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Drei liturgische Tests

Reinhard Strohm

Introiten. Alle vertonten Introitustexte in Tr 93-1 (I-TRcap 93*) passen zum Gebrauch in der Kirchenprovinz Salzburg, die u.a. die genannten Diözesen Passau, Salzburg, Freising, Regensburg und Brixen umfasste. Es fehlen jedoch Texte für spezielle Diözesanheilige wie Korbinian (Freising), Rupert und Virgil (Salzburg) oder Koloman (Melk/Passau). Die üblichen Introiten für Weihnachten, Ostern, Pfingsten, Fronleichnam, Kirchweih und Maria sind durch jeweils mehr als zwei Vertonungen hervorgehoben. Dagegen hat der Passau-Wiener Diözesanpatron Stephan nur zwei Vertonungen des üblichen Introitus Etenim sederunt, beide eingeordnet zum Fest Inventio Stephani (3.8.). Im Sanctorale-Teil fehlen Introiten zwischen In medio ecclesie (Joh. Ev., 27.12.) auf fol. 59r und De ventre matris (Joh. Bapt., 24.6.) auf fol. 59v. Flotzinger schlägt als Bestimmung für In medio ecclesie auch St. Ivo (19.5.) vor, den Schutzheiligen der Wiener Juristenfakultät, und für Sapientiam sanctorum Cosmas und Damian (27.9.), Schutzheilige der Mediziner; bei Johannes Ev. (In medio ecclesie) denkt er an die Theologen und bei Katharina (Loquebar de testimoniis) an die Artistenfakultät.[32] Diese Identifizierungen, die die Sammlung auf die Universität Wien und deren Fakultätsfeste beziehen sollen, sind willkürlich: Die Introiten In medio ecclesie und Sapientiam sanctorum waren für viele Heilige im Gebrauch, und Gesänge zur Verehrung des Evangelisten Johannes und Katharinas sind in allen Gradualien des Spätmittelalters zu erwarten. Entsprechendes gilt für den textlos nachgetragenen Introitus Gaudeamus omnes (fol. 356v-357r), den Flotzinger mit Allerheiligen und damit der Kollegiatstiftung der Stephanskirche verknüpfen will.[33]

Nach Flotzinger (S. 45) hätte sich der Kopist mit der Einordnung von Intret in conspectu (für mehrere Märtyrer) zwischen Inventio Stephani (3.8.) and Laurentius (10.8.) geirrt. Er habe das Fest von Abdon und Sennen (30.7.) gemeint. Es liegt aber kein Irrtum vor: 7.8. war der Festtag der hl. Märtyrerinnen Afra und Gefährten, der in der gesamten Region, besonders aber in Augsburg (Diözesanpatrozinium) und Tirol begangen wurde; allein in Bozen gab es zwei Afra-Patrozinien. Doch in den Passauer Choralquellen, und in der Diözese Augsburg selbst, findet man andere Introitustexte, z.B. Me expectaverunt  in St. Stephan, Wien (Cod. 4712). Intret in conspectu  wird für St. Afra gesungen im 1486 datierten Graduale der 1469 gegründeten Diözese Wiener Neustadt (fol. CXLVIIIv), einem neu zusammengestellten Ritus; im Graduale von Brixen (fol. 111r); und im Graduale C.60 von Schloss Tirol (fol. 45v).[34] Dass Tr 93-1 diesen verbreiteten Introitustext durch die besondere zeitliche Einordnung für Afra vorsieht, bedeutet wohl eine Sonderstellung der Heiligen am Bestimmungsort der Handschrift.

Sequenzen. Die relativ kleine Sammlung von Sequenzvertonungen (15) in Tr 93-1 bietet elf verschiedene Texte an, die in der Region allgemein gebräuchlich waren.[35] Die Sequenzensammlung favorisiert keine bestimmte Diözese; relativ viele Konkordanzen finden sich in A- Wn Cod. 13713 (Passau), dem Moosburger Graduale D-Mu Hs. 2o 156 (Freising) und dem Brixener Graduale US-PHu Ms. 1572. Dagegen bietet Tr 93-1 keine Sequenz für Vigilius (Trient) oder Korbinian (Freising), nicht einmal Gloriosa fulget dies für Rupert, Ulrich, Wolfgang oder Valentin.[36] Es fehlen auch zwei an St. Stephan in Wien (A-Wn Cod. 4712) belegte und in der Diözese Passau übliche Sequenzen: Hanc concordi famulatu  für Stephan, und Laudes deo salvatori  für Ostern. Statt der letzteren steht hier Victime paschali laudes, und für Stephan gibt es gar keine Sequenz. Dass niemand in Wien diese am Ort so wichtigen Sequenztexte hätte vertonen können, oder dass man sie von der Niederschrift in einer lokalen Musiksammlung ausgenommen hätte, ist gleichermaßen unwahrscheinlich. Somit muss St. Stephan in Wien als Bestimmungsort der Handschrift ausgeschlossen werden. 

Kyrie. Antonio Chemottis Edition der Kyrie von Tr 93-1 identifiziert zwölf verschiedene Choralmelodien, die in 34 der 39 Kyriesätze verarbeitet sind.[37] Die meisten Melodien sind hier oder in Konkordanzen bestimmten Festrängen zugeordnet, wie z. B. Kyrie solemne, Kyrie dominicale, de apostolis, de Beata Virgine, usw. Allerdings sind diese Zuordnungen in fast jeder Choralquelle etwas verschieden. Die Kyriemelodien von Tr 93-1 sind in der süddeutsch-österreichischen Region relativ gleichmäßig vorhanden; jedoch muss St. Stephan in Wien auch in dieser Hinsicht ausgeschlossen werden. Denn von den in Cod. 4712 (Nachtrag auf fol. 110r) eingetragenen fünfzehn Kyriemelodien werden zwar neun in Tr 93-1 verwendet, aber die an St. Stephan für Hochfeste und Sonntage bestimmten drei Melodien (Kyrie solemne, maius dominicale und dominicale )[38] fehlen in der polyphonen Sammlung. Siebzehn Kyriesätze in Tr 93-1 sind Komponisten zuweisbar, vor allem Guillaume Du Fay; siebzehn Sätze sind in älteren polyphonen Quellen vorhanden, davon neun im Aosta-Codex (» I-AO, Cod. 15).

Fazit. Die Choralmelodien, die den hier untersuchten Vertonungen in Tr 93-1 zugrundeliegen, passen zu den Choralquellen der Kirchenprovinz Salzburg, am ehesten der Diözese Passau. Zum Gebrauch von St. Stephan in Wien passen sie nicht. Spezielle regionale Sondergebräuche scheinen überhaupt vermieden zu sein – mit Ausnahme einer in Tirol nachweisbaren Bestimmung des Introitus Intret in conspectu  für St. Afra.[39]

[32] Flotzinger 2014, 44-48.

[33] Flotzinger 2014, 51. Ebenso willkürlich wäre es etwa, die drei Introiten Statuit ei dominus (fol. 69v-71r) des Commune Martyrum (Dangel-Hofmann 1975, 221-222) dem Trienter Diözesanpatron St. Vigilius zuzuweisen. Vgl. die Festformulare für Vigilius bei Saunders 1989, 210, 313 und 317-322.

[34] Sette 2012, 102. Nach Gozzi 2012, 217-246, hat der Inhalt des Graduales C.60 nichts mit der Diözese Chur zu tun, der Schloss Tirol geographisch angehörte, sondern beruht auf Vorlagen der Salzburger Kirchenprovinz einschließlich Tirols.

[35] Vollständige Edition in Gozzi, Sequenze 2012.

[36] Vgl. » Kap. Regionale Herkunft der Musik von Cod. 5094.

[37] Chemotti 2014, besonders 12-13, 53-54, 226-230. Chemotti nennt für einige Melodien auch Choralquellen aus Brixen/Bressanone und Trient. Vgl. auch Landwehr-Melnicki 1955 (Melodien 16, 18, 39, 48, 58, 68, 78, 95, 96, 111, 132 und 171).

[38] Die Rubrik „solemne“ zur erstverzeichneten Melodie ist nicht mehr klar lesbar, doch ist sie die einzige an dieser Stelle wahrscheinliche.

[39] Saunders 1984, und 1989, 118-151 und 157, weist nach, dass die Trienter Codices den Trienter Diözesangebrauch (secundum consuetudinem Romanae curie) nicht reflektieren. Zustimmend äußern sich Ruini 1994, 74, und Gozzi 1994, 141.