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Was versteht man unter Spruchsang?

Horst Brunner

Seit etwa der Mitte des 12. Jahrhunderts wurden an den deutschen Fürsten- und Adelshöfen im Wesentlichen drei durchweg singbare, in der Volkssprache abgefasste Liedtypen gepflegt: 1. das Liebeslied, der Minnesang, mit all seinen Untertypen wie Liebesklage, Werbelied, Preislied, Freudenlied, Dienstversicherung, Absagelied, Liebesdialog, Tanzlied, Pastourelle und Tagelied; 2. die durchkomponierte Großform des in meist kunstvolle metrisch-musikalische Abschnitte, sogenannte Versikel, gegliederten weltlichen oder geistlichen Leichs; 3. der Spruchsang oder die Sangspruchdichtung. Alle drei Typen werden in den Liederhandschriften des 13. und 14. Jahrhunderts nebeneinander überliefert: der „Kleinen Heidelberger Liederhandschrift“ (Hs. A; Ende 13. Jh., Elsass; Heidelberg, UB, Cpg 357); der „Weingartner Liederhandschrift“ (Hs. B; Anfang 14. Jh., Konstanz; Stuttgart, Württembergische LB, HB XIII.1);  der „Großen Heidelberger (Manessischen) Liederhandschrift“ (Hs.  C; 1. Hälfte 14. Jh., Zürich; Heidelberg, UB, Cpg 848); der „Jenaer Liederhandschrift“ (Hs. J; 1. Hälfte 14. Jh., Wittenberg?, die einzige Handschrift mit Noten; Jena, UB, El. fol. 101).

Unter Spruchsang, um den es im Folgenden geht,[1] versteht man Texte von Autoren des 12. bis 15. Jahrhunderts, die religiöse, moralische und ständische Belehrung aller Art, Gelehrsamkeit, Dichtungsprobleme sowie Stellungnahmen zu politischen Ereignissen und Personen in singbare Strophen fassten. (Der Begriff „Spruch“ bzw. „Sangspruch“ ist modern: Er wurde erstmals 1833 von dem Germanisten Karl Simrock verwendet.) Anders als im Minnelied üblich, galt bis um die Mitte des 14. Jahrhunderts für den Spruch prinzipielle Einstrophigkeit, das heißt im Prinzip stand jede einzelne Strophe für sich, doch konnten unter Umständen auch mehrere Strophen zu mehr oder weniger lockeren Verbänden zusammentreten. Dem Prinzip der Einstrophigkeit ist geschuldet, dass Spruchstrophen meist metrisch-musikalisch umfangreicher sind als Minnesangstrophen. Erst im 14. Jahrhundert wurde im Spruchsang Mehrstrophigkeit üblich, man spricht von Barbildung, Spruchlieder mit mehreren Strophen (meist einer ungeraden Zahl) werden als Bare bezeichnet. Charakteristisch ist ferner, dass die Strophenformen und Melodien – beides zusammen heißt Ton – in der Regel nicht ad hoc erfunden und dann nur ein einziges Mal verwendet wurden, wie das beim Minnesang der Fall war, sondern dass die einzelnen Dichter jeweils über ein größeres (bis zu 20) oder kleineres Repertoire selbstgeschaffener Töne weitestgehend alleine verfügten – manche benutzten für alle ihre Strophen auch nur einen einzigen Ton. Schon im 13. Jahrhundert scheinen für einzelne Töne Eigennamen aufgekommen zu sein, die aus formalen, melodischen oder inhaltlichen Besonderheiten abgeleitet wurden (solche Tonnamen sind freilich längst nicht zu allen Tönen überliefert). Die Benennungen waren zusammengesetzt aus dem Namen des (manchmal nur angeblichen) Tonerfinders und dem eigentlichen Tonnamen, z. B. Frauenlob, Langer Ton oder Reinmar von Zweter, Frau-Ehren-Ton (nach der von Reinmar öfter verwendeten Personifikation der Frau Ehre) oder Frauenlob, Würgendrüssel, d. h. Kehlenwürger (aufgrund der durch ihren Tonumfang besonders strapaziösen Melodie). Strukturiert waren die Spruchtöne seit Walther von der Vogelweide ausnahmslos in der Kanzonenform, das heißt sie waren grundsätzlich und ausnahmslos dreiteilig: auf einen Aufgesang, bestehend aus zwei metrisch-melodisch identischen Stollen folgte ein abweichender Abgesang (AA/B); möglich waren Varianten dieses Schemas, zum Beispiel Kanzonen mit Stollenwiederholung am Abgesangsende, sog. Kanzonen mit 3. Stollen (AA/BA).[2]

Die Melodieüberlieferung ist lückenhaft, aber doch – anders als im Fall der fast ganz verlorenen Überlieferung der Minnelieder – relativ reich.[3] Dies verdankt sich in erster Linie der „Jenaer Liederhandschrift“ (Hs. J); in der Mitte des 15. Jahrhunderts tritt als weitere wichtige Quelle die „Kolmarer Liederhandschrift“ (Hs. t oder k; Worms oder Speyer um 1460: München, BSB, Cgm 4997) hinzu; weitere Melodieüberlieferungen finden sich in Meistersingerhandschriften des 16. und 17. Jahrhunderts. Die umfangreiche Spätüberlieferung der Melodien ist dem Umstand geschuldet, dass die Kunst der Spruchsänger von städtischen Dilettanten, den Meistersingern, aufgegriffen wurde. Sie tradierten und benutzten für eigene Lieddichtungen viele Töne der Spruchdichter (gelegentlich unterschoben sie bekannten Spruchsängern auch neuerfundene Töne, in diesem Fall spricht die moderne Forschung von „unechten“ Tönen).[4]

[1] Vgl. Brunner 1998; Klein/Haustein/Brunner 2019. Umfassende Bestandaufnahme in: Brunner/Wachinger 1986-2009, im Folgenden abgekürzt RSM.

[3Brunner/Hartmann 2010. (Gesamtausgabe der Melodien nach allen Quellen; im Folgenden abgekürzt SPS).

[4] Vgl. Rettelbach 2019; zur Umgestaltung der Melodien in der Spätüberlieferung vgl. Brunner 1975