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Patrone und Protektionen

Reinhard Strohm

Die Entstehung der Trienter Codices 93 und 90 (I-TRcap 93*; I-TRbc 90) sowie der folgenden Bände I-TRbc 88 und I-TRbc 89 wurde in der älteren Forschung nicht nur aus nationalpolitischen Gründen verzerrt diskutiert (» Kap. Kontroversen um die Herkunft):[73] Man hatte auch zu unklare Vorstellungen von der Entstehungschronologie einerseits, und von den Protektionssystemen andererseits. Guido Adler und Owald Koller folgerten schon 1900 aus verschiedenen Anhaltspunkten, dass diese Handschriften „in und für Trient“ geschrieben worden seien, und dass ein bischöflicher Auftrag zugrundegelegen habe. Aber nicht der„schwache, beständig in politische Händel verwickelte Georg“ (Hack), sondern sein Nachfolger Johannes Hinderbach, ein “Freund der Wissenschaften“, sei zumindest für Wisers Arbeit an den Codices verantwortlich gewesen.[74] Von diesen drei Aussagen könnten die ersten beiden vielleicht zutreffen. Die dritte jedoch muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Bischof Georg Hack kommt als Auftraggeber viel eher in Frage als Hinderbach: Erstens, weil Hack bis 1465 Bischof war und Hinderbach erst 1455 Dompropst wurde (ohne Anwesenheitspflicht);[75] zweitens, weil zwischen Musikpflege und „schwacher“ Politik kein nachweislicher Widerspruch besteht, und drittens vor allem, weil Prenner, Wiser und Schrott ja unter Bischof Hack angestellt wurden.

Hinderbachs Einfluss ist damit keineswegs geleugnet: Er dürfte sich nur auf anderen Ebenen abgespielt haben als derjenigen der bischöflichen Verwaltung. Johann Hinderbach,[76] Humanist und Mitarbeiter von Enea Silvio Piccolomini (Papst Pius II. ab 1458), war seit 1449 Orator (Gesandter) Friedrichs III. beim Papst und seit 1452 Rat der Kaiserin Eleonore; er war in Wien ansässig, besaß seit 1449 die Pfarre Mödling und betreute wahrscheinlich als Verweser auch die Dechantei von St. Stephan, der seit 1475 statutengemäß die Pfarre Mödling gehörte. Johanns Bruder Konrad jun. (gest. 1452) studierte an der Universität Wien, sein Bruder Heinrich (gest. 1463) war zuletzt Wiener Stadtkämmerer.[77]

Johann Hinderbachs Verbindung zu Friedrich III. war vielleicht auch musikalischer Art: Die Italienreise Friedrichs 1452 zu seiner Verheiratung mit Eleonore von Portugal und Kaiserkrönung (am 19. März 1452) in Rom, an der 15 Kapellmusiker teilgenommen haben sollen,[78] begann mit dem Besuch von Hinderbachs Doktorpromotion am 14. Januar in Padua; sie endete auf der Rückreise (Mai 1452) mit einem Besuch in Ferrara bei Markgraf Borso d’Este, den der Kaiser zum Herzog von Modena und Reggio erhob. Vom Este-Hof in Ferrara stammen vermutlich mehrere Messkompositionen in Tr 93-1, vor allem die ersten sechs Zyklen.[79] Obwohl Hinderbach angeblich mit einer „blechernen Stimme“ sang, ist er der wahrscheinlichste Vermittler von Musik der kaiserlichen Hofkapelle, deren Vorhandensein in den Handschriften Trient 93 und 90 vermutet werden kann.

Das heisst nun nicht, dass Hinderbachs Bestallung als Dompropst von Trient am 5. Oktober 1455 ihn in die Lage versetzt hätte, die Codices nach Trient zu überführen, wie grob verkürzend vorgeschlagen worden ist.[80] Aber diese Bestallung gehört in einen anderen, ebenso wichtigen Zusammenhang: ein Netz von Protektion („Patronage“). Flotzinger vermutete eine derartige Beziehung zwischen Hinderbach und dem „Wiener“ Johannes Prenner; Wiser und Prenner wurden beide später Kapläne Hinderbachs in Trient.[81] Die Ernennung Hinderbachs zum Trienter Dompropst, die dem kaiserlichen Beamten ein beträchtliches Benefiz verschaffen sollte, musste 1455 gegen lokalen Widerstand des Abtes Benedictus von San Lorenzo (Trient) durchgesetzt werden, mit Hilfe des neuen Papstes (Calixtus III., 8. April 1455 – 6. August 1458) und vor allem Erzherzog Siegmunds von Tirol. Die Grafen von Tirol hatten alte Präsentations- und Bestallungsrechte sowie weltliche Güter in der Diözese Trient. Bischof Georg Hack, Pfarrer von Mistelbach in Niederösterreich und Verbündeter der Habsburger, wurde 1446 erst auf Druck König Friedrichs Bischof, nachdem zwei Gegenkandidaten zum Verzicht gezwungen worden waren, und schloss am 29. April 1454 aufgrund fortwährender Konflikte mit der Stadt Trient und z.T. mit dem Domkapitel ein Kompaktat mit Erzherzog Siegmund, in dem er dem Habsburger bedeutende Herrschaftsrechte im Hochstift Trient abtrat.[82] Die Protektion und der wachsende Einfluss Erzherzog Siegmunds bestimmte damals auch die Verleihung von Dombenefizien und kann selbst bei der Ernennung Prenners und Wisers indirekt zur Wirkung gekommen sein. In dieser Situation wäre die Vorstellung befremdend, das Domkapitel hätte 1454 oder 1455 den Trienter succentor oder gar den Schulrektor aus Bayern geholt.

[73] Vgl. Wright 2003, 247-256; Leverett 1990, 24-31.

[74] Adler/Koller 1900XVI und XX. Nur Codex Trient 91 fällt in die Regierungszeit von Bischof Hinderbach, 1465-1486.

[75] Wright 2003, 255 Anm. 30.

[76] Rando 2008; vgl. bereits Schnitzer 1826, 254-273.

[77] Diese Hinderbachs waren Neffen und Erben Hermann Lelles von Treysa und der ebenfalls nach Wien aus Hessen eingewanderten Brüder Dietmar und Konrad Hinderbach (letzterer gest. 1451 als Chorherr von St. Stephan). Vgl. Goehler [1932] 2015, Bd. II, 302-304, Nr. 163; Welber 1970.

[78] Pietzsch 1966Strohm 1993, 506; Gancarczyk 2013, 253.

[79] Strohm 1984; resümiert in Bent 1986, 89.

[80] Vgl. die Kritik bei Wright 2003, 252-254; Wolkans These wurde aber von mir niemals geteilt.

[81] Flotzinger 2014, 59-60.

[82] Vareschi [1991].