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Textlose Kompositionen

Markus Grassl

Aus dem späteren 15. und frühen 16. Jahrhundert sind Quellen insbesondere aus Norditalien, teilweise aber auch aus dem deutschsprachigen Raum erhalten, die ein umfangreiches Korpus von Stücken in Mensuralnotation, aber ohne Text überliefern. Die ältere Forschung hat dazu geneigt, darin pauschal „Instrumentalmusik“ zu erblicken. Mittlerweile sind jedoch viele dieser Sätze als bloß textlos aufgezeichnete Chansons, Lieder, Motetten oder auch Ausschnitte aus Ordinariumsvertonungen identifiziert worden. Weiterhin wurde immer deutlicher, dass eine Aufzeichnung ohne Text nicht unbedingt eine instrumentale Ausführung bedeutet. Vielmehr liegen zahlreiche Zeugnisse für die Praxis des Singens textlos notierter Stücke vor, sei es mit (den originalen oder kontrafazierten, anderweitig überlieferten oder aus dem Gedächtnis reproduzierten) Worten, sei es ohne Worte (durch Vokalisieren oder Solmisieren).[31]

Dank differenzierter Untersuchungen von Kontext, Überlieferung, Form und Stil hat sich jedoch ein Kern von Werken herausgeschält, die mit hoher Wahrscheinlichkeit unabhängig von einem Sprachtext geschrieben wurden und für Instrumentalensembles gedacht waren (was andere Formen der Wiedergabe wie textloses Singen oder Intavolierung und Darbietung auf Laute oder Tasteninstrument nicht ausschloss).

Bei diesen drei- oder vierstimmigen Sätzen, die u. a. von den namhaftesten franko-flämischen Komponisten der Zeit wie Josquin, Obrecht und Isaac stammen, lassen sich zwei Arten unterscheiden: zum einen sog. „cantus firmus-Arrangements“, in denen präexistentes melodisches Material  – ,populäre‘ Lied- oder Tanzmelodien oder einzelne aus mehrstimmigen Chansons entnommene Stimmen – verarbeitet wird, zum zweiten c.f.-freie sog. „Instrumentalfantasien“, zu denen u. a. so beliebte, in zahlreichen Quellen überlieferte Stücke wie Johannes Martinis La martinella und Heinrich Isaacs La Morra zählen:.[32]

Isaacs Komposition ist in mehr als 20 Quellen überliefert, darunter Petruccis epochemachendem Druck von 1501. Titel, die sich auf Personen oder ,außermusikalische‘ Gegenstände beziehen, aus Solmisationssilben gebildet sind oder abstrakte musikalische Bezeichnungen (wie z.B. „carmen“) verwenden, sind bei Instrumentalfantasien nicht ungewöhnlich, stand doch ein Text oder ein cantus firmus zur Benennung nicht zur Verfügung. Worauf „La Morra“ anspielt, ist ungewiss. Vorgeschlagen wurden der Mailänder Herzog Ludovico Maria Sforza, gen. „Il moro“, das in Italien beliebte Morra-Spiel und der spanische Sieg über die Mauren bei Granada 1492.

Das Komponieren textloser bzw. für Instrumentalensemble bestimmter Sätze dürfte bereits nach der Mitte des 15. Jahrhunderts im zentraleuropäischen Raum in Gang gekommen sein, ehe es etwas später in Italien Fuß fasste. Seit ca. 1470 traten einzelne Komponisten geradezu als ,Spezialisten‘ für diese Art von Musik hervor, vor allem Johannes Martini, Alexander Agricola und Heinrich Isaac. Auffällig ist, dass diese Musiker in norditalienischen Städten wie Ferrara und Florenz wirkten, also an Orten, die auch für ihre hoch entwickelte Instrumentalmusikkultur bekannt sind. Von daher liegt die Annahme nahe, dass die Produktion von solchen mehrstimmigen, mensural notierten Instrumentalstücken nicht zuletzt durch die Begegnung mit den herausragenden, auch zur Wiedergabe komponierter (Vokal-)Polyphonie befähigten Instrumentalvirtuosen dieser Zeit stimuliert wurde – eine Begegnung, die im Fall Heinrich Isaacs und Augustin Schubingers direkt belegt ist (» G. Kap. Schubinger, Lorenzo de’ Medici und Isaac).

[32] Vgl. von der umfangreichen Literatur zu diesem Repertoire nur Polk 1997; Strohm 1992; Jickeli 1996; Banks 2006.