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Credokompositionen im cantus fractus

Marco Gozzi

Die Komposition zahlreicher Credos im Stil des cantus fractus – und somit in mensuralem Rhythmus – seit dem 14. Jahrhundert ist wohl hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass man mit dem festen Rhythmus eine größere musikalische Vielfalt für einen so langen Text erzielen wollte. Noch mehr jedoch erleichterte der mensurale Rhythmus das Hinzufügen einer extemporierten zweiten Stimme (secundatio), wie es in der zeitgenössischen Praxis bei diesen Melodien obligatorisch war – jedenfalls im 14. bis 16. Jahrhundert, und vielleicht noch länger. Die liturgischen Bücher überliefern fast immer nur die Hauptmelodie, doch die rhythmische Struktur der mensuralen Credos legt die Ausführung einer zweiten Stimme nahe, die die notierte Stimme Note für Note begleitete, je nach dem Geschmack von Ort und Zeit der Aufführung. Offensichtlich boten diese Eigenschaften der mensuralen Credos ein ausgezeichnetes Trainingsfeld für die Musikerziehung der Schulknaben (pueri) in den Kloster- und Kapitelschulen.

Das Credo aus dem Graduale Pataviense (vgl. Kap. Ein mensuriertes Credo in Graduale Pataviense) bietet unter anderem Übungsmaterial für das Ausführen des schwierigen Sextsprungs aufwärts, so bei den Intervallen f–d’ zu Beginn der Abschnitte Et ex Patre, Qui propter nos homines, Et resurrexit, Sedet ad dexteram Patris und Qui locutus est. Diese didaktische Haltung kennzeichnet auch die fünf Credokompositionen, die im zweiten Faszikel des St.-Emmeram-Codex überliefert sind (» D-Mbs Clm 14274, fol. 13r–20v). Besonders das erste Credo der Gruppe[5] ist geradezu eine Solmisationsübung: eine Melodie wie erfunden zum Einüben weiter und schwieriger Intervalle, der zweistimmigen Aufführungspraxis (biscantus) und des korrekten Vortrags der Worte unter den Noten, in der Art eines Lehrbeispiels zum Einstudieren extemporierter Aufführungen in “prima vista”-Manier. Anders kann man die vielen Sext- und Septsprünge, den Gebrauch stereotyper melodischer Formeln und das geringe Interesse an der lateinischen Wortbetonung kaum erklären. Es ist höchstwahrscheinlich eine Komposition für den Lehrgebrauch, die freilich auch in der Liturgie selbst verwendet werden konnte. Auf jeden Fall ist es eine Melodie, die nur dann funktioniert, wenn sie von einer nicht notierten zweiten Stimme unterstützt wird, die in Modus und Melodie einfacher und regulärer ist.

[5] Melodieincipit bei Miazga 1976, Nr. 123, 58. Übertragung in Strohm 1993, 324.