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Das Bozner Fragment (BZ)

Reinhard Strohm

Das von Giulia Gabrielli entdeckte Musikfragment „BZ“ (I-BZmg o. Sign.) im Archiv der Abtei Muri-Gries (Bozen/Bolzano) stimmt physisch so sehr mit Trient 93 (I-TRcap 93*) überein, dass eine gemeinsame Herstellung und sogar gemeinsame Bestimmung beider Manuskripte zu vermuten ist.[68] Nach Gabriellis Beschreibung (» F. SL. Bozner Fragment) bildeten die zehn Papierblätter eine innere Einbandverstärkung eines *Urbars* der Pfarrkirche von Gries bei Bozen, mit den Datierungen 1506-1628. Die Pfarrkirche war damals dem Augustinerstift Gries („in der Au“) inkorporiert: Das Urbar könnte also im Stift selbst angelegt worden sein. Weitere Teile des Fragments oder ähnliche Manuskripte sind im Raum Bozen bisher nicht aufgetaucht. Drei der vier Kopistenhände des Fragments („A“, „B“ und „X“) sind maßgeblich an Trient 93 beteiligt; eine der Papiersorten („Dreiberg mit Kreuz“), datierbar ca. 1450-1453, bildet das Material für fol. 69r-176v und 189r-343v von Tr 93-1.[69]

Jedoch ist BZ ganz anderen Gattungen gewidmet als Tr 93-1: nämlich der dreistimmigen Vesperantiphon und weltlicher Musik. Die vier vorhandenen Lagen enthalten 13 Marien- und Hoheliedantiphonen (überwiegend von englischen Komponisten wie Dunstaple, Plummer, Forest, Bedyngham, Piamour), und zwei Vertonungen der Vesperantiphon zu Pfingsten, Veni sancte spiritus, reple. Das Vorhandensein von Piamours Quam pulchra es (auch in I-TRbc 92 enthalten) verstärkt die Möglichkeit, dass der Komponist in der Region anwesend war.[70] Eines der beiden Ibo michi ad montem ist die englische Komposition, die im St.-Emmeram-Codex (D-Mbs Clm 14274, Nr. 84) und in einem Fragment aus Ferrara überliefert ist (» F. Europäische Musik im Raum Österreich).[71] Dazwischen erscheinen unvermittelt zwei Stimmen der Ballata O rosa bella, zugeschrieben an Bedyngham („wenigan“). Die scherzhaften Beischriften „tenor gemellicus“ und „tenor duellicus“ erinnern daran, dass die Rubrik „gemell“ (Gymel) auch im St. Emmeram-Codex (Nr. 246) vorkommt. Das allererste (nachgetragene) Stück in Trient 93, fol. 1r, ist ein Contratenor zu O rosa bella.[72] In Trient 90 und 89 gibt es mehrere Niederschriften von Varianten des Liedes sowie eine darauf beruhende cantus-firmus-Messe.

Am auffallendsten scheint, dass in diesem Zwillingsmanuskript von Tr 93 alle Stücke in alphabetischer Ordnung ihrer Textanfänge notiert sind. (Dies erlaubt Vermutungen zum originalen Umfang der Quelle, der ca. 10 Lagen nicht überschritten haben dürfte.) Sogar das weltliche Liebeslied O rosa bella ist alphabetisch eingeordnet, zwischen den kirchlichen Antiphonen Nigra sum und Qualis est dilectus. Ist diese Missachtung des Gattungsunterschieds ein gedankenloser Irrtum, oder hat sie einen Sinn? Vielleicht dann, wenn auch O rosa bella als Marienlied im Vespergottesdienst gesungen worden wäre. Wo könnte das gewesen sein?

[68] Eine Faksimile-Edition des Fragments wird von Giulia Gabrielli und Peter Wright vorbereitet. Ich danke beiden Kollegen herzlich für vorläufige Auskünfte über diese wichtige Quelle.

[69] Wright, 2003, 265 und 286; Saunders 1989, 186 und 247.

[70] » B. SL Christ ist erstanden.

[71] Freundliche Mitteilung von Peter Wright.

[72] Vielleicht ist ein vorher eingelegtes Einzelblatt verloren, das die Oberstimmen enthielt. Andernfalls fragt sich, ob diese Eintragung sogar mit den Stimmen in BZ zusammengehören sollte.