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Trient 93 – Herkunft und Bestimmungsort unbekannt

Reinhard Strohm

Der Hauptteil von Trient 93 (Tr 93-1) enthält 217 Messensätze. Von nirgendwoher in Europa haben wir eine vergleichbar große Sammlung von Messpolyphonie aus der Zeit vor ca. 1480. Die Handschrift » I-Bc MS Q.15 (aus Padua und Vicenza, ca. 1420-1435) ist die zweitgrößte mit 142 Messensätzen. Sicher gab es ähnlich umfangreiche, heute verschollene Handschriften auch an anderen Institutionen, wie etwa Hofkapellen: Aber dies verstärkt nur die Fragen nach Provenienz und ursprünglicher Bestimmung der Musik, die im frühen 20. Jahrhundert kontrovers und z. T. nationalpolitisch diskutiert worden sind (» Kap. Kontroversen um die Herkunft).[7] Manchen Forschern erschien der Dom von Trient als unwahrscheinlicher Bestimmungsort der Handschrift, sei es weil er als geographisch provinziell galt, sei es weil man einer Domkapelle eine so umfangreiche Pflege von Polyphonie nicht zutraute.[8] Die frühe Musikpflege am Trienter Dom würdigte erst Renato Lunelli, der Johannes Wisers Wirken als Domschulrektor seit 1459 (richtig: 1457/58) nachweisen konnte.[9] Das Kriterium eines entwickelten Musiklebens bzw. lokaler Pflege von Polyphonie ist allerdings nicht mit der Überlieferung einer bestimmten Quelle zu verwechseln.[10] Musik kann anderswo entstanden sein als sie weitervermittelt wurde, und anderswo aufgeschrieben als sie aufgeführt wurde. Zwischen Herkunft und Bestimmungsort eines aufgezeichneten Repertoires ist zu unterscheiden. Bei Trient 93-1 wissen wir immerhin, dass Wiser den Inhalt in Tr 90-1 kopiert sowie Nachträge angebracht hat, dass er spätestens seit 1455 in Trient anwesend war, und dass sowohl die Vorlage als auch seine Abschrift am Trienter Dom aufbewahrt blieben. Zudem hilft die neue Datierung der Handschriften (» Kap. Die Datierung von Trient 93 und Trient 90) frühere Hypothesen zu eliminieren.

[7] Zu den Herkunftstheorien der früheren Forschung vgl. auch Spilsted 1982.

[8] Strohm 1996 bietet einen Überblick über mehrstimmige Handschriften für Kirchen und Kathedralen.

[9] Lunelli 1927 (Datum korrigiert bei Wright 2003, 253). Andere Belege Lunellis betreffen Johannes Lupi und die älteren Codices Trient 87 und Trient 92; vgl. auch Lunelli 1967. Zur Frage von Trienter Komponisten vgl. Flotzinger 2004.

[10] Pass 1980 will eine einzelne Wiener Handschrift zur „Erklärung der Trienter Codices?“ heranziehen: vgl. dagegen » Kap. Das Messenfragment des Schottenklosters.