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Cantus fractus in geistlichen Spielen

Marco Gozzi

Der Stil des cantus fractus war nicht auf liturgische Gattungen beschränkt, sondern erfasste auch paraliturgische Gesänge, wie lateinische Cantionen, Tropen und Lauden (» A. Weihnachtsgesänge; » B. Geistliches Lied), sowie geistliche Spiele mit Gesängen in lateinischer und deutscher Sprache. Das geistliche Spiel, vor allem die Aufführung der Passion Christi, entwickelte sich aus einer lateinischen Rezitation durch den Klerus, die seit dem 9. Jahrhundert innerhalb der Kirche vorgetragen wurde. Ganz allmählich entstanden volkssprachliche Theaterformen, an denen die ganze Stadt aktiv teilnehmen konnte – sei es bei der Vorbereitung und Einstudierung, sei es bei der eigentlichen Aufführung. Das geistliche Spiel wurde zu einem Ereignis, das sich in den Straßen und auf den Plätzen abspielen konnte, das mehrere Tage dauern konnte, das realistische Darstellung zuließ und bei dem Musikinstrumente verwendet wurden. Diese Entwicklung fand besonders seit dem 13. Jahrhundert statt; die neue Form fand ihre weiteste Verbreitung im 15. und frühen 16. Jahrhundert. [8] (» H. Musik und Tanz in Spielen) Im deutschsprachigen Raum lassen sich fünf Haupttypen geistlicher Spiele in der Volkssprache unterscheiden: die Osterspiele mit dem Besuch der drei Marien am Grab Jesu (visitatio sepulchri); die Dramen um die Totenklage Marias (Marienklagen), die Passionsdramen (die oft länger und vielgestaltiger sind als die anderen), die Fronleichnamsspiele und die Weihnachtsspiele. Für Südtirol besitzen wir eine hochbedeutende Quelle von Spielen, die mit Sicherheit in dieser Region aufgeführt wurden: die Sterzinger Spielhandschriften, eine Sammlung geistlicher Spiele in deutscher Sprache, mit Regieanweisungen und einigen Partien auf Lateinisch. [9] Die älteste Gruppe dieser Handschriften, mit geistlichen und weltlichen Spielen von verschiedenen Schreibern, gehörte Benedikt Debs aus Ingolstadt, der von 1511 bis zu seinem Tod im Jahre 1515 Schulmeister in Bozen war. Von ihm gingen die Handschriften an Vigil Raber – Maler, Spielleiter, Komponist und Intendant – über, der zahlreiche Anmerkungen eigenhändig in die Spieltexte eintrug. Er verwendete sie als seine Regiebücher für Aufführungen in Sterzing/Vipiteno sowie anderswo in Tirol und dem Trentino. Ein Jahr nach seinem Tod im Jahre 1553 verkaufte seine Witwe die Handschriften an den Bürgermeister von Sterzing. (» H. Musik und Tanz in Spielen; » H. Sterzinger Spielarchiv)

Die Aufführungen im Süden des deutschen Sprachgebiets hatten einige Merkmale, die sie von jenen anderer europäischer Regionen unterschieden. Die “Tiroler Passion” wurde normalerweise an drei Tagen aufgeführt, vom Abend des Gründonnerstags (beginnend mit der Ratsszene der Hohenpriester und Schreiber, die sich gegen Jesus verschwören) bis zum Ostersonntag mit der Auferstehung. Die dramatische Darstellung folgte genau den Erzählungen der vier Evangelisten, mit Beachtung auch der Tageszeiten und Zeitdauern. Während man anderswo das geistliche Spiel auf dem Marktplatz aufführte, da hier mehr Raum für die zusätzlichen Handlungselemente und Personen verfügbar war, fanden die Passionsaufführungen in Sterzing, Bozen und Trient noch in der Kirche statt. Dies behinderte aber nicht die massenhafte Beteiligung von Sprechern und Komparsen: In der Bozner Passion von 1495 sind z. B. gesprochene oder gesungene Partien auf nicht weniger als 120 Personen verteilt, nicht eingerechnet die Statisten für den Rat der Juden (consilium iudeorum), die Soldaten, Teufel usw.[10] Die Spieltexte, sämtlich anonym in den Handschriften, haben so spezifische Gemeinsamkeiten, dass Forscher sie auf einen einzigen Archetypus zurückführen wollten.[11] Alle diese Aufführungen, sei es in Hall, Sterzing, Bozen, Trient, Kitzbühel oder Lienz, reflektieren eine einheitliche Spielkultur, die noch weitgehend der mittelalterlichen Tradition verpflichtet war und bei der nicht der individuelle Autor oder Spielleiter zählte, sondern die ganze Stadt als Trägerin, die die Bearbeitungen und Neueinstudierungen im Sinn der Tradition hervorbrachte, unter maßgeblicher Beteiligung der verschiedenen Gilden (Zechen), Berufsgenossenschaften und Bruderschaften. (» E. Bozen) Die szenische und textliche Gestaltung der Passion war zwar an den verschiedenen Orten im Wesentlichen dieselbe, doch war sie jeweils auch Ausdruck und Selbstdarstellung der aufführenden Gemeinschaft.[12]

Die meisten in den Regiebemerkungen verlangten Gesänge sind lateinisch und gehören zum Repertoire des Gregorianischen Chorals (vor allem von Antiphonen und Responsorien), das den Schulmeistern und Schülern bestens bekannt war. Daneben gibt es andere Gesänge (lateinische, aber öfter deutsche), die in den Handschriften mit vollständiger Musiknotation versehen sind. Einer davon ist das berühmte “Silete, silete, silentium habete”, das wie eine Art klingender Vorhang als Abtrennung zwischen den einzelnen Szenen erklang. Es wurde von Engeln gesungen und ermahnte die Zuschauer, still zu sein und die Aufführung aufmerksam zu verfolgen. (» Abb. Silete Sterzing) Diese “Silete”-Rufe und viele andere deutschsprachige Gesänge der Passionen zeigen Melodien und poetisch-musikalische Strukturen von hohem künstlerischem Wert im Stil des cantus fractus, die eingehendes Studium und Neuaufführung verdienen.

[8] Speziell zu Bozen vgl. Obermair 2004Paoli 1999, 66f.

[9] I-VIP, Handschriften Vigil Rabers (II-XXII). Edition der Texte und Melodien bei Lipphardt/Roloff 1980–1996, Bd. 1. Kurze Inhaltsbeschreibungen bei Bergmann 1984. Vgl. auch » H. Musik und Tanz in Spielen» H. Sterzinger Spielarchiv.

[10] Vgl. Obermair 2004.

[11] Wackernell 1897CIII-CIX.

[12] Vgl. Obermair 2004Paoli 1999.