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Meistersang in Österreich

Horst Brunner

Gab es in den österreichischen Ländern Meistersingergesellschaften? Für das mittlere und späte 16. und das frühe 17. Jahrhundert besteht darüber kein Zweifel. Im RSM sind aus dieser Zeit 30 österreichische Meisterlieddichter verzeichnet. Hauptorte der Meistersingerkunst waren Wels, Steyr, das mährische Iglau, daneben Eferding/, außerdem sind Lieddichter aus Wien, Waidhofen/Ybbs, Radkersburg/Steiermark und Freistadt/ belegt. Größere Œuvres kennen wir von Paulus Freudenlechner, von dem sich 80 Lieder erhalten haben, er dichtete 1575/1601 in Wels, 1602/03 in Breslau, 1604 in Eferding; von dem Tuchmacher Abraham Letscher aus Iglau, 1574-1621, sind 48 Lieder erhalten; von dem Kürschner Lorenz Wessel aus Essen, der 1553 in Magdeburg, 1557 in Moosburg/Kärnten, 1562 in Steyr und Waidhofen, 1565 in Eisenerz und 1568 in Wien dichtete, sind im RSM 43 Lieder verbucht, darunter eine 25-strophige Genealogie des Hauses Habsburg, 1573 gewidmet dem (dem Protestantismus zugeneigten) Kaiser Maximilian II. (Wien, ÖNB, Cod. 10057). Alle drei Autoren verwendeten neben neueren Tönen auch solche des 13. und 14. Jahrhunderts, wie dies der meistersingerlichen Tradition entsprach.  Durch die Gegenreformation wurde die Blüte des protestantischen Meistergesangs in Österreich beendet.

Aber gab es auch schon im 15. Jahrhundert in den österreichischen Ländern Meistersinger? Der Meistergesang ist generell in diesem Jahrhundert urkundlich nur sehr schwach bezeugt. Allerdings gibt es ein Zeugnis aus der Zeit um 1500, das doch eine schwache Vermutung für seine Existenz in Tirol wenigstens aufkommen lässt. Es handelt sich um die vermutlich in Tirol entstandene „Wiltener Handschrift“, benannt nach ihrem früheren Aufbewahrungsort im Kloster Wilten bei Innsbruck, vorher im Besitz der Wolkensteinschen Bibliothek auf Burg Rodenegg (München, BSB, Cgm 5198).[32] Die (melodielose) Handschrift enthält 166 Meisterlieder, großenteils geordnet nach Tönen bzw. Tonautornamen. Die häufigsten Tonautoren sind Frauenlob, Regenbogen und Heinrich von Mügeln, daneben auch spätere bis zum frühen 15. Jahrhundert. Es finden sich sowohl geistliche wie weltliche Lieder ohne Bevorzugung bestimmter Themen. Man hat bezweifelt, ob hinter dieser Handschrift „eine lebendige Tradition von ausgeprägter Eigenart stand“ und nicht nur ein bloß „rezeptiv ausgerichtete[s] Interesse“[33] – diese Ansicht liegt nahe, aber restlos ausgemacht scheint mir das doch nicht zu sein. Die Handschrift könnte Zeugnis ablegen von der Existenz einer vielleicht nur kurzzeitig existenten Meistersingergesellschaft irgendwo in Tirol, von der wir sonst nichts wissen.

 

[32] Vgl. Schanze 1987, Sp. 349-351.

[33] Schanze 1987, Sp. 351.