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I-TRcap 93: Eine zentrale Sammlung europäischer Messenmusik

Reinhard Strohm
  • Die Datierung von Trient 93 und Trient 90

    Als Franz Xaver Haberl im Jahre 1885 die Entdeckung von „Sechs Trienter Codices“  (I-TRbc 87-92, Ms. 1374-1379) im Archiv des Trienter Domkapitels bekanntgab, wusste er noch nichts von der Existenz einer siebenten, eng verwandten Musikhandschrift, die erst 1920 ebendort zum Vorschein kam und erstmalig von Rudolf von Ficker 1924 beschrieben wurde.[1] (» Abb. Trienter Codex 93, fol. 64v-65r).

     

    Abb. Trienter Codex 93, fol. 64v-65r / Fig. Trent Codex 93, fol. 64v-65r

    Abb. Trienter Codex 93, fol. 64v-65r

    I-TRcap 93*, Kopist A. Introitus-Abschnitt mit fol. 64v Etenim sederunt principes (2. Vertonung, zweistimmig) zum Fest Inventio Stephani, 3. August, und fol. 65r Intret in conspectu tuo Domine (zweistimmig) zum Fest von St. Afra, 7. August. © Archivio Diocesano, Trento. Mit Genehmigung. / I-TRcap 93*, Copyist A. Collection of introits containing (fol. 64v) Etenim sederunt principes (2nd setting, two voices) for the feast-day of Inventio Stephani, 3 August, and (fol. 65r) Intret in conspectu tuo Domine (two voices) for the feast-day of St Afra, 7 August. © Archivio Diocesano, Trento. With permission.

     

    Zum Erstaunen der Fachwelt enthielt dieser Band, der heute „Trient 93“ (eigentlich I-TRcap 93*, früher B.L.)“ genannt wird,[2] weitgehend dieselben Kompositionen wie der schon bekannte Band Trient 90 (» I-TRbc 90 =1377), weswegen er zunächst als zweitrangige Abschrift desselben angesehen wurde. Margaret Bent zeigte jedoch 1979,[3] dass Trient 93 nicht die Kopie, sondern in Wirklichkeit die Vorlage für einen Großteil der in Trient 90 aufgezeichneten Musik war. Trient 93 ist heute ein Band mit den Abmessungen 317 x 205 mm und 382 Papierblättern, gebunden in 33 Lagen. Der Hauptteil (im Folgenden Tr 93-1) ist eine systematische Sammlung von mehrstimmigen Vertonungen des Messordinariums und Messpropriums.

    Johannes Wiser aus München, der 1455 erstmalig als succentor am Dom von Trient erwähnt wird,[4] kopierte  – mit Ausnahme einer Gruppe von Sequenzvertonungen – den Gesamtinhalt von Tr 93-1 (fol. 1-355) in Trient 90 (fol.1-282, hier Tr 90-1 genannt), wo er auf fol. 365v mit seinem Namen signierte. Er und andere Schreiber fügten an beide Konvolute viele weitere Musiksätze an, die teils noch zur Messpolyphonie gehören, teils zu anderen geistlichen und weltlichen Gattungen (Tr 93-2 bzw. Tr 90-2): » Abb. Musikgattungen in Codex Tr 93.

     

     

    Suparmi E. Saunders und Peter Wright haben durch Wasserzeichenforschung ermittelt, dass die Herstellung beider Handschriftenbände in den Jahren 1450-1456 vor sich ging.[5] Wrights Datierung der Papiere stützt sich auf besonders umfangreiches Vergleichsmaterial, das in eigenen Archivforschungen gesammelt wurde. Sein Ergebnis sieht – vereinfacht – folgendermaßen aus:[6]

    • Trient 93-1 (Messensammlung): 1450-1453
    • Trient 93-2 (verschiedene Gattungen): 1452-1455
    • Trient 90 (ganzer Band): 1453-1456.

    Wichtig ist, dass das Papier von Trient 93-1 (fol. 1-355 der Handschrift) in den anderen Teilen beider Bände nicht wiederkehrt, dass jedoch die in Trient 93-2 verwendeten Papiere auch zur Herstellung des Anfangs von Tr 90-1 (fol. 1-131) benützt wurden. Zur Weiterführung dieser Abschrift und zur Aufzeichnung weiterer Stücke am Ende des Bandes Trient 90 (Tr 90-2) machten die Kopisten von anderen Papieren Gebrauch, die sämtlich noch um 1454-1456 datierbar sind.

  • Trient 93 – Herkunft und Bestimmungsort unbekannt

    Der Hauptteil von Trient 93 (Tr 93-1) enthält 217 Messensätze. Von nirgendwoher in Europa haben wir eine vergleichbar große Sammlung von Messpolyphonie aus der Zeit vor ca. 1480. Die Handschrift » I-Bc MS Q.15 (aus Padua und Vicenza, ca. 1420-1435) ist die zweitgrößte mit 142 Messensätzen. Sicher gab es ähnlich umfangreiche, heute verschollene Handschriften auch an anderen Institutionen, wie etwa Hofkapellen: Aber dies verstärkt nur die Fragen nach Provenienz und ursprünglicher Bestimmung der Musik, die im frühen 20. Jahrhundert kontrovers und z. T. nationalpolitisch diskutiert worden sind (» Kap. Kontroversen um die Herkunft).[7] Manchen Forschern erschien der Dom von Trient als unwahrscheinlicher Bestimmungsort der Handschrift, sei es weil er als geographisch provinziell galt, sei es weil man einer Domkapelle eine so umfangreiche Pflege von Polyphonie nicht zutraute.[8] Die frühe Musikpflege am Trienter Dom würdigte erst Renato Lunelli, der Johannes Wisers Wirken als Domschulrektor seit 1459 (richtig: 1457/58) nachweisen konnte.[9] Das Kriterium eines entwickelten Musiklebens bzw. lokaler Pflege von Polyphonie ist allerdings nicht mit der Überlieferung einer bestimmten Quelle zu verwechseln.[10] Musik kann anderswo entstanden sein als sie weitervermittelt wurde, und anderswo aufgeschrieben als sie aufgeführt wurde. Zwischen Herkunft und Bestimmungsort eines aufgezeichneten Repertoires ist zu unterscheiden. Bei Trient 93-1 wissen wir immerhin, dass Wiser den Inhalt in Tr 90-1 kopiert sowie Nachträge angebracht hat, dass er spätestens seit 1455 in Trient anwesend war, und dass sowohl die Vorlage als auch seine Abschrift am Trienter Dom aufbewahrt blieben. Zudem hilft die neue Datierung der Handschriften (» Kap. Die Datierung von Trient 93 und Trient 90) frühere Hypothesen zu eliminieren.

  • Die Entstehung von Trient 90 nach Peter Wright

    In Publikationen von 1996 und 2003 entwickelte Peter Wright eine Theorie zur Herkunft von Trient 90 (I-TRbc 90), die auch Trient 93 (I-TRcap 93*) einbezog, zumal sie auf zahlreichen Belegen für die in beiden Handschriften verwendeten Papiersorten (unterscheidbar durch ihre Wasserzeichen) beruhte. Diese Papiersorten fand Wright in Archivdokumenten und Bibliothekshandschriften in Süddeutschland und Tirol. Sein Projekt war nun, von den regionalen Fundstellen der Papiere her zu bestimmen, wo Wisers Anteil an den Musikhandschriften geschrieben worden sei. [11]

    Von den acht Papiersorten, die Wiser in Trient 90 beschriftet hat, waren sechs (Wasserzeichen „Ochsenkopf II“, „III“, „IV“ und „V“, „Flusskrebs“, „Turm“) überwiegend oder fast ausschließlich in bayerischen Archiven nachweisbar.[12] Diese Papiere (mit Ausnahme von „Ochsenkopf V“) konnte Wright nicht einmal in Trient selbst auffinden; allerdings gab es für alle von ihnen auch Fundorte in (Nord- und Süd-)Tirol. Das Papier „Flusskrebs“ (crayfish) ist in den Trienter Codices nur in Form eines halben Einzelblattes (Tr 90, fol. 194b) vorhanden.[13] Dieses Fragment könnte leicht durch einen Reisenden zufällig nach Trient gelangt sein. Zwei am Ende von Trient 90 verwendete Papiere („Ochsenkopf VI“, „Halbmonde“) waren in Trienter und Tiroler Archiven wesentlich häufiger als in Bayern. Auch für die Papiere von Tr 93-1 („Kreuz“, „Ochsenkopf I“, „Dreiberg mit Kreuz“) überwogen Tiroler Fundstellen, was angesichts des im Vergleich mit München geringeren Archivvolumens bedeutsam ist. Das Papier „Ochsenkopf I“, mit dem die Schreiber von Tr 93-1 insgesamt 60 Blätter bestritten (» Abb. Wasserzeichen „Ochsenkopf I“), war in sieben verschiedenen Dokumenten im Tiroler Landesarchiv Innsbruck zu finden, jedoch nur in einem einzigen bayerischen Dokument.

     

    Abb. Wasserzeichen "Ochsenkopf I" / Fig. Watermark "Bull's head I"

    Abb. Wasserzeichen "Ochsenkopf I"

    Nach Wright 2003, S. 264. Mit Genehmigung des Autors und Verlages. a: Trient 93, fol. 43r (Version A1), b: Trient 93, fol. 177r (Version A2), c: Tiroler Landesarchiv Innsbruck, U. I3719 verso (Version A2), datiert 14. Dezember 1450. / From Wright 2003, p. 264.  With permission of the author and publisher. a: Trent 93, fol. 43r (version A1), b: Trient 93, fol. 177r (version A2), c: Tiroler Landesarchiv Innsbruck, U. I3719 verso (version A2), dated 14 December 1450

     

    Wright folgerte aus diesen Informationen, dass Johannes Wiser die Kopierarbeit in seiner Heimatstadt München begonnen habe, da die von ihm verwendeten Papiersorten dort besonders intensiv zirkulierten.[14] Er sei zu irgendeinem Zeitpunkt vor dem 30. Juli 1455 von München nach Trient berufen worden, da er an diesem Tag erstmalig als succentor „in der Stadt Trient“ erwähnt wird („succentor scolarum in dicta civitate“).[15]

    Von dieser Rekonstruktion der Ereignisse ist auch die Messensammlung Tr 93-1 betroffen, die sich an denselben Orten befunden haben müsste wie Wiser selbst, nämlich zuerst in München und dann in Trient.[16] Wrights Hypothese führt unvermeidbar zu dem Schluss, dass Johannes Wiser und die Handschriften Trient 93 und Trient 90 (in verschiedenen Stadien der Entstehung) alle von München nach Trient reisten. Es ist unsicher, wann das gewesen sein könnte. In Wirklichkeit wissen wir nicht einmal, ob Wiser Trient von München aus oder von anderswoher erreicht hat.

  • Wasserzeichen und Geographie: ein Methodenproblem

    Von der Verbreitung von Papiersorten auf die geographische Herkunft einzelner Manuskripte zu schließen, ist keine anerkannte Methode der Papierforschung. Zu gut ist bekannt, dass Papier im Handel weit verbreitet wurde. Einige der in Trient 90 verwendeten Papiere zirkulierten auch z.B. im Baltikum. Die in Trient 93 und 90 verwendeten Papiere „Ochsenkopf I-VI“, „Kreuz“, „Dreiberg mit Kreuz“ und „Turm“ stammten aus norditalienischen Papiermühlen.[17] Sie wurden über den Brenner („Pass Lueg“) sowie über Inntal und Fernpass nach München, Augsburg und Nürnberg verkauft. Kleriker, Gelehrte und Diplomaten dürften Papier auf Reisen mitgeführt haben, unter ihnen vielleicht Johannes Wiser und andere Mitglieder des Trienter Klerus, die z.T. in Österreich, Bayern, Schwaben und im Veneto zuhause waren.

    Trotzdem sei Wrights Methode nicht pauschal zurückgewiesen, sondern als Anstoß zum Überdenken herkömmlicher Methoden begrüßt. Vielleicht ist sie zusammen mit anderen Kriterien (z.B. biographischen Daten) und mit wirklich flächendeckender Materialermittlung brauchbar. Doch bisher liegt eine statistische Verzerrung vor.[18] Es war zu erwarten, dass die Trienter und Tiroler Archive weniger Dokumente anzubieten hatten als die Bayerische Staatsbibliothek und die Kurbayrischen Abteilungen des Hauptstaatsarchivs München, auf die Wright seine Recherchen konzentrierte.[19] Dass einige Papiere von Trient 90 in Trienter Archiven nicht vorkommen, dürfte als einfache Überlieferungslücke erklärbar sein. Wahrscheinlich gibt es von der Trienter Verwaltung ohnehin weniger datierte Papierdokumente aus dieser Zeit, weil man vor ca. 1460 wichtige Urkunden noch öfter auf Pergament schrieb als an weltlichen Höfen. Dass Wiser die fraglichen – italienischen – Papiere in Trient selbst erworben hat, ist keineswegs unwahrscheinlich: Wenn er (wie heute allgemein angenommen) seine Abschrift in eigenem Interesse vornahm, konnte er dafür nicht auf die bischöfliche Kanzlei zurückgreifen. Doch noch mehr als dieses Fehlen in Trienter Archiven gibt zu denken, dass die drei Papiersorten von Tr 93-1 in Innsbrucker Dokumenten um 1450-1451 so häufig sind (10 Belege).[20]

  • War Trient 93 für St. Stephan in Wien bestimmt?

    Rudolf Flotzinger hat vorgeschlagen, dass die Handschrift Trient 93 (I-TRcap 93*) – in ihrer Gesamtheit oder jedenfalls ihr Hauptteil – in Wien für die Kollegiatkirche St. Stephan angefertigt wurde.[21] In ihrem vollen Umfang (2014) begründet er diese These mit dreierlei Argumenten: Erstens mit der Ablehnung von Peter Wrights geographischen Schlussfolgerungen aus Papiersorten,[22] zweitens mit einer liturgischen Analyse des Repertoires von Trient 93,[23] und drittens mit Daten und Vermutungen zum Werdegang der Trienter Kleriker Johannes Wiser und Johannes Prenner, die vielleicht beide vor 1455 in Wien lebten.[24]

    Der zweiten Gruppe von Argumenten muss widersprochen werden. Zwar betont Flotzinger zu Recht den planvollen Charakter der Messensammlung Tr 93-1, die gleichsam den Inhalt von Graduale und Kyriale (d.h. Choralhandschriften) nachahmt und dadurch den Versuch ermutigt, ihren Bestimmungsort von den gewählten liturgischen Texten abzulesen.[25] Jedoch genügt es nicht, die Kompatibilität der hier vorhandenen liturgischen Musik mit dem Ritus von St. Stephan festzustellen, da sie für andere Kirchen ebensogut geeignet sein könnte, was nur durch einen breiteren Vergleich verifiziert werden kann. Ein Vergleich des Inhalts von Tr 93-1 mit 19 regionalen Choralquellen (» Kap. Choralquellen und Tr 93-1) erbringt sogar deutliche Argumente gegen St. Stephan als Bestimmungsort.

  • Choralquellen und Tr 93-1

    Der musikalische Inhalt von Tr 93-1 (I-TRcap 93*, fol. 1-355) ist nach Gattungen geordnet. Er besteht aus: Messantiphonen (7), Introiten (61), Kyrie (39), Gloria (37), Sequenzen (15), Credo (24), Sanctus (20) und Agnus Dei (9). Von diesen Gruppen sind für eine liturgische Lokalisierung die Introiten und Sequenzen des Messpropriums geeignet, da ihre Texte auf bestimmte Festtage und Heilige Bezug nehmen. Das Messordinarium bietet keine solchen textlichen Hinweise. Die Kyries von Tr 93-1 jedoch, die nicht zu den folgenden Ordinariumsvertonungen gehören, bearbeiten meist Kyrie-Choralmelodien, deren Verbreitung in damaligen Choralbüchern variiert, so dass sie zu einer Ortsbestimmung dienen könnten. Die hier folgenden Vergleiche der Introiten, Sequenzen und Kyries von Tr 93-1 mit regionalen Choralquellen (» Kap. Drei liturgische Tests) sollen nicht den Entstehungsort der Kompositionen ermitteln, sondern den kirchlichen Gebrauch, für den ihre Aufzeichnung in Tr 93-1 bestimmt oder geeignet war.

    Die einzelnen Introitus- und Sequenzvertonungen sind in der Reihenfolge des Graduales geordnet (Temporale, Sanctorale, Commune sanctorum). Doch kann die liturgische Zuordnung eines solchen Stücks unklar bleiben, da erklärende Rubriken fehlen und nicht wie im Graduale andere Gesänge desselben Festformulars daneben stehen.

    Folgende Choralquellen wurden zum Vergleich mit Tr 93-1 herangezogen:[26]

  • Drei liturgische Tests

    Introiten. Alle vertonten Introitustexte in Tr 93-1 (I-TRcap 93*) passen zum Gebrauch in der Kirchenprovinz Salzburg, die u.a. die genannten Diözesen Passau, Salzburg, Freising, Regensburg und Brixen umfasste. Es fehlen jedoch Texte für spezielle Diözesanheilige wie Korbinian (Freising), Rupert und Virgil (Salzburg) oder Koloman (Melk/Passau). Die üblichen Introiten für Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Fronleichnam, Kirchweih und Maria sind durch jeweils mehr als zwei Vertonungen hervorgehoben. Dagegen hat der Passau-Wiener Diözesanpatron Stephan nur zwei Vertonungen des üblichen Introitus Etenim sederunt, beide eingeordnet zum Fest Inventio Stephani (3.8.). Im Sanctorale-Teil fehlen Introiten zwischen In medio ecclesie (Joh. Ev., 27.12.) auf fol. 59r und De ventre matris (Joh. Bapt., 24.6.) auf fol. 59v. Flotzinger schlägt als Bestimmung für In medio ecclesie auch St. Ivo (19.5.) vor, den Schutzheiligen der Wiener Juristenfakultät, und für Sapientiam sanctorum Cosmas und Damian (27.9.), Schutzheilige der Mediziner; bei Johannes Ev. (In medio ecclesie) denkt er an die Theologen und bei Katharina (Loquebar de testimoniis) an die Artistenfakultät.[32] Diese Identifizierungen, die die Sammlung auf die Universität Wien und deren Fakultätsfeste beziehen sollen, sind willkürlich: Die Introiten In medio ecclesie und Sapientiam sanctorum waren für viele Heilige im Gebrauch, und Gesänge zur Verehrung des Evangelisten Johannes und Katharinas sind in allen Gradualien des Spätmittelalters zu erwarten. Entsprechendes gilt für den textlos nachgetragenen Introitus Gaudeamus omnes (fol. 356v-357r), den Flotzinger mit Allerheiligen und damit der Kollegiatstiftung der Stephanskirche verknüpfen will.[33]

    Nach Flotzinger (S. 45) hätte sich der Kopist mit der Einordnung von Intret in conspectu (für mehrere Märtyrer) zwischen Inventio Stephani (3.8.) and Laurentius (10.8.) geirrt. Er habe das Fest von Abdon und Sennen (30.7.) gemeint. Es liegt aber kein Irrtum vor: 7.8. war der Festtag der hl. Märtyrerinnen Afra und Gefährten, der in der gesamten Region, besonders aber in Augsburg (Diözesanpatrozinium) und Tirol begangen wurde; allein in Bozen gab es zwei Afra-Patrozinien. Doch in den Passauer Choralquellen, und in der Diözese Augsburg selbst, findet man andere Introitustexte, z.B. Me expectaverunt  in St. Stephan, Wien (Cod. 4712). Intret in conspectu  wird für St. Afra gesungen im 1486 datierten Graduale der 1469 gegründeten Diözese Wiener Neustadt (fol. CXLVIIIv), einem neu zusammengestellten Ritus; im Graduale von Brixen (fol. 111r); und im Graduale C.60 von Schloss Tirol (fol. 45v).[34] Dass Tr 93-1 diesen verbreiteten Introitustext durch die besondere zeitliche Einordnung für Afra vorsieht, bedeutet wohl eine Sonderstellung der Heiligen am Bestimmungsort der Handschrift.

    Sequenzen. Die relativ kleine Sammlung von Sequenzvertonungen (15) in Tr 93-1 bietet elf verschiedene Texte an, die in der Region allgemein gebräuchlich waren.[35] Die Sequenzensammlung favorisiert keine bestimmte Diözese; relativ viele Konkordanzen finden sich in A- Wn Cod. 13713 (Passau), dem Moosburger Graduale D-Mu Hs. 2o 156 (Freising) und dem Brixener Graduale US-PHu Ms. 1572. Dagegen bietet Tr 93-1 keine Sequenz für Vigilius (Trient) oder Korbinian (Freising), nicht einmal Gloriosa fulget dies für Rupert, Ulrich, Wolfgang oder Valentin.[36] Es fehlen auch zwei an St. Stephan in Wien (A-Wn Cod. 4712) belegte und in der Diözese Passau übliche Sequenzen: Hanc concordi famulatu  für Stephan, und Laudes deo salvatori  für Ostern. Statt der letzteren steht hier Victime paschali laudes, und für Stephan gibt es gar keine Sequenz. Dass niemand in Wien diese am Ort so wichtigen Sequenztexte hätte vertonen können, oder dass man sie von der Niederschrift in einer lokalen Musiksammlung ausgenommen hätte, ist gleichermaßen unwahrscheinlich. Somit muss St. Stephan in Wien als Bestimmungsort der Handschrift ausgeschlossen werden. 

    Kyrie. Antonio Chemottis Edition der Kyrie von Tr 93-1 identifiziert zwölf verschiedene Choralmelodien, die in 34 der 39 Kyriesätze verarbeitet sind.[37] Die meisten Melodien sind hier oder in Konkordanzen bestimmten Festrängen zugeordnet, wie z. B. Kyrie solemne, Kyrie dominicale, de apostolis, de Beata Virgine, usw. Allerdings sind diese Zuordnungen in fast jeder Choralquelle etwas verschieden. Die Kyriemelodien von Tr 93-1 sind in der süddeutsch-österreichischen Region relativ gleichmäßig vorhanden; jedoch muss St. Stephan in Wien auch in dieser Hinsicht ausgeschlossen werden. Denn von den in Cod. 4712 (Nachtrag auf fol. 110r) eingetragenen fünfzehn Kyriemelodien werden zwar neun in Tr 93-1 verwendet, aber die an St. Stephan für Hochfeste und Sonntage bestimmten drei Melodien (Kyrie solemne, maius dominicale und dominicale )[38] fehlen in der polyphonen Sammlung. Siebzehn Kyriesätze in Tr 93-1 sind Komponisten zuweisbar, vor allem Guillaume Du Fay; siebzehn Sätze sind in älteren polyphonen Quellen vorhanden, davon neun im Aosta-Codex (» I-AO, Cod. 15).

    Fazit. Die Choralmelodien, die den hier untersuchten Vertonungen in Tr 93-1 zugrundeliegen, passen zu den Choralquellen der Kirchenprovinz Salzburg, am ehesten der Diözese Passau. Zum Gebrauch von St. Stephan in Wien passen sie nicht. Spezielle regionale Sondergebräuche scheinen überhaupt vermieden zu sein – mit Ausnahme einer in Tirol nachweisbaren Bestimmung des Introitus Intret in conspectu  für St. Afra.[39]

  • Zum Repertoire von Trient 93

    Die Messensammlung Tr 93-1 (vgl. »Abb. Musikgattungen in Codex Trient 93) ist einzigartig durch ihre 61 Introiten. Polyphone Vertonungen dieser Propriumsgattung wurden in den 1430er Jahren an der königlichen Hofkapelle Sigismunds sowie am Konzil von Basel eingebürgert (z.B. durch Johannes Brassart); auf diese von den Habsburgern weitergeführte Praxis verweisen die Introiten in den Handschriften Aosta ( » I-AO Cod. 15), Trient 87 und 92 und St. Emmeram (» D-Mbs Clm 14274), mit denen Tr 93-1 zehn Konkordanzen hat.[40] Dass hier aber viele neue Vertonungen dazukommen, könnte auf eine neue Bestimmung des Repertoires hinweisen. Bei den Kyriesätzen sind Konkordanzen mit den genannten Handschriften zahlreicher: Man schöpfte aus einem Fundus von Messpolyphonie, der vor allem habsburgischen Institutionen zur Verfügung stand.

    Nur drei der (sämtlich anonym aufgezeichneten) 15 Sequenzvertonungen sind in älteren Quellen auffindbar: ein Sancti spiritus assit, Du Fays Lauda Sion und ein Lauda Sion (fol. 226v) von Hermann Edlerawer (» Notenbsp. Lauda Sion, Edlerawer). Das Letztgenannte steht mit Zuschreibung im St. Emmeram-Codex (Nr. 255) und dürfte zu Wiener städtisch-kirchlichem Repertoire gehören. Dasselbe gilt vielleicht für ein Kyrie von Petrus Wilhelmi (fol. 94v; St. Emmeram Nr. 13). Doch sei die Wiener Verbindung nicht überschätzt, da Konkordanzen mit Pötzlingers Handschrift meist auch im habsburgischen Repertoire zu finden sind (» Kap. Wiener Kirchenmusik in den mittleren Trienter Codices?). Petrus Wilhelmi diente bei Kaiser Friedrich III. (vgl. » F. Musiker aus anderen Ländern).

    Anders steht es mit den übrigen Sätzen des Messordinariums vom Gloria bis zum Agnus Dei. Sie sind mehrheitlich über fremde cantus firmi komponiert; viele gehörten zu ursprünglichen Ordinariumszyklen, die in Tr 93-1 in Einzelsätze bzw. Sanctus-Agnus-Paare zerteilt aufgeschrieben sind.[41] Die ursprünglichen Kyries dieser Zyklen sind nicht mitüberliefert: Nach Margaret Bent hat Schreiber „A“ die Kyriesammlung offenbar angefertigt, bevor (durch Schreiber „B“?) zahlreiche über cantus firmi komponierte Messzyklen verfügbar wurden.[42]

    Viele dieser Ordinariumsvertonungen in Tr 93-1 stammen aus Westeuropa, oft aus England. Obwohl sie in der Mehrzahl anonym aufgezeichnet wurden, sind zwölf Komponisten feststellbar: die Engländer Benet, Dunstaple, Power, Soursby und de Anglia [?]; die Franzosen/Niederländer Du Fay, Binchois, Lantins, Puilloys, Loqueville, Brassart und Franchois. Westeuropäischer Einfluss in der Messkomposition (u.a. vermittelt durch das Basler Konzil) war schon in den habsburgisch beeinflussten Handschriften Aosta und Trient 87 und 92 prominent.[43] Konkordanzen mit diesen älteren Quellen sind bei den cantus-firmus-Kompositionen von Tr 93-1 jedoch sehr selten. Die ersten sechs hier zerteilt aufgeschriebenen Messzyklen, beginnend mit der berühmten englischen Missa Caput, scheinen um 1452 aus Ferrara an den Habsburgerhof gekommen zu sein.[44] Andererseits dürften drei Zyklen oder Satzpaare aus der böhmisch-österreichischen Region stammen, und etwa fünf weitere könnten ebenfalls regionaler Herkunft sein.[45] Die Messzyklen repräsentieren auch musikalisch einen Neuanfang in der Region.

    Von woher auch immer das Repertoire von Trient 93 und Trient 90 zusammengekommen ist: Am Ort der Niederschrift müssen mehrere verschiedenartige Musikvorlagen existiert haben und weiterhin verfügbar geblieben sein.[46] Selbst die umfangreiche Sammlung von Messzyklen in Tr 93-1 war wohl Auswahl, wie das Vorkommen versprengter Teile dieser Zyklen in den Codices Trient 87 und 88 nahelegt.

    Der Schlussteil von Trient 93 (Tr 93-2), der zeitgleich mit dem Anfang von Trient 90 von anderen Kopisten geschrieben wurde, ergänzt das Programm des Hauptteils: Diese drei Lagen (XXXI-XXXIII) sind eine Art mehrstimmiges Hymnar,[47] untermischt mit weltlichen Liedern und Cantionen: alles Gattungen, die in Tr 93-1 fehlten, aber in Trient 90 nicht mehr dupliziert wurden.

  • Die Arbeit der Kopisten an Trient 93

    Tr 93-1 ist im Wesentlichen von zwei Kopisten geschrieben.[48] Kopist „A“ leistet zunächst die Hauptarbeit; „B“ trägt einiges zusätzlich ein, darunter Textunterlegungen zu den Notenkopien von „A.“ Beginnend mit den Ordinariumszyklen (fol. 126v-) gleicht sich dieses Verhältnis langsam aus.[49] In Tr 93-2 ist Lage XXXI einheitlich von „D“ beschriftet, der sonst im Band nicht erscheint; Kopist „X“ schreibt die meisten Stücke in den Lagen XXXII-XXXIII (fol. 366-382).[50] In Tr 93-1 trägt er ein Kyrie (fol. 107v-108r) und ein Gloria (fol. 210v-211r) nach. (Vgl. » Abb. Musikgattungen in Codex Trient 93.)

    Johannes Wiser fügt am Ende der Kyrieserie (fol. 123v-125v) drei Kyrie an, davon eines aus der Missa tube von Jean Cousin (fol. 123v-124r). Er „firmiert“ auf fol. 125v mit der Unterschrift „Scriptum notatum…“: Wahrscheinlich war „per me Johannem Wiser“ gemeint, ist aber nicht ausgeschrieben bzw. radiert. Wiser schreibt sonst in Trient 93 nur noch das Gloria (fol. 199v-201r) zu Cousins Missa tube und ein fragmentarisches Gloria von Du Fay, fol. 234v.[51]  

    Kopist „E“ fügt auf fol. 30v-36r Teile der Missa sine nomine von John Bedyngham ein;[52] vielleicht schrieb er auch zwei nachgetragene Stücke auf fol. 16r-18r. Deren zweites ist ein Magnificat (hier anonym) von Christofferus Anthonii von Molveno, einem Trienter Notar.[53] In Tr 90-2 notiert Wiser drei Kompositionen von Anthonii, darunter (mit Zuschreibung) das Magnificat (fol. 375v-376r). Falls diese Niederschrift eine Kopie nach Tr 93 ist, dupliziert Wiser eine Eintragung, die vor ihm in Trient selbst gemacht worden sein muss.

    Wiser hat in seiner Kopie in I-TRbc 90 die Serie der Sanctus und Agnus-Vertonungen, die er aus Tr 93-1 kopierte, auf fol. 261v in einem Sanctus unterbrochen; Peter Wright zufolge geschah diese Unterbrechung, als Wiser in München den Ruf nach Trient erhielt.[54] Kopist „X“, der auch an Tr 93-2 beteiligt war (s. oben), vervollständigte dann das Sanctus und die ganze Serie bis fol. 282r. Nach Wright hat Kopist „X“, ebenso wie Wiser selbst, um „1453? – 1454 – 1455?“ gearbeitet.[55] Wäre dies in München gewesen, so hätte er sowohl Trient 93 als auch Trient 90 in ihrem jeweiligen Zustand nach Wisers Abreise zurückbehalten und wäre später mit beiden Handschriften nach Trient nachgereist. Viel sinnvoller erscheint die Annahme, dass er in Trient arbeitete, wo er sowohl das Hymnar in Tr 93-2 als auch die Sanctus-Agnus-Serie in Tr 90-1 vervollständigte.

    Wright wollte zeigen, dass Johannes Wiser bereits Zugang zu Tr 93-1 hatte und dessen Inhalt in München duplizierte, bevor er nach Trient kam. Wann er dort ankam ist unbekannt; wir haben nur einen terminus ante quem mit dem 30. Juli 1455 für seine Anwesenheit in Trient, die schon 1453 oder 1454 begonnen haben könnte. Dies entspräche genau Wrights vorgeschlagener Datierung von Wisers Arbeitsbeginn an Trient 90: frühestens 1453, vielleicht 1454 oder sogar Frühjahr 1455.[56] Die Quellen selbst bieten also keinen Grund für die Annahme, Wiser habe Trient 90 anderswo als in Trient selbst kopiert. Ebensowenig gibt es Nachweise für Wisers Aufenhaltsorte vor Trient. Das von ihm beschriftete Papier wurde zwischen 1453 und 1456 nicht nur in Bayern, sondern auch andernorts verwendet.

  • Identitäten und Berufswege

    Außer Johannes Wiser ist keiner der an den Handschriften Trient 93 und Trient 90 beteiligten Musiker namentlich bekannt. Rudolf Flotzinger sieht in „Johannes Prenner de Tridento“, der am 30. Juli 1455 als „artis grammatice professor“ und Schulrektor die Kaplanei von St. Katharina am Trienter Dom erhielt, den ursprünglichen Besitzer und vielleicht einen der Schreiber von Trient 93.[57] Die Kaplanei war durch den jüngst erfolgten Tod von Magister Andreas Augenlicz freigeworden.[58] Ob Augenlicz auch die Schulmeisterstelle besessen hatte, ist fraglich. Prenner könnte sie schon vorher (1454?) von jemand anderem übernommen haben; auf ein kirchliches Einkommen mussten Kleriker oft länger warten als auf die damit verbundenen Aufgaben.[59]

    Magister scholarum (Schulmeister bzw. Schulrektor)[60] und succentor (letzterer auch „Subkantor“, „Junkmeister“ oder „Junger“ genannt) waren ein übliches Zweigespann in Kirchen der Region, wie z. B. an der Marienpfarrkirche in Bozen, am Schottenkloster und an St. Michael in Wien; sie wurden vom Pfarrer bzw. Prior gemeinsam angestellt oder der Schulmeister durfte selbst einen succentor präsentieren.[61] An St. Stephan in Wien war dem Schulrektor ein (Schul-)Kantor unterstellt, der seinerseits einen Subkantor hatte.[62] Natürlich war der Schulmeister für den Lateinunterricht verantwortlich, der Kantor oder Subkantor für den Kirchengesang. Johannes Wiser als succentor Prenners in Trient dürfte von diesem präsentiert worden sein, vielleicht genau zu dem Zeitpunkt, als Prenner vom Domkapitel unter Bischof Georg Hack zum Schulmeister ernannt worden war. Wisers eigener succentor seit 1458 war Peter Schrott, der ihm ebenso 1465 als Schulrektor nachfolgte wie Wiser vorher Prenner. Diese hierarchische Personalstruktur lässt vermuten, dass Wisers Verantwortung für die Trienter Musikhandschriften zuerst mit Prenner und dann vielleicht mit Schrott geteilt war.[63]

    Johannes Prenner ist nach Flotzinger identisch mit „Johannes Prenner de Prawnaw“, der am 13. Oktober 1447 an der Wiener Universität immatrikuliert wurde; ihm war bereits am 25. Oktober 1446 die Kaplanei des St.-Ursula-Altars in St. Stephan (vorläufig) verliehen worden, und in dieser Funktion ist er 1447 und noch am 26. November 1453 erwähnt.[64] Flotzinger bringt unter Hinweis auf die Wiener Schulordnung von 1446 Prenner mit der Stephansschule und Kantorei in Verbindung, vielleicht als Subkantor.[65] Freilich fehlen hierfür die Belege.

    Johannes Wiser ist vielleicht mit „Johannes organista de Monaco“ identifizierbar, der im Herbstsemester 1454 in Wien immatrikuliert wurde.[66] Wiser stammte aus München: Das Ernennungsdokument für den Trienter Dorotheenaltar vom 3. Juni 1459 bezeichnet ihn als „honestus et discretus iuvenis Dominus Iohannes Wisser de Monaco Frisingensis diocesis, magister et rector scholarum“.[67] Wenn Wiser mit „Johannes organista de Monaco“ identisch ist, muss er sein Studium bereits 1454 oder 1455 abgebrochen haben, um die Stellung in Trient anzutreten. Für die Position des Schulrektors hatte er anschließend einen Universitätsgrad und die Priesterweihe zu erwerben (um 1456-57?). Dass Wiser Organist gewesen sei, ist nirgends belegt; aber auch Johannes Lupi und Wolfgang Chranekker, die Mensuralhandschriften anfertigten, waren Organisten (» K. A-Wn, Cod. 5094).

    Die Hypothese, dass Prenner, Wiser und vielleicht Schrott vor ihrer Zusammenarbeit in Trient an der Universität Wien studiert hatten, passt mit damaligen Berufswegen gut zusammen. Ungesichert bleibt die Annahme, dass einer von ihnen an der Stephanskantorei gewirkt hätte. Und gar nichts wissen wir über Prenners individuelle Stellung zur Musik bzw. seine vermutete persönliche Beteiligung an den Trienter Codices. Es gab wohl auch damals unmusikalische Schulrektoren. Wisers Beteiligung ist dagegen auch unter dem Aspekt zu sehen, dass er als succentor mitsingen und die vokale Mensuralmusik einstudieren musste.

  • Das Bozner Fragment (BZ)

    Das von Giulia Gabrielli entdeckte Musikfragment „BZ“ (I-BZmg o. Sign.) im Archiv der Abtei Muri-Gries (Bozen/Bolzano) stimmt physisch so sehr mit Trient 93 (I-TRcap 93*) überein, dass eine gemeinsame Herstellung und sogar gemeinsame Bestimmung beider Manuskripte zu vermuten ist.[68] Nach Gabriellis Beschreibung (» F. SL. Bozner Fragment) bildeten die zehn Papierblätter eine innere Einbandverstärkung eines *Urbars* der Pfarrkirche von Gries bei Bozen, mit den Datierungen 1506-1628. Die Pfarrkirche war damals dem Augustinerstift Gries („in der Au“) inkorporiert: Das Urbar könnte also im Stift selbst angelegt worden sein. Weitere Teile des Fragments oder ähnliche Manuskripte sind im Raum Bozen bisher nicht aufgetaucht. Drei der vier Kopistenhände des Fragments („A“, „B“ und „X“) sind maßgeblich an Trient 93 beteiligt; eine der Papiersorten („Dreiberg mit Kreuz“), datierbar ca. 1450-1453, bildet das Material für fol. 69r-176v und 189r-343v von Tr 93-1.[69]

    Jedoch ist BZ ganz anderen Gattungen gewidmet als Tr 93-1: nämlich der dreistimmigen Vesperantiphon und weltlicher Musik. Die vier vorhandenen Lagen enthalten 13 Marien- und Hoheliedantiphonen (überwiegend von englischen Komponisten wie Dunstaple, Plummer, Forest, Bedyngham, Piamour), und zwei Vertonungen der Vesperantiphon zu Pfingsten, Veni sancte spiritus, reple. Das Vorhandensein von Piamours Quam pulchra es (auch in I-TRbc 92 enthalten) verstärkt die Möglichkeit, dass der Komponist in der Region anwesend war.[70] Eines der beiden Ibo michi ad montem ist die englische Komposition, die im St.-Emmeram-Codex (D-Mbs Clm 14274, Nr. 84) und in einem Fragment aus Ferrara überliefert ist (» F. Europäische Musik im Raum Österreich).[71] Dazwischen erscheinen unvermittelt zwei Stimmen der Ballata O rosa bella, zugeschrieben an Bedyngham („wenigan“). Die scherzhaften Beischriften „tenor gemellicus“ und „tenor duellicus“ erinnern daran, dass die Rubrik „gemell“ (Gymel) auch im St. Emmeram-Codex (Nr. 246) vorkommt. Das allererste (nachgetragene) Stück in Trient 93, fol. 1r, ist ein Contratenor zu O rosa bella.[72] In Trient 90 und 89 gibt es mehrere Niederschriften von Varianten des Liedes sowie eine darauf beruhende cantus-firmus-Messe.

    Am auffallendsten scheint, dass in diesem Zwillingsmanuskript von Tr 93 alle Stücke in alphabetischer Ordnung ihrer Textanfänge notiert sind. (Dies erlaubt Vermutungen zum originalen Umfang der Quelle, der ca. 10 Lagen nicht überschritten haben dürfte.) Sogar das weltliche Liebeslied O rosa bella ist alphabetisch eingeordnet, zwischen den kirchlichen Antiphonen Nigra sum und Qualis est dilectus. Ist diese Missachtung des Gattungsunterschieds ein gedankenloser Irrtum, oder hat sie einen Sinn? Vielleicht dann, wenn auch O rosa bella als Marienlied im Vespergottesdienst gesungen worden wäre. Wo könnte das gewesen sein?

  • Patrone und Protektionen

    Die Entstehung der Trienter Codices 93 und 90 (I-TRcap 93*; I-TRbc 90) sowie der folgenden Bände I-TRbc 88 und I-TRbc 89 wurde in der älteren Forschung nicht nur aus nationalpolitischen Gründen verzerrt diskutiert (» Kap. Kontroversen um die Herkunft):[73] Man hatte auch zu unklare Vorstellungen von der Entstehungschronologie einerseits, und von den Protektionssystemen andererseits. Guido Adler und Owald Koller folgerten schon 1900 aus verschiedenen Anhaltspunkten, dass diese Handschriften „in und für Trient“ geschrieben worden seien, und dass ein bischöflicher Auftrag zugrundegelegen habe. Aber nicht der„schwache, beständig in politische Händel verwickelte Georg“ (Hack), sondern sein Nachfolger Johannes Hinderbach, ein “Freund der Wissenschaften“, sei zumindest für Wisers Arbeit an den Codices verantwortlich gewesen.[74] Von diesen drei Aussagen könnten die ersten beiden vielleicht zutreffen. Die dritte jedoch muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Bischof Georg Hack kommt als Auftraggeber viel eher in Frage als Hinderbach: Erstens, weil Hack bis 1465 Bischof war und Hinderbach erst 1455 Dompropst wurde (ohne Anwesenheitspflicht);[75] zweitens, weil zwischen Musikpflege und „schwacher“ Politik kein nachweislicher Widerspruch besteht, und drittens vor allem, weil Prenner, Wiser und Schrott ja unter Bischof Hack angestellt wurden.

    Hinderbachs Einfluss ist damit keineswegs geleugnet: Er dürfte sich nur auf anderen Ebenen abgespielt haben als derjenigen der bischöflichen Verwaltung. Johann Hinderbach,[76] Humanist und Mitarbeiter von Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II. ab 1458), war seit 1449 Orator (Gesandter) Friedrichs III. beim Papst und seit 1452 Rat der Kaiserin Eleonore; er war in Wien ansässig, besaß seit 1449 die Pfarre Mödling und betreute wahrscheinlich als Verweser auch die Dechantei von St. Stephan, der seit 1475 statutengemäß die Pfarre Mödling gehörte. Johanns Bruder Konrad jun. (gest. 1452) studierte an der Universität Wien, sein Bruder Heinrich (gest. 1463) war zuletzt Wiener Stadtkämmerer.[77]

    Johann Hinderbachs Verbindung zu Friedrich III. war vielleicht auch musikalischer Art: Die Italienreise Friedrichs 1452 zu seiner Verheiratung mit Eleonore von Portugal und Kaiserkrönung (am 19. März 1452) in Rom, an der 15 Kapellmusiker teilgenommen haben sollen,[78] begann mit dem Besuch von Hinderbachs Doktorpromotion am 14. Januar in Padua; sie endete auf der Rückreise (Mai 1452) mit einem Besuch in Ferrara bei Markgraf Borso d’Este, den der Kaiser zum Herzog von Modena und Reggio erhob. Vom Este-Hof in Ferrara stammen vermutlich mehrere Messkompositionen in Tr 93-1, vor allem die ersten sechs Zyklen.[79] Obwohl Hinderbach angeblich mit einer „blechernen Stimme“ sang, ist er der wahrscheinlichste Vermittler von Musik der kaiserlichen Hofkapelle, deren Vorhandensein in den Handschriften Trient 93 und 90 vermutet werden kann.

    Das heisst nun nicht, dass Hinderbachs Bestallung als Dompropst von Trient am 5. Oktober 1455 ihn in die Lage versetzt hätte, die Codices nach Trient zu überführen, wie grob verkürzend vorgeschlagen worden ist.[80] Aber diese Bestallung gehört in einen anderen, ebenso wichtigen Zusammenhang: ein Netz von Protektion („Patronage“). Flotzinger vermutete eine derartige Beziehung zwischen Hinderbach und dem „Wiener“ Johannes Prenner; Wiser und Prenner wurden beide später Kapläne Hinderbachs in Trient.[81] Die Ernennung Hinderbachs zum Trienter Dompropst, die dem kaiserlichen Beamten ein beträchtliches Benefiz verschaffen sollte, musste 1455 gegen lokalen Widerstand des Abtes Benedictus von San Lorenzo (Trient) durchgesetzt werden, mit Hilfe des neuen Papstes (Calixtus III., 8. April 1455 – 6. August 1458) und vor allem Erzherzog Siegmunds von Tirol. Die Grafen von Tirol hatten alte Präsentations- und Bestallungsrechte sowie weltliche Güter in der Diözese Trient. Bischof Georg Hack, Pfarrer von Mistelbach in Niederösterreich und Verbündeter der Habsburger, wurde 1446 erst auf Druck König Friedrichs Bischof, nachdem zwei Gegenkandidaten zum Verzicht gezwungen worden waren, und schloss am 29. April 1454 aufgrund fortwährender Konflikte mit der Stadt Trient und z.T. mit dem Domkapitel ein Kompaktat mit Erzherzog Siegmund, in dem er dem Habsburger bedeutende Herrschaftsrechte im Hochstift Trient abtrat.[82] Die Protektion und der wachsende Einfluss Erzherzog Siegmunds bestimmte damals auch die Verleihung von Dombenefizien und kann selbst bei der Ernennung Prenners und Wisers indirekt zur Wirkung gekommen sein. In dieser Situation wäre die Vorstellung befremdend, das Domkapitel hätte 1454 oder 1455 den Trienter succentor oder gar den Schulrektor aus Bayern geholt.

  • Der Auftraggeber von Tr 93-1 und BZ?

    Georg Hack von Themeswald, aus schlesischem Adel, verdankte seine persönliche Karriere und die seiner ganzen Familie den Habsburgern.[83] Sein Bruder Happo (oder Happi) war Erzherzog Siegmunds Hauptmann an der Etsch, somit der Landeshauptmann der Tiroler Regierung südlich des Brennerpasses. Sein Bruder Konrad wurde Burghauptmann des Trienter bischöflichen Castello del Buonconsiglio. In der Stadt Trient selbst hatte Bischof Hack lange mit Widerstand zu kämpfen und musste seit 1448 im „Exil“ auf der Burg Nano residieren, bevor er 1451 wieder in das Castello del Buonconsiglio zurückkehren konnte. Öfters befand sich Georg Hack, das „Werkzeug des Herzogs im Land an der Etsch und im Gebirge“ (E. Curzel), um diese Zeit am Hof in Innsbruck oder in Bozen, wo ein bischöflicher Palast existierte, der zeitweise auch vom Tiroler Erzherzog benutzt wurde. Die renovierte Burg Runkelstein bei Bozen wurde 1463-1465 Wohnsitz des Bischofs während eines abermaligen „Exils“.[84] Es mag Zufall sein, dass Hack in den Jahren 1453-54 mit der Reform des Augustinerstifts Bozen-Gries befasst war[85]– eben jenes Klosters, in dem das Musikfragment BZ gefunden wurde (» Kap. Das Fragment BZ).

    Der Umstand, dass der Inhalt von BZ das Messenrepertoire von Tr 93-1 durch Vesperantiphonen ergänzt, deutet auf eine konzertierte Aktion: die Anfertigung einer polyphonen „Gesamtliturgie“ in zwei parallelen Bänden.[86] Ein solcher Plan ist nicht von der Initiative eines untergeordneten Klerikers wie Johannes Wiser zu erwarten und übersteigt wohl auch den Gebrauch einer Pfarrschule – selbst den der damals blühenden Marienpfarrkirche in Bozen (» E. Bozen). Allerdings müssten zumindest die drei Hauptkopisten „A“, „B“ und „X“ am gleichen Ort tätig gewesen sein. Die Untersuchung der Messliturgie in Tr 93-1 (» Kap. Drei liturgische Tests) hat ergeben, dass die Sammlung zwar vielleicht in Tirol (wegen St. Afra) hergestellt wurde, jedoch weder für einen bestimmten Tiroler Diözesangebrauch noch für die Diözese Trient gedacht war und dass ihre liturgischen Vorlagen eher in der Diözese Passau zu suchen sind.[87] Diese Orientierung, und die nachgewiesene Präsenz von habsburgischem und Wiener Repertoire, erklären sich am besten mit der Auftraggeberschaft von Georg Hack, dem Vertreter habsburgischer Interessen als Bischof von Trient. Georg selbst, oder einer seiner Brüder, nahm 1452 an den großen Wiener Festlichkeiten teil, die die Wiener dem jungen König Ladislaus Postumus zu Ehren veranstalteten, wobei Musik von St. Stephan, der Universität und des Hofes zur Aufführung gekommen sein muss, und bei denen u.a. auch Magister Conrad Paumann aus München zugegen war.[88]

    Hieraus ergibt sich mit großer Wahrscheinlichkeit auch der Bestimmungsort der Handschrift Trient 93: Sie war für Georg Hacks bischöfliche Privatkapelle im Castello del Buonconsiglio gedacht. (» Abb. Cappella vecchia, Castello del Buonconsiglio). Wie erwähnt, konnte Georg Hack nach seinem ersten „Exil“ im Jahre 1451 in diese bischöfliche Burg einziehen und seine dort befindliche Privatkapelle in Besitz nehmen. (» D. Musik in der Burg.)

     

     

    Die Messenhandschrift I-TRcap 93* sollte dem umkämpften Kirchenfürsten – bald nach seiner Ankunft in Trient 1451 – eine örtliche geistliche Repräsentation verschaffen, die vom Trienter Diözesanritus ebenso exempt war wie er selbst: Die Vermeidung von Diözesanritual in der Handschrift passt zur Identität eines Reichsfürsten und seiner privaten Burgkapelle.[89]

    Es scheint, dass Trient 93 anschließend auch den Bedürfnissen der Domschule (jedoch nicht unbedingt dem Gesang im Hochchor) zugänglich gemacht wurde. Der Bischof musste für seine eigene Kapelle wahrscheinlich ohnehin Sänger der Domschule anfordern; Johannes Wisers Kopistenarbeit und Mitwirkung als Sänger könnte mit diesen neuen Bedürfnissen zu tun haben. Genauer zu erforschen ist, ob auch die musikalischen Anhänge in Trient 93 und 90 für die Bischofskapelle oder für die Domschule bestimmt waren. Die Anfertigung der ursprünglichen Handschriften Tr 93-1 und BZ, die ziemlich sicher in die Jahre 1451-1454 fällt, dürfte Musikern aus Wien, aus dem Patronatskreis Georg Hacks und vielleicht Erzherzog Siegmunds zuzuschreiben sein.[90] Der Ort der Niederschrift ist nach wie vor unklar, doch kommt neben Trient der bischöfliche Palast in Bozen sehr in Frage, weil man hier Behinderung durch Trienter Konflikte vermeiden konnte. Von den Hauptkopisten beider Handschriften ist nur Kopist „X“ in den von Wiser verantworteten Teilen (Tr 93-2 und Tr 90) weiterhin vertreten, aber nicht „A“ und “B“: Haben sie nur in Bozen gearbeitet? Vielleicht ist die Handschrift BZ dort liegengeblieben, oder sie gelangte nach Trient und wurde auf einem späteren Besuch des Bischofs nach Bozen gebracht.

[1] Vgl. Adler-Koller 1900; von Ficker 1924 (vollständige, teilweise thematische Übersicht des Inhalts).

[2] Die Handschrift befindet sich im Archivio Diocesano (=Biblioteca e archivio capitolare, RISM-Sigel I-TRcap) mit der originalen Signatur B.L. Zur Angleichung an die verwandten Musikhandschriften im Castello di Buonconsiglio (I-TRbc) wurde sie „93“ getauft, neuerdings „93*“ zur Unterscheidung von einer anderen Handschrift 93 des Archivs. Vgl. Bent 1986, Ferrari 2016. Normative Beschreibung der Handschrift von Giulia Gabrielli (mit Korrektur der älteren Lagenbestimmungen für Lagen I-V) in: https://www.cultura.trentino.it/portal/server.pt/community/manoscritti_musicali_trentini_del_%27400/814/descrizione/22653?Codice=Tr93 (Zugang 29.07.2018).

[4] Gozzi 1992, Bd.1, 9. Zu Wisers Biographie vgl. Wright 2007; Flotzinger, Art. „Wiser, Johannes‟, in: Oesterreichisches Musiklexikon online (07.7.2018).

[6] Wright 2003, 286, table 5. Diese Datierungen bestätigen natürlich Bents Feststellung der Seniorität von Trient 93.

[7] Zu den Herkunftstheorien der früheren Forschung vgl. auch Spilsted 1982.

[8] Strohm 1996 bietet einen Überblick über mehrstimmige Handschriften für Kirchen und Kathedralen.

[9] Lunelli 1927 (Datum korrigiert bei Wright 2003, 253). Andere Belege Lunellis betreffen Johannes Lupi und die älteren Codices Trient 87 und Trient 92; vgl. auch Lunelli 1967. Zur Frage von Trienter Komponisten vgl. Flotzinger 2004.

[10] Pass 1980 will eine einzelne Wiener Handschrift zur „Erklärung der Trienter Codices?“ heranziehen: vgl. dagegen » Kap. Das Messenfragment des Schottenklosters.

[11] Wright 1996 (untersucht auch die späteren von Wiser betreuten Handschriften); Wright 2003.

[12] Wright 2003, 293-294, table 6, “Sources by region”.

[13] Wright 2003, 269.

[14] Vgl. Wright 2003, 292, 294, 308-309 und öfter.

[15] Gozzi 1992, Bd. 1, 9.

[16] “…the place where Trent 90 was begun would also need to be considered as the place where this activity on Trent 93-1 was being conducted“ (Wright 2003, 300); “Trent 90 and at least part of Trent 93 may be Bavarian in origin“ (Wright 2003, 309).

[17] Oberitalienischer Herkunft sind nach den Piccard-Findbüchern die folgenden Papiersorten: „Ochsenkopf I-VI“: Piccard 1966, Bd. 1, S. 33-34 zu Abt. XII, 67-68, 177-178, 253-257, Abt. XIII, 37-39, 246-247; „Kreuz“; Piccard 1981, S. 12; „Dreiberg mit Kreuz“: Piccard 1996, Bd. 1, S. 11 und Bd. 2, S. 6 (auch aus Basel); „Turm“: Piccard 1970, Abt. II, S. 13. Nach Thiel 1932, 118, der sich auf Friedrich von Hößle stützt, wurde die älteste Papiermühle Altbayerns 1479 in Schrobenhausen gegründet. Wright, ebenfalls unter Berufung auf von Hößle, hält die Existenz altbayerischer Papiermühlen vor dem späten 15. Jahrhundert für möglich (2003, 292-293, Anm. 75). Seine München-These ist von anderen Forschern offenbar unter der Annahme verbreitet worden, die Papiere selbst seien bayerischer Herkunft: vgl. Fallows 1998, 305; Schwindt 1999, 43-45; Gozzi, Sequenze 2012.

[18] Wright 2003, 290, 292 und 294, erwähnt diese Möglichkeit (z. B. S. 290: „The libraries and archives of Trent and the surrounding region simply do not afford comparable opportunities – at least for the 1450s – for solid conclusions about paper to be drawn”) und räumt deshalb deutlich ein, dass Trient als Herkunftsort der Handschrift Trient 90 nicht auszuschließen sei.

[19] Vgl. Wright 2003, 289. Wien betreffend hatte Wright 1996, 43, Anm. 39, mitgeteilt, dass die betreffenden Papiersorten in datierten Handschriften der ÖNB und in datierten Archivmaterialien des Wiener Stadt-und Landesarchivs unauffindbar waren. Das reiche Material des Wiener Haus- Hof- und Staatsarchivs scheint bisher noch unberücksichtigt.

[20] Wright 2003, 311.

[25] Zur (bedingten) Analogie zwischen Polyphoniesammlungen und Choralquellen vgl. Strohm 1996.

[26] Konsultation der Quellen aus D-Mbs, US-UPenn und Graduale Romanum: online; alle österreichischen Quellen im Original eingesehen; die übrigen nach Literatur wie angegeben. Die monastische Herkunft einiger Quellen beeinträchtigt bei diesen liturgischen Gattungen die Vergleichbarkeit kaum oder gar nicht, außer dass die Dominikanerbücher mit zahllosen eigenen Sequenzen aufwarten.

[27] Ich bin Pater Roman Naegele O.Cist. und Dr. Franz Lackner für ihre Vermittlung dieser Einsichtnahme zu herzlichem Dank verpflichtet.

[33] Flotzinger 2014, 51. Ebenso willkürlich wäre es etwa, die drei Introiten Statuit ei dominus (fol. 69v-71r) des Commune Martyrum (Dangel-Hofmann 1975, 221-222) dem Trienter Diözesanpatron St. Vigilius zuzuweisen. Vgl. die Festformulare für Vigilius bei Saunders 1989, 210, 313 und 317-322.

[34] Sette 2012, 102. Nach Gozzi 2012, 217-246, hat der Inhalt des Graduales C.60 nichts mit der Diözese Chur zu tun, der Schloss Tirol geographisch angehörte, sondern beruht auf Vorlagen der Salzburger Kirchenprovinz einschließlich Tirols.

[35] Vollständige Edition in Gozzi, Sequenze 2012.

[37] Chemotti 2014, besonders 12-13, 53-54, 226-230. Chemotti nennt für einige Melodien auch Choralquellen aus Brixen/Bressanone und Trient. Vgl. auch Landwehr-Melnicki 1955 (Melodien 16, 18, 39, 48, 58, 68, 78, 95, 96, 111, 132 und 171).

[38] Die Rubrik „solemne“ zur erstverzeichneten Melodie ist nicht mehr klar lesbar, doch ist sie die einzige an dieser Stelle wahrscheinliche.

[39] Saunders 1984, und 1989, 118-151 und 157, weist nach, dass die Trienter Codices den Trienter Diözesangebrauch (secundum consuetudinem Romanae curie) nicht reflektieren. Zustimmend äußern sich Ruini 1994, 74, und Gozzi 1994, 141.

[40] Zum polyphonen Introitus-Repertoire vgl. Dangel-Hofmann 1975; zur Gattungsgeschichte vgl. auch Strohm 2011.

[41] Übersicht in Strohm 1985, 17.

[42] Bent 1986, besonders 97.

[44] » Kap. Wiener Kirchenmusik in den mittleren Trienter Codices?; Strohm 1985, 24-26; Bent 1986, 89-90. Zu Puyllois und anderen westeuropäischen Komponisten vgl. » F. Musiker aus anderen Ländern.

[45] Strohm 1985, 27-32.

[46] Vgl. besonders Bent 1986.

[47] Dazu Flotzinger 2014, 51-53.

[48] Spilsted 1982, 77-82; Wright 1989, 304-306; Bent 1986, besonders 98-101; Chemotti 2014, 13-16; Ferrari 2016, 7-8.

[49] Warum die Sequenzen von Tr 93-1 nicht von Wiser in Trient 90 dupliziert wurden, ist unsicher; vielleicht wurden sie erst eingefügt, als er schon mit der Kopie der Credo fortgefahren war. Vgl. Bent 1986, 86; Wright 2003, 299-300.

[50] Wright 2003, 303, Anm. 98. Bei Wright 1989, 304-305, als Kopist „C“ verzeichnet.

[51] Beide Sätze der Missa tube waren von Wiser zuerst in Tr 90 notiert worden (fol. 92v-93r und fol. 436v-438r) und wurden von ihm dann in Tr 93-1 kopiert: vgl. Bent 1986, 95.

[52] “G” genannt bei Wright 1989, 304.

[54] Wright 2003, 302-304.

[55] Wright 2003, 298.

[56] Wright 2003, 295: “ it seems unlikely that the manuscript” [Tr 90] “was begun any earlier than 1453, though it remains possible that it was begun as late as 1454, or even the early part of the following year”.

[57] Flotzinger 2004, 197; Flotzinger 2007, 207-210; Flotzinger 2014, 55-60 (vgl. auch Strohm 1996, 26-27). Das Dokument selbst (in I-TRac, Instrumenta capitularia IX, fol. 284r-v) ist resümiert bei Santifaller 1948, 348, Nr. 477; vgl. Gozzi 1992, Bd. I, 9; Wright 1986, 261 Anm. 42. Die Bezeichnung „de Tridento“ bedeutet nicht notwendigerweise, dass Prenner aus Trient stammte; sie bezog sich auf seinen Wirkungsort (Flotzinger 2004, 197 Anm. 45) und war vor allem zur Unterscheidung von dem in damaligen Urkunden öfters genannten Hanns Prenner, Richter zu Tramin (Johannes Prenner de Termeno) gemeint.

[58] Zu Augenlicz (den Johannes Lupi in seinem Testamentsentwurf von 1455 bedenken wollte) vgl. Wright 1986, 253-254; Flotzinger 2004, 194-196.

[59] Johannes Wiser, Nachfolger Prenners, war spätestens seit März 1458 Schulrektor, erhielt jedoch eine Kaplanei (von St. Dorothea und Nicolaus) erst am 3. Juni 1459 (Santifaller 1948, 363, Nr. 486).

[60] Wisers Titel „magister et rector scholarum“ ist eine verbreitete Formel und nicht mit dem Titel des scholasticus, eines Domherrn, zu verwechseln. Zu den Aufgaben von rector scholarum und succentor vgl. Gozzi/Curti 1994, 88-91.

[62] Z. B. entsprechend der Wiener Schulordnung von 1446; vgl. Flotzinger 2014, 58-61. An St. Stephan musste der Kantor den Subkantor selbst bezahlen.

[63] Flotzinger 2004, 199, und 2007, 207f. und Anm. 8, weist Wrights Vorschlag (2003, 302 Anm. 94 und 95) zurück, „Sc(h)rott“ sei eine italienische Verschreibung von „Schroff“, und dieser sei mit einem in Wien 1451 immatrikulierten „Petrus Schroff de Monaco“ identifizierbar. Letzteres halte ich für möglich unter der umgekehrten Voraussetzung, dass „Schroff“ im Wiener Dokument ein Lesefehler für “Schrott“ ist.

[66] Das Dokument zuerst erwähnt bei Pietzsch 1971, 186. Die Identifikation wird u.a. von Flotzinger in Oesterreichisches Musiklexikon online akzeptiert.

[67] Santifaller 1948, 363, Nr. 486. Wright 2003, 252 Anm. 19.

[68] Eine Faksimile-Edition des Fragments wird von Giulia Gabrielli und Peter Wright vorbereitet. Ich danke beiden Kollegen herzlich für vorläufige Auskünfte über diese wichtige Quelle.

[69] Wright, 2003, 265 und 286; Saunders 1989, 186 und 247.

[71] Freundliche Mitteilung von Peter Wright.

[72] Vielleicht ist ein vorher eingelegtes Einzelblatt verloren, das die Oberstimmen enthielt. Andernfalls fragt sich, ob diese Eintragung sogar mit den Stimmen in BZ zusammengehören sollte.

[73] Vgl. Wright 2003, 247-256; Leverett 1990, 24-31.

[74] Adler/Koller 1900, XVI und XX. Nur Codex Trient 91 fällt in die Regierungszeit von Bischof Hinderbach, 1465-1486.

[75] Wright 2003, 255 Anm. 30.

[76] Rando 2008; vgl. bereits Schnitzer 1826, 254-273.

[77] Diese Hinderbachs waren Neffen und Erben Hermann Lelles von Treysa und der ebenfalls nach Wien aus Hessen eingewanderten Brüder Dietmar und Konrad Hinderbach (letzterer gest. 1451 als Chorherr von St. Stephan). Vgl. Goehler [1932] 2015, Bd. II, 302-304, Nr. 163; Welber 1970.

[79] Strohm 1984; resümiert in Bent 1986, 89.

[80] Vgl. die Kritik bei Wright 2003, 252-254; Wolkans These wurde aber von mir niemals geteilt.

[83] Zu Hacks Biographie vgl. Schnitzer 1826, 243-254; Vareschi [1991]; Gozzi 1994, 136-137; Curzel 2000; Rando 2008.

[84] Curzel 2000, mit weiteren Informationen zum Verhältnis Hack-Siegmund. Zu Bozener Aufenthalten vgl. auch Bonelli 1762, Bd. III, 256 (für 1447), und Obermair 2008, Regest 1449, VI 15. Weitere Aufenthalte sind um 1453 archivalisch bezeugt.

[85] Schnitzer 1826, 248-249.

[86] Zu meiner Vermutung, eine Kombination von polyphonem Graduale und Vesperale habe es kurz zuvor in Ferrara gegeben, deren polyphoner Messenband jedoch verschollen sei, vgl. Bent 1986, 89.

[87] Dass Bozen zur Diözese Trient gehörte, ist lokalen Choralbüchern nicht oder kaum anzumerken: vgl. Gozzi 2012; zu anderen Choralquellen der Diözese ausführlich Saunders 1989, 109-349.

[88] Vgl. » E. Städtisches Musikleben. In Wien belegte Organisten wie Johannes organista de Monaco und Johannes Götz de Norimberga (» Notenbsp. Vil liber zit Jo.Götz) könnten aus dem Umkreis Paumanns damals nach Wien gekommen sein.

[89] Drei oft erwähnte Musikstücke der Trienter Codices (vgl. z.B. Saunders 1989, 152-153) sind Begrüßungshuldigungen an Bischof Hack: das Kontrafakt Pour l’amour/Imperitante Octaviano (Tr 90, fol. 463v), das Kontrafakt Lauda Sion/Advenisti (Tr 88, fol. 336v-337r) und – ohne Namensnennung – ein weiteres Advenisti desiderabilis (Tr 88, fol. 250v-251r). Erstgenanntes Stück könnte sich auf eine relativ frühe Ankunft des Fürsten bezogen haben, etwa 1451. Zu diesen und vergleichbaren Stücken vgl. » D. Musik in der Burg.

[90] Vgl. » D. Hofmusik. Innsbruck unter Herzog Siegmund.


Empfohlene Zitierweise:
Reinhard Strohm: „I-TRcap 93*: Eine zentrale Sammlung europäischer Messenmusik“, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/i-trcap-93-eine-zentrale-sammlung-europaeischer-messenmusik> (2018).