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Kirchliche Zuordnung

David Merlin

Auf Grund der Gestaltung der Matutin – der im Antiphonarius niedergeschriebene Gesangsteil für eine Nokturn besteht aus drei Antiphonen und drei Responsorien – und jener der Vesper (mit fünf Psalm-Antiphonen), die dem cursus saecularis der Stundengebetsliturgie entsprechen, sowie anhand der Zusammensetzung des Sanktorale lässt sich die Verwendung des Antiphonarius seitens der monastischen Orden, der Bettelorden sowie der reformierten Benediktiner Melker Kongregation ausschließen.[36] Es fehlen die Feste der Ordensgründer oder der jeweils zugehörigen Ordensheiligen, bzw. diese werden lediglich in Rubriken erwähnt und ihre Feste sind nicht mit eigenen Gesängen (Proprien) bedacht.

Winterburgers Antiphonarius scheint offensichtlich für die Diözesanliturgie gedacht zu sein. Er entbehrt eindeutiger Elemente zur geographischen Lokalisierung, wie die Responsorien der Matutin für die vier Adventssonntage und für die Quatembertage des Advents sowie jene des Totenoffiziums. Ferner enthält er kein Kalendarium. Die Zuordnung Schlagers zur Diözese Passau – die sich sogar in der üblich gewordenen Benennung für dieses Druckwerk widerspiegelt (Antiphonale Pataviense), welche aber erst seit der Faksimile-Ausgabe existiert – ist zwar nicht falsch, aber verbesserungsbedürftig, oder besser: erweiterungsbedürftig.

Ein Blick auf die Geschichte der kirchlichen Institutionen in diesem geographischen Großgebiet sowie auf andere Inhaltselemente des Antiphonarius können dazu beitragen, seine Lokalisierung zu präzisieren. Wien und Wiener Neustadt wurden 1469 zu eigenständigen Diözesen erklärt (durchgesetzt wurde dies allerdings erst im Jahr 1480).[37] Sie wurden aus der Diözese Passau bzw. aus dem Erzbistum Salzburg herausgetrennt. Die Diözese Wiener Neustadt umfasste nur die Stadtpfarre, die Diözese Wien hingegen siebzehn Pfarreien; sie wurde „bis 1513 von Administratoren versehen. Erst mit Georg von Slatkonia, dem Kapellmeister der kaiserlichen Hofkapelle, erhielt Wien seinen ersten Residentialbischof.“[38] Es ist unwahrscheinlich, dass diese beiden sogenannten Hofbistümer über einen regelrechten eigenen liturgischen Usus verfügten; inwieweit Abweichungen vom Passauer Usus vorhanden waren, bedarf noch weiterer Untersuchungen. Diese neuen Diözesen dürfen jedoch als Bestimmungsorte für den Verkauf des Antiphonarius nicht ausgeschlossen werden (allerdings ist der Bedarf an neuen liturgischen Büchern in Wiener Neustadt nicht zu überschätzen).[39]

Alle damals an diese Region angrenzenden oder benachbarten Bistümer kommen hingegen aus liturgischen Gründen als Bestimmungsorte des Antiphonarius nicht in Frage: Gran/Esztergom, Olmütz/Olomouc, Prag/Praha, Raab/Győr, Salzburg und das Patriarchat Aquileia sowie die Bistümer der Salzburger Kirchenprovinz Brixen, Freising und Regensburg – und auch nicht die Salzburger Eigenbistümer Chiemsee, Gurk, Lavantal und Seckau.[40]

Der Inhalt des Antiphonarius stimmt größtenteils mit dem Passauer Usus überein. Manche Elemente, wie z.B. die Präsenz des hl. Severinus (von Norikum) am 5. Januar, des hl. Valentin (Bischof) am 7. Januar,[41] der Translation des Hauptes des hl. Vigilius (von Trient) am 31. Januar, der Translation des hl. Leopold am 15. Februar und weitere „diözesaneigene Feste“[42] bestätigen die Lokalisierung nach Passau.

Andere Elemente, wie die Diskrepanz zwischen der Positionierung der Rubrik und jener des Formulars für das Fest der Verklärung des Herrn, das Vorhandensein bzw. das Fehlen von Heiligenfesten, die normalerweise dem Passauer Kalender nicht angehören bzw. dessen Bestandteil sind, sowie kleine aber deutliche Unterschiede[43] zur in den Diözesanbrevieren gedruckten, offiziellen Fassung der Passauer Liturgie (» F. Lokalheilige, Kap. Hl. Stephan, hl. Barbara und hl. Ursula) unterstützen folgende Arbeitshypothese: Der geographische Raum, für welchen der Antiphonarius gedacht war, stimmt nicht mit der Diözese Passau exakt überein, sondern er muss entweder (auf das Territorium des damaligen Österreichs unter der Enns?) verringert, oder – und das ist wahrscheinlicher – (mindestens?) durch die kleinen Bistümer Wien und Wiener Neustadt erweitert werden.

Über handschriftliche Liturgica, die anscheinend in einem Grenzbereich zwischen Österreich und Ungarn (Ödenburg/Sopron) zum Einsatz kamen und/oder aus dem Wiener Raum stammen, sind Pionierarbeiten durchgeführt worden, die auf eine Hybridisierung des liturgischen Passauer Usus hinweisen. Es handelt sich um eine Gruppe von Quellen (insbesondere um eine Missale-Fragmentenreihe, dazu kommen noch drei Messbücher), die „an der Trennlinie zwischen Passauer und ungarischer liturgischer Praxis entstand“[44] und „mit deren Hilfe eine der Forschung früher unbekannte, eigenständige Wiener Variante des Passauer Ritus rekonstruierbar wurde (in dieser Wiener Variante schlug sich mit unterschiedlicher Prägnanz auch der Kult der ungarischen Heiligen nieder).“[45] Folglich sollte die Hypothese von einer oder mehreren Mischtraditionen, d.h. von einigen nicht rein passauischen, sondern „ungarisch-Passauischen“, „ostpassauischen“ (vielleicht „Österreich unter der Enns-Passauischen“) oder gar „Wiener-Passauischen“ Überlieferungssträngen des städtischen oder domkirchlichen Passauer Usus nicht ausgeschlossen werden.[46] Da die Präsenz von Heiligen ungarischer Tradition innerhalb des Antiphonarius nicht prägend ist, müsste es sich eventuell um eine weitere Variante handeln.

Darüber hinaus ist nach Robert Klugseder die Entdeckung der Makulaturen des Antiphonarius (» Kap. Beschreibung des Antiphonarius) „ein konkreter Hinweis auf die Verwendung des Buches in einer Pfarrei, noch dazu in der Erzdiözese Salzburg.“[47] Die Frage nach dem tatsächlichen geographischen Gebiet, in dem der Antiphonarius zur Anwendung kam bzw. kommen konnte, und die Frage, welcher Fassung der Passauer Tradition Winterburgers Antiphonarius angehört, verdienen weitere Untersuchungen. Er kann allerdings nicht ausschließlich mit der Diözese Passau bzw. mit der Passauer Domliturgie übereinstimmen.

[36] Im Rahmen der Benediktiner-Reform von Subiaco-Melk wurde u.a. die Liturgie des Stundengebets umgestellt: vom ursprünglichen für die Benediktiner typischen cursus monasticus zum für Bettelorden und Diözesanklerus typischen cursus saecularis. Darüber siehe Angerer 1974 und Klugseder 2012.

[37] Vgl. Weissensteiner 2017, Schragl 2017 und Niederstätter 2004, S. 307–308 (geographische Karte auf S. 301).

[38] Weissensteiner 2017, Sp. 1156.

[39] Eine 1486 datiertes Graduale für Wiener Neustadt befindet sich als Depositum des Neuklosters von Wiener Neustadt im Stift Heiligenkreuz: vgl. » K. Kap. Choralquellen und Tr 93-1.

[40] Vgl. » F. Lokalheilige, Kap. Heiligenverehrung im österreichischen Raum.

[41]  » F. Lokalheilige, Kap. Dürers „Österreichische Heilige“.

[42] Vgl. Karnowka 1983, S. 45–46.

[43] Vgl. Merlin [in Vorbereitung].

[44] Lauf 2010, S. 24. Über die Möglichkeit von einer Mischtradition siehe auch Roland 2003, S. 123–130.

[45] Lauf 2014, Abstract.

[46] Vgl. Lauf 2014, S. 94: „Auf Grund der drei Handschriften und der fünf Fragmentengruppen können wir mit hoher Wahrscheinlichkeit annehmen, dass es in Wien und seiner Umgebung noch vor der Gründung einer selbständigen Wiener Diözese im Jahre 1469 eine selbständige Variante des Passauer Ritus gab, der auch Elemente der ungarischen liturgischen Kultur zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Regionen aufgenommen hat“.

[47] Private Mitteilung (E-Mail vom 25.02.2015).