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Musizieren im Instrumentalensemble

Markus Grassl

Zu Schubingers Zeit entsprang das auf Instrumenten Gespielte nach wie vor zu einem erheblichen Teil einer „schriftlosen Praxis“. Die Forschung hat mittlerweile recht genau rekonstruieren können, mittels welcher Verfahren Instrumentalensembles mehrstimmige Sätze aus dem Stegreif hervorbrachten.[29] Grundlage waren präexistente, den Musikern vertraute Melodien, und zwar je nach Anlass ein liturgischer Choralgesang, eine Liedmelodie, einer der für die Tanzmusik zur Verfügung stehenden sog. Tenores oder auch eine einzelne, aus einer mehrstimmigen Vokalkomposition extrahierte Stimme. Dieser cantus prius factus wurde in der Tenorlage, seit ca. 1500 vermehrt auch im Diskant, gespielt; dazu führten die anderen Instrumente Außen- bzw. Unterstimmen aus, wobei die Musiker standardisierten, die kontrapunktische Korrektheit des Satzes garantierenden Intervallfortschreitungen folgten und gleichzeitig die melodischen Linien mehr oder weniger mit oft ebenfalls formelhaften Wendungen figurativ bzw. ornamental anreicherten. Im hohen Maße war diese Art von „Improvisation“ also an Vorgaben, Modelle und Muster gebunden. Darüberhinaus wird man sich vorzustellen haben, dass das Musizierte gerade bei aufeinander eingespielten Ensembles durch Routine und Wiederholung zu einer gewissen Fixierung tendierte, ja unter Umständen in mehr oder weniger festgelegten Stücken bestand, die aus dem Gedächtnis reproduziert wurden. Insofern ist zumindest missverständlich, wenn – wie so oft in der Literatur – die instrumentale Praxis undifferenziert mit „Improvisation“ gleichgesetzt wird. Hinzu kommt, dass das schriftlose Ensemblespiel auf denselben satztechnischen Grundlagen beruhte wie die komponierte bzw. schriftlich fixierte Vokalmusik und besonders bei professionellen Instrumentalisten zu elaborierten Ergebnissen führen konnte, die sich nicht prinzipiell von komponierter Polyphonie unterschieden.

Diese Verbindung zwischen instrumentaler Praxis und Vokalkomposition ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund eines zweiten Bereichs instrumentalen Musizierens zu sehen: Seit etwa der Mitte des 15. Jahrhunderts wanderten mit ständig wachsender Intensität original vokale Stücke, besonders Chansons und Liedsätze, aber auch Motetten und Messensätze, in das Repertoire von Saiten- und Blasinstrumentalisten ein. Dabei war eine notengetreue Wiedergabe wohl eher die Ausnahme. Vielmehr ist mit Anpassungen an die technischen und klanglichen Bedingungen der Instrumente zu rechnen, weiterhin konnten Diminutionen, also Verzierungen, angebracht oder der originale Satz um neue Stimmen erweitert werden (wobei dieselben oder ähnliche Verfahren zur Anwendung kamen wie bei der Stegreifproduktion instrumentaler Sätze).[30]

Die Übernahme von Vokalpolyphonie in das Repertoire von Instrumentalensembles schuf die Voraussetzung für die erwähnte aufführungspraktische Innovation der Zeit um 1500 (und fand darin zugleich eine Fortsetzung): die Begleitung der Kantorei durch Zinken und Posaunen. Inwieweit die Bläser auch dabei jenen flexiblen Umgang mit den Werken pflegten wie bei rein instrumentalen Realisierungen, also etwa Verzierungen oder zusätzliche Stimmen ergänzten, ist nicht direkt belegt, aber durchaus vorstellbar (und eine in der heutigen Aufführungspraxis noch wenig genutzte Möglichkeit).

[29] Grundlegend Polk 1992a, 169–213; siehe u. a. auch Gilbert 2005; Neumeier 2015, 273–290.

[30] Für einen Gesamtüberblick zum instrumentalen Musizieren um 1500 siehe Coelho/Polk 2016, insb. 189–225; Grassl 2013.