Neidhartspiel wird z. B. das Lärmen der betrun­kenen Bau­ern um­ris­sen, sie „habent ain wylds Leben/ gröppytzn vnd schreyen“ (Margetts 1982, 194, 916–917), und die sze­ni­schen Darstellungen auf ei­nem Bildstreifen an der nörd­li­chen und südlichen Längs­wand des Festsaales des Anwesens „Tuch­lauben 19“ in Wien (Er­werb im Jahre 1398) präsentieren die Protagonisten „mit plumpen, un­för­migen Körpern“.[82] (Vgl. » B. Das Phänomen „Neidhart“ und » Abb. Wirtshausszene mit Tanz)

    Bramarbasierendes Drohen ist zur Genüge aus der Neidharttradition be­kannt, so aus dem Lied Do der liebe sumer urloup genam: „ich […] slah im mit willen eine vlaschen, daz im die hunt daz hiern ab der erde muzzen naschen“ (Müller/Bennnewitz/Spechtler 2007, Bd. 1, 124, R 16, VII, 9–12). (Ich […] schlage ihm absichtlich auf den Kopf, dass ihm die Hunde das Gehirn von der Erde lecken sollen.) Exaltiertes Prahlen mit stimmlicher Potenz der Bauern deutet im Großen Neidhartspiel auf unpro­fes­sionelle Ein­la­­gen und auf das Im­­pro­vi­sa­tionstalent eines Darstellers, der „singt wz er wil: Wolher ich wil vns ains singen/ Dz peste lieyd dz ich singen kan/ Vnd newlich gelernt han“ (Margetts 1982, 85, 2167–2170). (singt was er will: Wohlauf, ich will uns eines singen, das beste Lied, das ich singen kann, und kürzlich gelernt habe.) Die Relevanz von Gesängen zur Komisierung verdeutlicht der Mönch-Schwank des Großen Neidhartspiels; hier singen sie „all vnder einander“ und dazu „ein yeglicher waz er will“ (Margetts 1982, 65–66, 1546–1553). Als Turnier mit Musikunter­ma­lung beschreibt das Sterzinger Neidhartspiel die gro­ße und lange vorbereitete Schlägerei zwi­schen den Bauern und den um Neidhart ver­sam­mel­ten Rit­tern: „Inn deme greyfft Neydthardt mit Seinn/ Gselln die Pawrn an / Schlahent alle anein-/annder / vnd die Spylleüte pfeyffent die-/weyle“ (Margetts 1982, 185, 592–595). Auch der Bauerntanz artet in eine Schlägerei aus – „Der tantz ist wol ains hawens wert“ (Margetts 1982, 88, 2259) (der Tanz ist gewiss eine Schlägerei wert) – und damit wird überdeutlich die Verbindung von Tanz und Prügel als korporale Ausdrucksmittel sichtbar, wie es auch die Rumpoldspiele andeuten: „So Sy ain weyll/ getanczt haben,/ So stost schlag[-]/ in hauffn den/ peterman“ (‚der verstossen Rumpold‘, Bauer 1982, 410, 829–833). Zur Ridikülisierung trägt die Selbst­cha­rak­teri­sie­rung des Bauerntan­zes im Großen Neidhartspiel durch Bau­ern bei, die diesen als waydeleich be­zeichnen (Margetts 1982, 28, 366). Die Tanz­weis­e wird durch Re­gen­part cha­rak­te­ri­siert: Es ist „Ain hüpsche[r] stoltze[r] trit, nach newen hofsitt“ (Margetts 1982, 78, 1956–1957). (Ein höfischer vornehmer Schreittanz nach neuer Hofsitte.) Die Bauern tanzen ihn „auff den zehen“ (Margetts 1982, 79, 1958), dazu singen sie „Jre lied“ (Margetts 1982, 79, 1961). Das Große Neidhartspiel beschreibt die Musik des Bauern­tan­zes: „Egkereich hebt mit leyren an“ (Margetts 1982, 86, 2209). (Egkereich fängt an die Drehleier zu spielen.) Zum Tanz tragen sie „sporen die klingen“ (vgl. bereits das Lied Urlaub hab der winter (Müller/Bennnewitz/Spechtler 2007, Bd. 2, 63, c 17, V, 10)). Wur­den Bauerntänze und höfische Tän­ze parallel auf der Bühne inszeniert, konnte die­ser Kontrast die Komik stei­gern, denn das Bemü­hen um Hö­fisch­sein der Bauern (Regiean­mer­kungen fordern, man möge „hofelich“ agie­ren, so im Sterzinger Neidhartspiel (Margetts 1982, 170, 51) dürfte in Verbin­dung mit dem entspre­chenden Aufzug schlicht albern ge­­wirkt ha­ben: „Die Kopie ritterlicher Art, wie die reichen Prot­zen sie versuchten, übertrieb na­türlich, wenn auch nicht so stark, wie es die stärker auf­tra­gen­de Satire tut; und so wirkten die bäuerischen Gecken gewiss auch objektiv komisch.“[83] Even­tuell beinhaltet diese Gestal­tung auch eine Kritik an höfischen Sitten durch deren antagonistische Überzeichnung.

     

    Adlige, Bauern und Städter

    Nach der Zusage des ver­kleideten Neidhart an die Bauern im Großen Neidhartspiel, Neidhart werde ihnen ausgeliefert, füh­ren sie „Von fröden“ einen Tanz auf  (Margetts 1982, 95–96, 2494–2496); da die Bauern zu diesem Zeit­punkt bereits invalid sind, dürfte dieser Tanz ent­spre­chend grotesk aus­gefallen sein. Der Au­tor war hier vielleicht bestrebt, „die Bauern, die trotz ihrer Stelzbeine von ihrer Tanzwut nicht lassen konn­ten, mit ihrem ungeschickten Hum­peln, das sie obendrein Hof­tanz nannten […], erst recht lächer­lich zu machen.“[84] Deutlicher noch als in der „peasant charade“[85] der Neid­hart­­lie­der wurden Bauern in den Spielen aktiv in ihrem Aussehen und ihrem Verhalten vor­ge­führt. Am­bi­­gui­tä­ten der Lieddtra­dition wurden in den Spielen vereindeutigt. Vielleicht waren die Neid­hart­spiele im Spät­mit­tel­al­ter gerade des­halb so be­liebt, weil sie dem städti­schen Pu­bli­kum die Mög­lich­keit boten, sich nach beiden Sei­ten hin ab­­zugrenzen, gegenüber dem Adel, aber auch ge­­genüber den Bauern als Projektionsfiguren für ‚ver­bo­te­ne‘ Vitali­tät und Trieb­er­fül­lung, die im Ar­beits­­alltag des Bürgers hinderlich gewesen wären. Sowohl die Adligen (bzw. deren Um­­ständ­lich­keit, Ineffizienz, Rückgriff auf Gewalt zur Problemlösung) als auch die Bauern (u. a. auf­grund des lä­cher­lichen Aneignens höfischer Kultur) standen zur komischen Disposition, was dem Pu­bli­kum ein Ver-La­chen und damit eine Abgrenzung vom Adels- bzw. Bauernstand und eine ei­ge­ne Positio­nie­rung erlaubte. Demnach hatten die Neidhartspiele zumindest für städtische nichtadelige Zuschauer weniger eine di­dak­tische als eher eine in­­te­grative Funktion, und sie boten gerade diesen Zuschauern auch eine Mög­lich­keit zur Selbst­vergewis­se­rung.

[1] Vgl. Linke 1987, 150.

[2] Vgl. Bergmann 1984, 71.

[3] Vgl. Bergmann 1989, 424.

[5] Vgl. Nordsieck 1945, 117.

[6] Alle Übersetzungen des Essays stammen von Reinhard Strohm.

[7] Vgl. Baumgartner 1974, 102–107, 111–112; Daniels 1981, 24, 33, 49; Berger 1985, 29; Hammerstein 1974, 45–47; Hammerstein 1990, 48.

[8] Vgl. bereits Spanke 1930, 143–170; Spanke 1932, 1–22; Chailley 1969, 357–380, mit Bildmaterial; Baumgartner 1974, 102–112; Daniels 1981, 22–336; Berger 1985, 29–31, 34; Hammerstein 1990, 48. Besonders die Springprozession von Echternach ist zu nennen, vgl. van Baaren 1964, 112; Chailley 1969, 357; Baumgartner 1974, 111.

[9] Beispielsweise spricht Heinrich Seuse vom (himmlischen) Tanz in positiver Weise, vgl. Bihlmeyer 1907, 21. Zum Leben Seuses siehe Bihlmeyer 1907, Kap. XXIII, 69 und zu dem  grossen Briefbuch, IX. Brief, 432–433. Siehe auch die bei Banz 1908, 99–100 angeführten Stellen, z. B. „J e s u s   i s t   T a n z m e i s t e r. […] ‚Do  fFrt Ihesus den tancze mit aller megde schar‘“ ( 99); „J e s u s  s p i e l t  u n d  t a n z t  v o r […] ‚Jesus der tanzer maister ist, Zu swanzet hat er hohen list, Er wendeth sich hin, er wendet sich her, Si tanzent alle nach sîner ler …“ ( 99); „H i m m e l s t a n z.  a)  a l l g e m e i n. […] ‘Si (die jungfräuliche Seele) wurd dort [in der Ewigkeit] iren gemahel schowen .., Und für an der megde schar, Da nieman mer an getar, An der junkfrowen tanz‘ […] b)  J e s u s  f ü h r t  d e n  h i m m l i s c h e n  R e i g e n  a n“ (99–100).

[11] Vgl. Dinzelbacher 1990, 22–23.

[12] Vgl. Pfeiffer 1908, 25ff.

[13] Vgl. Thoran 1996, 252–253.

[14] Zum Trierer Osterspiel vgl. Hennig/Traub 1990; Traub 1988.

[15] Largier 2003, 9. Siehe auch Davidson/Davidson 1998. Hier werden als Werkstattbericht praktische Aufführungs­beipiele der Neuzeit beschrieben, z. B. die Visitatio Sepulchri (Fleury), das Sponsus-Spiel von St. Martial, das Lazarusspiel (Fleury), das Peregrinusspiel, der Ludus Danielis (beide Beauvais) und der Ordo Virtutum von Hildegard von Bingen.

[16] Vgl. Schueller 1988, 357.

[17] Vgl. Schueller 1988, 385.

[18] Vgl. Loewen 2004,  248.

[21] Henkel 2004,  42.

[22] Vgl. Prüser 1994, 151.

[23] Vgl. Prüser 1994, 157.

[24] Janota 2004, 357. Vgl. auch Mehler 1981, 247–259, der Differenzierung empfiehlt und präzisiert, dass dicere oft diejenige Vortragsart hervorruft, die in der Liturgie an dieser Stelle gefordert war.

[25] Vgl. Schuler 1951, 13.

[26] Vgl. Schuler 1951, 43.

[27] Vgl. Fichte 1993, 285.

[28] Vgl. Fichte 1993, 285–286.

[29] Vgl. Bergmann 1989, 419.

[30] Linke 1971, 358.

[32] „Das St. Pauler (schwäbische) Neidhartspiel ist […] nach dem 10. Februar 1367 aufgezeichnet wor­den. Ob die Ab­schrift zur Ausstellungszeit des Originals, kurz danach (also noch 1367) oder einige Zeit später (um 1370) ge­macht wurde, muss offen bleiben.“ (Simon 2003, 47)

[33] Vgl. Simon 1969, 6.

[34] Wolfgang Spiewok veranschlagt als zusätzliches Argument, dass die körperlichen Verausgabungen durch Tanz und Prügeleien eine notwendige Erholungspause der Darsteller suggerieren (Spiewok 1997, 13), was aber m. E. nicht zwingend ist, da man über Art und Dauer der jeweiligen Szenen kaum Aussagen treffen kann.

[35] Vgl. Margetts 1982, 284.

[36] Vgl. Gusinde 1899, 107.

[37] Vgl. Schuldes 1974, 99–100.

[38] Vgl. Schuldes 1974, 128–129 (mit Beispielen), 130–132.

[39] Vgl. Spiewok 1988, 189.

[40] Gusinde 1899, 166. „Es fin­det sich keine Szene, die nicht mit einem Tanz ein­ge­­leitet (!) bzw. mit einer Massen­prü­gelei be­­en­det wird.“ (Ten Venne 1989, 145).

[41] Vgl. Marelli 1999, 45  (“una materia tipicamente tirolese […], che si diffuse in tutte le regioni meridionali di lingua tedesca“).

[42] Diese „[z]um Gebrauch des Spielleiters angefertigte und damit bestimmten spieltechnischen Erfordernissen un­­ter­worfene Dirigierrollen […] erlauben einerseits eine relativ zu­verlässige Rekonstruktion des Ins­ze­nie­rungs­hergangs [….]; ande­rer­seits geben sie Aufschluß über die Arbeits­weise mittelalterlicher Regisseure, die Proben und Aufführungen anscheinend in der Regel anhand eines solchen Hilfsmittels leiteten“ (Neumann 1979, 164).

[43] Vgl. Margetts 1982, 303.

[44] Zeilenangabe nach Margetts 1982, 309; zur Problematik von Margetts’ Zählung, der die Zeilen nach der Handschrift umbricht und zählt (mit entsprechend verfälschendem Resultat) siehe Siller 1985, 397–398.

[45] „Durch dreimaliges Längsfalten der Blätter schuf er zunächst drei die Schrifträume markierende Vertikal­li­nien. Der dritte Längsknick bildet nur auf den Versoseiten, wo er als erster erscheint, eine Mar­kier­linie […]. Links vor dem ersten Knick (am Knick im Szenar) trägt er in rot die Sprecherbezeich­nun­gen ein, im Szenar dazu Kurzfassungen von fünf Regieanweisungen […]. An der ersten Falte beginnen mit Versalien die Sprechverse, die sich über den Rest der Seite erstrecken. […] Die Regieanweisungen (rechte Blatthälfte) beginnen in beiden Hef­ten am Mittelknick.“ (Simon 2003, 153–154)

[48] Vgl. Siller 1985, 400–402.

[51] Vgl. Freise 2002,  471–472.

[52] Vgl. Simon 2003, 136.

[53] Arnheim/Arnhem [1395] „Primo te Vastelavont [Februar 23] die gesellen spoelden her Nyters spil 12 quarten [Wein], 3 lb 4ß.“; [1419] nach Februar 2: „Den gesellen die her Nytarts spoel spoelden 25 quarten ad 3 bl 5 fl.“ (Simon 2003, 367, Nr. 2 und 369, Nr. 19).

[54] Simon 2003, 370, Nr. 29; 425, Nr. 350 und 430, Nr. 381; 370, Nr. 31; 443, Nr. 461; 444, Nr. 462; 447, 477–478; 480–483; 385, Nr. 120; 393, Nr. 160; 378–379, Nr. 67 und 68; 378, Nr. 64.

[55] Der Brief Ma­xi­milians ist ab­ge­druckt bei Simon 2003, 392, Nr. 154.

[56] Glier 1965, 555.

[57] Vgl. Böckmann 1949, 187–188.

[58] Vgl. Jöst 1976, 124 ff.; Simon 1968, 458–474.

[59] Vgl. Simon 2003, 24. Mit dem Zeitpunkt der fastnächtlichen Aufführungen im Tiroler Gebiet beschäftigt sich Graß 1956/57, 204–237: „Unter der Regierung Erzherzog Ferdinand II. von Tirol er­ho­ben Kirche und Verwaltungsbehörden ernsthafte Bedenken gegen die volkstümlichen Mummereien, beson­ders ge­gen die lustigen Volksgewohnheiten während der Fastenzeit“ (214). Ein Dekret der landesfürstlichen Re­gie­rung aus dem Jahre 1569 fordert dementsprechend die Verlegung des Brauchs in die Zeit vor Aschermittwoch (215), ohne den Brauch selbst zu problematisieren.

[60] Vgl. Margetts 1982, 276. Der Platzbedarf war enorm durch die vielen zeitgleich agierenden Per­so­nen (und die Sitze für etwa 60 Spieler) gerade bei Tänzen oder Kämpfen.

[61] Vgl. Simon 1977, 97.

[62] Vgl. Margetts 1982, 264–265 und ferner Margetts 1975, 158.

[64] Zu diesen vgl. besonders auch » B. Das Phänomen „Neidhart“.

[66] Die Lieder Neidharts werden, entsprechend dem jahreszeitlich differierenden Natureingang der Lieder, in Sommer- und Winterlieder unterteilt.

[67] Vgl. Vögel 1997, 168.

[68] So z. B. im Lied Do der liebe sumer urloup genam (Müller/Bennnewitz/Spechtler 2007, Bd. 1, 124, R 16, VI).

[69] Vgl. Simon 1975, 114–115. D. h., dass die Vortänzer zu ihrem Tanz selbst sangen.

[70] Mit dem „hovetanzel nah der geigen“ könnte ein Reigentanz gemeint sein; Bauerntänze sind in ikonographischen Belegen um 1500 fast ausschließlich als Paartänze dargestellt.

[71] Bei dem Lied Urlaub hab der winter handelt es sich um das in der Nürnberger Papierhandschrift c aus dem 15. Jahrhundert (entstanden zwischen 1461 und 1466, D-B Ms. germ. fol. 779) notierte Veilchenlied (fol. 149r –149v). » B. Das Phänomen „Neidhart“

[72] Müller/Bennnewitz/Spechtler 2007, Bd. 2, 61–63, c 17.

[73] Die Holzschnitte werden abgebildet in Bobertag 1884; vgl. auch Jöst 1980 und Jöst 2000.

[74] Vgl. Schweikle 1994, 418, 425, 428.

[75] „Was in den Winterliedern zusammenfassend die dörper im negativen Sinne auszeichnet, und was be­son­ders durch das Verhalten ihres Gegenspielers, des höfisch sich benehmenden Ein­zel­­gängers, deutlich wird, ist ihre Unhöfischkeit, sind ihre Verletzungen und Übertre­tungen ritterlich-höfischer Werte, vor allem von mâze und zuht. Neidharts dörper sind […] die Gegentypen, Gegenbilder zu dem ebenfalls zunächst im li­te­ra­rischen Bereich geschaffenen Idealtypus des höfischen Menschen, dem Ritter“ (Schweikle 1994, 423–424).

[76] Blank 1979, 216.

[77] Simon 1968, 458.

[78] Cormeau 1986, 56. Siehe auch Franz 1976. Zur Komik, die durch Ge­gen­bildlichkeit entsteht, siehe Jauß 1976, 103–132.

[79] Vgl. Margetts 1982, 266–268.

[80] Vgl. Mayer 1976, 177–190; Blickle 2004.

[81] Siller 1985, 389.

Lugert 1981 | Stolz 1949


Empfohlene Zitierweise:
Andrea Grafetstätter: „Die Tiroler Spieltradition. Musik und Tanz in geistlichen und weltlichen Spielen „, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/die-tiroler-spieltradition-musik-und-tanz-geistlichen-und-weltlichen-spielen> (2016).