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Universität und Musik. Musikbücher im universitären Umfeld

Susana Zapke
  • Bücher und Weltlauf

    „Zwischen den Büchern und der Wirklichkeit ist eine alte Feindschaft gesetzt. Das Geschriebene schob sich an die Stelle der Wirklichkeit, in der Funktion, sie als das endgültig Rubrizierte und Gesicherte überflüssig zu machen.“[1] So formuliert Hans Blumenberg das Verhältnis zwischen Bücherwelt und Weltbuch in seiner Studie Die Lesbarkeit der Welt. Nimmt man das Buch als Metapher für das Ganze der Erfahrbarkeit, so lässt sich ein wachsendes Begehren nach Welterfahrung und Welterkenntnis in der dynamischen Bücherproduktion und -erwerbung erkennen, die im Wien seit der Gründung der Universität 1365 und besonders im 15. Jahrhundert stattfand.

    Eine genaue Statistik der im Wien des 14.–15. Jahrhunderts meist rezipierten und disseminierten Bücher ist aufgrund der mangelhaften Bestandüberlieferung zwar nicht möglich, dennoch ist eine approximative Bewertung zulässig. Im Registerband zu Theodor Gottliebs Erschließung der mittelalterlichen Bibliothekskataloge Österreichs nehmen bestimmte Autoren, wie etwa Augustinus, mehrere Eintragsseiten in Anspruch.[2] Diese Feststellung mag unbedeutend erscheinen; allerdings steht der Name Augustinus sowohl in Zusammenhang mit der Thematik von Einheit und Vielfalt der Bücher, als auch mit der Auseinandersetzung mit der Doppelmetapher des Himmels als Buch und des Buches im Himmel mit dem biblischen Gott als schreibenden Gott in enger Verbindung. Die augustinische Auslegung der Prozedur des letzten Gerichts im zwanzigsten Buch des De civitate Dei und seine intensive Rezeption im Rahmen der theologischen Fakultät Wiens ermöglicht eine Verbindung zur determinativen Auseinandersetzung jener Zeit mit der Lösung aus dem Fegefeuer, die sich etwa in der Gestalt von (Seelenmess-)Stiftungen manifestierte.[3] Herrscher wie Untertanen entwickelten ihre sozialen Beziehungen im Rahmen der Jenseitsvorsorge: durch Stiftungen, Bruderschaften und Gebetsverbrüderungen. Die enge Beziehung der Habsburgerherzöge zu den Augustiner-Eremiten ist allein durch ihre Stiftungspolitik ausreichend bezeugt. Dass die Messstiftungen oft mit dem Legat einzelner liturgischer Bücher gekoppelt waren, ist aus der reichhaltigen Stiftungsdokumentation des 14.–15. Jahrhunderts in Wien zu entnehmen. Die liturgischen Bücher der Messe und des Offiziums, die den liturgischen Jahreskreis nachzeichneten und die durch Stiftungen in die Zeremonien der memoria neu eingeordnet wurden, mögen das Sinnbild eines übergeordneten Buches von Weltlauf und Weltende sein.[4] Sie verweisen auf die memoria des letzten Gerichts, die immanenter Gegenstand der zahlreichen Stiftungen war. Die Memorialstiftung der Herzogin Beatrix von Nürnberg (gest. 1414), Mutter Herzog Albrechts IV., ist exemplarisch. Beatrix fand an Petrus, dem Rektor der Pfarrkirche in Mautern, einen großzügigen Förderer der Burgkapelle. Petrus stiftete neben einigen Häusern und Weingärten all seine Bücher, Gewand und Wein „dew ich verspart hab all mein tag“ zur Seelenmesse der Herzogin.[5] 

  • Bücher und Bildung

    Das Buch fungierte ebenso als Repräsentationsobjekt der gelehrten Eliten und lieferte ein zentrales Motiv im ikonographischen Konzept zahlreicher Grabmäler der Wiener Universitätsprofessoren, wie etwa jener von Konrad Celtis (» I. Odengesang) und Johannes Cuspinian im Stephansdom, die beide mit Büchern dargestellt sind (» Abb. Celtis-Grabmal). Die Tradition der Gelehrtendenkmäler ist aus den ältesten Universitätsstädten wie etwa Paris und Bologna bereits seit dem 13. Jahrhundert bekannt.[6]

     

    Abb. Celtis-Grabmal

    Abb. Celtis-Grabmal

    Das Celtis-Grabmal am Stephansdom.
    Inschrift: „CON.CELTI.PROTUCIO.POE:OSTROFRANCO EX TESTAM:PIE POSITVM“ (Für Conradus Celtis Protucius, dem Poeten aus Ostfranken, fromm gesetzt nach seinem Testament.)
    (Quelle: Zapke, Urbane Musik)

     

    Die geistlichen und intellektuellen Zentren Wiens – mit St. Stephan und dem Collegium Ducale als neuralgischen Transferpunkten intellektueller Kreise – stellten ein dichtes interaktives Netzwerk sowohl innerhalb – intra muros – als auch außerhalb – extra muros – der Stadt und verweisen somit auf eine komplexe geistige Kommunikationsarchitektur.[7] Bildung und Glaube waren dabei die Grundpfeiler einer kanonischen Praxis, wobei hier Bildung als Wissensaneignung und -vermittlung innerhalb eines primär theologisch geprägten Erkenntnisbegriffs zu verstehen ist. Die Kategorien Bildung und Glaube sind somit definitorisch gekoppelt zu verstehen. Das Profil der Büchersammlungen ist entsprechend artikuliert. Die Tatsache, dass der Bildungskanon maßgeblich von der geistlichen Körperschaft, identisch mit der universitären Körperschaft, bestimmt war, lässt sich am Profil der Bücherbestände ablesen. Die geistige Stadt baut auf das dichte Gewebe einer geistlichen Infrastruktur auf. Hier fungieren die Bücher zugleich als Generatoren und als Repräsentanten einer urbanen Gelehrtenwirklichkeit. Jedes Buch tritt in Verbindung mit einem spezifischen urbanen Raum und verweist zugleich auf ein übergeordnetes intellektuelles System, das über die materiellen Grenzen der Stadt hinausreichte.

    Für die Vermehrung von Büchersammlern und -sammlungen ist schließlich die spätmittelalterliche Wende im „Personal“ der Bücherwelt – wie es Blumenberg definiert – bezeichnend. Eine Wende, die sich im Übergang vom Monopol der Mönche und Kleriker zu den Stadtbürgern, den illiteraten Laien und den bürgerlichen Literaten abspielt. Diese für das 15. Jahrhundert bezeichnende sozio-intellektuelle Wende lässt sich an den Bücherbeständen Wiens deutlich ablesen.[8]

  • Identifizierung musikalischer Bücherbestände

    Die Identifizierung der Musikbestände des mittelalterlichen Wien erfordert aus zwei Gründen eine differenzierte Vorgehensweise. Erstens stützt sich eine solche Untersuchung vorwiegend auf indirekte Überlieferungen, zweitens ist die in den überlieferten Belegen verwendete Nomenklatur nicht immer eindeutig interpretierbar. Aus den erhaltenen Quellen wie etwa Bücherverteilungslisten der Artistenfakultät, Testamentsauszügen, Schenkungsurkunden und Bücherverzeichnissen sowie aus vereinzelten Notizen in Handschriften lassen sich die Büchertitel lediglich fragmentarisch rekonstruieren. Was den musikalischen Bestand speziell betrifft, so bilden die teilweise kryptisch bis ambivalent notierten Einträge zusätzliche Hindernisse bei einer getreuen Wiedergabe der Originale.

    Ein Beispiel damaliger Bücherlisten ist das 1330 verfasste Verzeichnis der Bibliothek von Klosterneuburg. Eine der vier darin beteiligten Hände notierte die vom Bibliothekar selbst („a magistro Martino“) hinterlassenen Bücher.[9] Die Überschrift „libri musicales“ lässt zwar eine prominente Sammlung an musikalischen Lehr- und Repertoirehandschriften in jener Bibliothek erahnen, allerdings folgt hinter jener Rubrik mehrmals die generalisierende Angabe „Item libellus musicalis“, was die Identifikation sehr erschwert. Nur der Eintrag auf fol. 10v „Libri musicales. Primo liber musicalis qui incipit: Domino deoque dilecto arcipresuli Pilgrimo“ (Musikbücher. Erstens ein Musikbuch beginnend „Dem gottgefälligen Herrn Erzbischof Pilgrim“) bezieht sich eindeutig auf Berno Augiensis (Bern v. d. Reichenau) Musica seu Prologus in Tonarium, das der Verfasser dem Erzbischof Pilgrim von Köln widmete. Andere Einträge wie ein „antifonarium musicale“ und ein „ympni per musicam“ verweisen auf weitere Musicalia im Bestand der Klosterbibliothek.

    Eine ähnliche Erfahrung gewährt das umfassende Melker Register, bei dem Einträge wie „musice artis tractaculi“ (Traktate der musikalischen Kunst) oder „item canciones plures“ (weiters verschiedene Gesänge) eine notorische Interpretationsbreite eröffnen. Wiederkehrende Formulierungen wie „Messpücher“, „Sankpücher“, „tractatuli duo de cantu mensurali metrice“ (zwei Verstraktate vom mensurierten Gesang) und „tractatulus metricus de musica“ (Verstraktat von der Musik) sind ebenso zum Inventar der ambivalenten Bezeichnungen zu rechnen – obwohl den beiden letzteren eine noch identifizierbare Handschrift entspricht (» A-M Cod. 950, vgl. Kap. Melker Musikhandschriften).[10]

    Wiederholte Einträge in den Wiener Acta Facultatis Artium bzw. in den Bücherverteilungslisten vom 1. September des jeweiligen akademischen Jahres erwähnen „musica“ oder spezifischer „musica Muris“ und „musica Boethius“ (mit Hinweis auf die kanonischen Autoren Johannes de Muris und Severinus Boethius). Die Abwesenheit mensuraler Trakate ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, wenn man sowohl an musikpraktische Interessen der Studentenschaft als auch an andere mit der Universität interagierende Zentren denkt, wie etwa das Benediktinerkloster Melk, wo zahlreiche Mensuraltraktate belegt sind.[11]

  • Melker Musikhandschriften

    Ein Beispiel für die enge Verflechtung der Ausbildungszentren in Bezug auf die Mensurallehre bietet der Melker Codex » A-M Cod. 950 (olim 710):

    Bernonis tonarius (fol. 1–14)
    Tractatulus quidam de musica (fol. 15–183)
    Tropi octo modorum canendi sec. morem monast. Mellicensis (fol. 183–188)
    Tractatulus de cantu mensurali (fol. 188–204)
    Tractatuli duo de cantu mensurali metrice (fol. 205–221)
    Tractatulus metricus de musica (fol. 222–229)
    Responsoria, sequentiae, antiphonae etc. cum notatione.[12]

    Zeitlich dürfte die Handschrift in die Zeit von Abt Christiannus Eybensteiner von Schirmannsreith (1433–1451) fallen, der sich 1415 an der Wiener Universität immatrikuliert hatte. Dem aktuellen Katalog der Melker Stiftsbibliothek nach sind sämtliche mensurale Lehrtexte zwischen Ende des 14. und Ende des 15. Jahrhunderts datiert. Die Expositiones des Magisters Jacobus Gressing von Fladnitz, Rektor des Collegium civium, im Melker Codex »  A-M Cod. 749 (olim 542) sind möglicherweise um 1450 als Lehrtexte in der Schule von St. Stephan gebraucht worden. So heißt es im Explicit (fol. 376v): „Item illud Psalterium est datum pro latino duobus annis et celebribus festis per magistrum Iacobum de Fladnicz rectorem scole sancti Stephani Wienne scriptum per me Cristiannum Fabri Karinthianum de Gmünd studentem Wiennensem ac finitum in die sancti Martini episcopi et confessoris anno domini 1457“ (Dieses Psalterium ist bestimmt für [den Unterricht in] Latein in zwei Jahren und für die Hochfeste, geschrieben von mir, Christiannus Fabri aus Gmünd in Kärnten, Student in Wien, und abgeschlossen am Tag des Hl. Martin, Bischofs und Bekenners (11.11.) im Jahr 1457).

    Diese Koinzidenz ist insofern aufschlussreich, als zur Mitte des 15. Jahrhunderts ein intensiver Austausch von Gelehrten und Lehrschriften zwischen Melk und der Wiener Universität bestand. Bisher konnten ca. 60 Handschriften der Melker Stiftsbibliothek mit dem Lehrbetrieb der Artistenfakultät in Zusammenhang gebracht werden.[13] Auch A-M Cod. 749 verbindet das Kloster Melk mit der Universität: Sowohl der Autor Jacobus von Fladnitz, der 1454/1455 Dekan der Artistenfakultät war, als auch der Schreiber Magister Christian Fabri waren Angehörige der Wiener Universität und des collegium civium.[14] Die mensuralen Gloria-Fragmente in den Vorsatzblättern von A-M Cod. 749 (f. I und I*) stammen nach Reinhard Strohm aus dem Umfeld von St. Stephan.[15]

  • Bücherverortung

    Die posthum veröffentlichten Register zu Gottliebs Mittelalterliche Bibliothekskataloge Österreichs bieten signifikante Erkenntnisse nicht nur im Sinne einer Bestandstopographie, sondern auch im Sinne einer zeitspezifischen Bibliothekstypologie. Die Datenbank von Friedrich Simader Bücher aus der mittelalterlichen Universität Wien und ihrem Umfeld[16], teilweise auf Gottliebs Ausgabe basierend, sortiert die Bestände und erweitert die Information durch eine akribische Provenienzforschung, die die Identifizierung überlieferter Exemplare ermöglicht hat. Leider sind die musikalischen Lehrtexte und Repertoirequellen hierbei unterrepräsentiert. Gegenüber den zahlreich belegten klassischen Autoren der Theologie wie etwa Cassiodor, Augustinus, Bernhardus, Albertus Magnus, Nicolaus de Lyra und Bernhardus Claravallensis und der Werke Wiener Professoren wie Nicolaus von Dinkelsbühl und Heinrich von Langenstein bilden die Musicalia stets eine reduzierte Eintragsgruppe. Die Verortung letzterer ist darüber hinaus diversifizierter. Als Aufbewahrungsorte musik-liturgischer Bücher dienten einerseits die größeren Bibliotheken – liberariae – etwa in Klöstern, Bursen und Universitätsfakultäten, andererseits Pfarrkirchen, Kapellen, Sakristeien und Altäre, sowie private Bibliotheken. Exemplare für die Musikpraxis sind nur vereinzelt zu finden, etwa als Makulatur oder als Teil einer Miscellanea. In den Testamenten und sonstigen schriftlichen Kundgebungen konnten keinerlei musikalische Repertoirequellen identifiziert werden.

    Die topographische Zuordnung der überlieferten Musicalia ergibt sich einerseits aus den Besitzeinträgen der materiell vorhandenen Exemplare und andererseits aus den Erwähnungen in Urkunden und Bücherverzeichnissen.[17] Dadurch gilt es hier zwischen zwei Kategorien zu unterscheiden: Die real und die virtuell existierenden Handschriften.

  • Erhaltene Codices mit musikalischen Inhalten

    Vienna intra muros

    • St. Stephan:
    • St. Stephan, Bürgerschule (Collegium civium):[21] A-Wn Cod. 5203 (Johannes Regiomontanus, datiert 1454); A-Wn Cod. 3217 (?; Wolf de Welsa); A-Wn Cod. ser. nov. 3980 (Universität?); A-Wn Cod. 5182 (?; Collegium civium?)
    • Collegium ducale (Artistenfakultät): A-Wn Cod. ser. nov. 3980; A-Wn Cod. 5182 (Collegium civium?); A-Wn Cod. 4951 (um 1501); A-Wn Cod. 2339 (Jakob von Wuldersdorff);[22] GB-Ccl Cod. 54; A-Wn Cod. 5239; » A-Wn Cod. 4337; A-Wn Cod. 4702
    • Schulisches Umfeld: A-Wn Cod. 3217 (Wolf de Welsa); A-Wn Cod. 5182 (Collegium civium?); A-Wn Cod. 3152
    • St. Magdalena vor dem Schottentor: A-Wn Cod. 1894; A-Wn Cod. 1915; A-Wn Cod. 1931; A-Wn Cod. 1932; A-Wn Cod. 2035; A-Wn Cod. 4724; A-Wn Cod.13825
    • St. Dorothea: A-Wn Cod. 500; A-Wn Cod. 585; A-Wn Cod. 2285; A-Wn Cod. 2497; A-Wn Cod. 1933; A-Wn Cod. 2038; A-Wn Cod. 2684; » A-Wn Cod. 5094 (?);[23] A-Wn Cod. 4702 (?)[24]
    • Deutscher Orden: A-Wn Cod. 15044[25]
    • Dominikaner: A-Wn Cod. 232 (Katalog Ende des 15. Jh.)
    • Schottenstift: Fragmente mit Notation A-Ws Archiv Hs. 355 (Schenkung u. a. von Johannes Polzmacher und Andreas von Weitra, keine Musicalia)
    • St. Peter: » A-Wn s. n. 3344 (Vorbesitzer: „Das puech ist Iorgn Schrat pharrer zu sand peter ze wienn anno 1457°“).[26]
    • St. Nikolaus-Collegium: A-Wn Cod. 2502; A-Wn Cod. 1595; A-Wn Cod. 2503 (?); A-Wn Cod. 2421
    • Bürgerspital: Kopialbuch des Wiener Bürgerspitals (1432), Gesamtinventar des Bürgerspitals (ab fol. 46r):
      • „Vermerkcht die mespucher und sankpücher. Item ain newr antiffner
        Item sechs ganze mespucher in pergamen … item drew gradual i
        pergamen, item zwen altt antiphoner, ain alts gradual, zwo alt agend.“[27]

    Vienna extra muros

    • Klosterneuburg – Universität: A-KN Cod. 52; A-KN Cod. 53; A-KN Cod. 54; A-KN Cod 55; A-KN Cod. 56; A-KN Cod. 57
    • Mondsee – Artistenfakultät Wien: A-Wn Cod. 5160; A-Wn Cod. 5161; A-Wn Cod. 3646; A-Wn Cod. 3550; A-Wn Cod. 3571; A-Wn Cod. 4784; A-Wn Cod. 3839
    • Weitra – Theologische Fakultät Wien – St. Stephan (?): A-WEI Cod. 1/7
    • Zwettl: Schenkung von Otto Gnaemhertel, Pfarrer von St. Maria am Gestade (40 Exemplare)
    • Melk:[28] A-M Cod. 749 (542, K 12); » A-M Cod. 950; A-M Cod. 949; A-M Cod. 662; A-M Cod. 985; A-M Cod. 988; A-M Cod. 1094; A-M Cod. 1099; A-M Cod. 1835; A-M Cod. 1916
  • Virtuelle Büchersammlungen und deren Besitzer

    Ging die Untersuchung der Topographie der Musikbestände Wiens vom überlieferten Buchexemplar unter Berücksichtigung der vorhandenen Besitzeinträge aus,[29] so wird hier ein komplementärer Zugang gesucht, bei dem sämtliche dokumentarischen Quellen wie Testamentsauszüge, Legate, Kauf- und Verkaufsvermerke, Bücherverzeichnisse, Schenkungsnotizen sowie Stiftungsbriefe in die Untersuchung miteinbezogen werden. Diese Quellengattungen dokumentieren den Bestimmungsort der Bücher aufgrund des letzten Willens des Erblassers oder anderer entsprechender Anweisungen. Es handelt sich hier um teilweise virtuelle Büchersammlungen, d. h. um nicht materiell überlieferte Bestände, deren Kenntnis wir oft einer einzigen schriftlichen Mitteilung verdanken.

    Das Profil des Bücherbesitzers reicht vom einfachen Priester bis zum herzoglichen Berater oder Adeligen, vom Universitätsprofessor bis zum bibliophilen Humanisten, vom gewöhnlichen Studenten bis zum Gelehrten. Der Bücherbestand fluktuiert zwischen einem einzigen und einhundert Büchern. Die gut dotierten Bibliotheken, wie etwa jene des Doktors der Medizin Erhard von Traismauer, umfassten bis zu 90 Exemplare. Zu differenzieren gilt es zwischen den institutionellen und den privaten Büchersammlungen, wobei erstere aus Stiftungen sowie aus Vererbung und Schenkung individueller Büchersammlungen erwuchsen. Die klassische Gestalt des humanistischen Büchersammlers trat in Wien zwar erst Ende des 15. Jahrhunderts deutlich zu Tage und wurde durch Persönlichkeiten wie etwa Johannes Gremper, Johannes Cuspinian und Conrad Celtis (» I. Odengesang) vertreten, jedoch sind die ersten gut bestückten Büchersammlungen von Wiener Bürgern und Geistlichen bereits ab der zweiten Dekade des 15. Jahrhunderts identifizierbar. Hierzu gehören nicht zuletzt die Sammlungen von Johannes Polzmacher, Andreas von St. Stephan oder von Thomas und Andreas von Weitra. Die Sammlung des Theologen Andreas von Weitra bestand aus 17 Exemplaren und wurde wie im Falle von Erhard von Traismauer der jeweiligen Fakultätsbibliothek vermacht. Die Akten der Artistenfakultät verzeichnen akribisch jedes übernommene Buch. In der Regel stammen die Bücherbestände aus dem Personenkreis der universitären Körperschaft. Dennoch ist eine Übereinstimmung der Wirkungsinstitution des Bücherbesitzers und der Empfangsinstitution seines Legats nicht immer zwingend vorauszusetzen.

  • Bücherschenkungen zu St. Stephan: Fallbeispiele

    Johannes von Gmunden

    Johannes von Gmunden, Kanonikus von St. Stephan, erließ am 21. September 1433 – zwei Jahre nach seinem Rücktritt als Pfarrer in Laa an der Thaya – eine Ordinacio de libris et instrumentis. Der „canonicus ecclesie sancti Stephani Wienne et plebanus in Laa“ verfügte zugunsten der Artistenfakultät „quod libri mei infra scripti et similiter instrumenta astronomica post obitum meum maneant apud facultatem arcium“ (dass nach meinem Ableben meine unten aufgeführten Bücher und ebenso meine astronomischen Instrumente bei der Artistenfakultät verbleiben sollen). Nach einer umfassenden Bücherauflistung ist von einem „liber in pergameno continens musicam Boethii“ die Rede:[30] Ein erster Beleg dafür, dass der seltene Eintrag „Musica Boethii“ in den Bücherverteilungslisten der Acta Facultatis Artium einer tatsächlichen Verwendung jener musikalischen Lehrschrift im Rahmen der Artistenfakultät entspricht. Johannes von Gmunden wirkte als Dekan der Artistenfakultät in den Jahren 1413 und 1423, sowie als Vizekanzler im Jahre 1426.


    Jorg Slaher

    Die Existenz einer Bibliothek in St. Stephan – in den Urkunden u. a. als „liberei“, „librey“, „liberaria capituli und liberaria canonicorum“ vermerkt  deren genaue Platzierung zwar nicht festgestellt werden konnte, scheint jedoch gesichert zu sein.[31] Ihre Konstitution führt zunächst auf die herzogliche Schenkung Rudolfs IV. und auf die späteren Legate der Domherren zurück.[32] Diese beschränkten sich hauptsächlich auf Bücher primär theologischen Inhalts sowie auf vereinzelte liturgische Bücher. Beispielsweise vermachte der Chormeister Jorg Slaher am 12. April 1429 „den Leviten zu sand Stephan drei pücher textus ewangeliorum, ain halbs passional, sermones de tempore, item ain puch in geistlichen rechten des Gwerleich notarii“.[33] Ob der Chormeister weitere Bestände überließ, ist nicht bekannt; das Fehlen musikalischer Quellen in seinem Legat mag befremden, ist aber dadurch zu erklären, dass der magister chori eine hohe Verwaltungsfunktion hatte, während die praktische Musik dem cantor unterstand.


    Andreas von St. Stephan

    In einer heute verschollenen Handschrift aus dem Stift Admont befand sich eine Notiz über das Legat des Andreas von St. Stephan: „Hic annotantur libri Andreae choralis ecclesiae s. Stephani in Wienna“ (Hier sind die Bücher des Andreas, Chormitglied von St. Stephan, verzeichnet).[34] Das Datum wird vor 1471 festgelegt. Andreas von St. Stephan besaß um die 10 Exemplare, die er an unterschiedliche Adressaten vererbte. Möglicherweise bezeichnend ist hier wieder das Fehlen musikalischer Exemplare bei einem Chormitglied (d. h. Choralschüler, nicht Chorherr) von St. Stephan.


    Schenkungen an die Kollegiatsbibliothek

    Das Bücherverzeichnis des Kollegiatskapitels zu St. Stephan, das in einem Kopialbuch von 1395 überliefert ist, belegt ein „graduale musicale parvum“ (kleines musikalisches Graduale), das Messgesänge enthalten haben muss. Alle weiteren Exemplare sind heterogener Natur und umfassen sowohl medizinische Traktate als auch theologische Schriften, Psalterien, Matutinalien, eine Bibel, einen Kalender, ein Passionale und mehrere Dekretalien. Eine weitere Bücherliste von Anfang des 15. Jahrhunderts gibt den Bestand der libraria canonicorum von St. Stephan wieder, bestehend aus neuen Schenkungen und aus dem alten corpus. Der Rubrik „Nota libros librarie ecclesie vel capituli ecclesie omnium sanctorum Wienne“ (vermerkt die Bücher der Kirchenbibliothek, d. h. des Allerheiligenkapitels in Wien, [die Bibliothek der Kanoniker]) folgt eine Reihe theologischer und medizinischer Traktate aus dem Umfeld der Wiener Universität. Die Namen der Magister, die der Bibliothek der Kanoniker von St. Stephan Bücher schenkten, sind bei jedem Eintrag vermerkt.[35] Es konnten keine musikalischen Lehrbücher oder musikalischen Repertoirequellen hierbei verzeichnet werden.[36]


    Bücher für Kapellen und Altäre

    Obwohl die genaue Verortung der Bibliothek im Stephansdom nicht bekannt ist, bieten die Stiftungsurkunden und Legate genaue Angaben zur Identifizierung weiterer Aufbewahrungsorte der Bücher in den Stiftungskapellen und Altären des Domes. Das Schatzverzeichnis der Tirnakapelle, auch Kreuz- und St. Morandus- Kapelle genannt, datiert vom 5. September 1426 und enthält den bemerkenswerten Eintrag „item ain cancional in pergameno“.[37] Ob es sich bei diesem in Pergament gebundenen Codex um ein Cantionale im Sinne einer liturgischen und paraliturgischen Liederkompilation wie etwa beim Seckauer Cantionarius handelt, oder gar um eine Sammlung mehrstimmiger Musik wie in späteren Verwendungen des Begriffs Cantionale, bleibt hingegen ungeklärt.[38] Jedenfalls beinhaltet das Inventar insgesamt zehn Bucheinträge ausschließlich musik-liturgischer Natur:

    „zwe Messpuecher, ain mettenpuech in tzwain panten [in zwei Bänden], ein gradual, tzwen antiphner in pergamen, ainer in papier, aun ein antipfner, ain swartz püchel in pergamen, vers [weiters?] ein Salve und passiones, ein vesperal in pergameno, ain cancional in pergameno, Iacobellus, versus super Salve regina in pergameno, breviarius in pergameno“.

    Der Bücherbestand der Tirnakapelle ist auf die zahlreichen Stiftungen seitens der landesfürstlichen Familie und der Wiener Bürger zurückzuführen. Erbaut wurde die Kapelle zwar vom Habsburger Herzog Rudolph IV. um 1358/62, bestiftet, weiter ausgestattet und als Familiengrablege konzipiert wurde sie jedoch später von der Familie Tirna.[39]

    Neben dem Schatzverzeichnis der Tirnakapelle ist für den Bücherbestand an St. Stephan folgende Schenkungsnotiz aus dem Calendarium necrologicum des Wiener Domstifts (um 1402) von Interesse: „Primo ordino pro decanatu missale novum. Item vesperale et officiale de sancta Katherina, de sancta Barbara, de sancta Dorothea et de sancto Iohanne ante portam Latinam, totum in pergameno” (Erstens bestelle ich dem Dekanat ein neues Missale. Ferner ein Vesperale und Offiziale von St. Katharina, St. Barbara, St. Dorothea und St. Johannes ante portam latinam, alles in Pergament). Da in St. Stephan eine St. Katharina- und eine St. Barbarakapelle jeweils 1395 und 1474 geweiht wurden und ein Dorothea-Altar bis 1404 am Lettner stand, gibt diese Notiz Anlass zur Verortung der für den alltäglichen Gebrauch vorgesehenen Handschriften – vesperale et officiale – in den jeweiligen Kapellen bzw. am Ort, wo sich die Kantorei befand. Eine Schriftquelle von 1404 erwähnt „die Cantorey“ am Lettner gemeinsam mit dem Dorotheaaltar.[40] (Zu schriftlichen Zeugnissen des Dorothea-Kults in Wien vgl. » A. SL St. Dorothea.)

    Das Fest der Schutzheiligen Katharina ist in den Statuten der Artistenfakultät von 1389 prominent vermerkt, wobei Gesang sowohl zur Tagesmesse als auch zur ersten Vesper am Vorabend vorgeschrieben wurde: „Die sancto festi ipsius beate virginis Katharine missarum solemnia et in die precedente vespere decantentur, nisi aliquid obstiterit magni“ (Am Festttag der Hl. Jungfrau Katharina sollen ein festliches Hochamt und am Vorabend die Vesper gesungen werden, falls nicht eine größere Verhinderung eintritt).[41]

    Aus dem calendarium necrologicum des Stephansdoms sind ebenso Bücherschenkungen, unter anderem von Wiener Universitätsgelehrten, an die verschiedenen Kapellen in St. Stephan zu entnehmen. Aus einem Besitzvermerk des 15. Jahrhunderts in » A-Wn Cod. 4134 (fol. 252v) ist der Kaplan der Katharinenkapelle, Dominus Eckhardus, als Bücherbesitzer bekannt. Ihm gehörte ein Codex mit Predigten, die an die Universitätsangehörigen gehalten wurden („Sermones ad academicos Viennenses habiti“). Auch Universitätsgelehrte vermachten der Katharinenkapelle Bücher im Rahmen von Stiftungen. Hermann von Treysa, Doktor der Medizin und der freien Künste, stiftete eine tägliche Messe in der dem Dechanat gehörigen St. Katharinenkapelle und dazu ein Messbuch. Einen weiteren Teil seiner Bücher – mit Ausnahme jener dem Collegium ducale und dem Kapitel von St. Stephan überlassenen – vermachte er seinen Verwandten mit dem expliziten Verbot, sie zu teilen.[42]

    Kurios, weil es sich hier erstmals um eine Wiener Bürgerin handelt, ist eine vom 21. Juli 1414 datierte Stiftungsurkunde. Darin bestätigen Simon von Ruckersburg, früherer Kaplan der Luzia der Nähzeugerin, sowie Thomas von Weitra (vgl. Kap. Bücher in geistlichem Privatbesitz), dass von den Wiener Räten Hans Mosprunner und Hans von Friesach für die von Frau Luzia auf den St. Martinsaltar zu St. Stephan gestiftete Seelenmesse verschiedene Gegenstände übergeben wurden, darunter „ein messpuch in einer grunen hawt, in dem ersten hauppuchstab ist ain sitzunder Jesus gemalet in einem roten mandel und das puch hat sechs rotseyden snuer oben mit ainer perlein chlaidung geczieret“.[43] Ein Martinsaltar ist am Stephansdom seit 1367 bekundet.

    Aus diesen Beispielen geht hervor, dass musik-liturgische Handschriften als Teil einer Stiftungshandlung und in der Funktion einer Gebrauchshandschrift vor Ort, und zwar in den jeweiligen Kultorten, Altären oder Kapellen, aufbewahrt wurden. Diese Tatsache erklärt teilweise die statistisch betrachtet geringfügige Präsenz musik-liturgischer Quellen in den institutionellen Bibliotheksverzeichnissen.

  • Bücher in geistlichem Privatbesitz

    Was den Bücherbestand der Wiener Geistlichen betrifft, so wurde dieser in der Regel post mortem der Dombibliothek vermacht. Der Nachlass des Wiener Priesters Nikolaus Kammerstorfer demonstriert die minuziöse Planung eines Erblassers für die Weiterreichung seiner Bücherbestände.[44] Am Ende der Aufzählung seiner Büchersammlung, die über zwanzig Exemplare umfasst, werden ein „Mettepuch“ sowie „ein puch uber cantica“ erwähnt: also wohl ein Brevier zu den Offizien der Matutin und theologische Kommentare zu den biblischen Cantica. Über Kammerstorfer ist außer seinem priesterlichen Rang nichts Weiteres bekannt.

    Aufschlussreicher für die Rekonstruktion der Bibliotheksbestände der geistlichen Repräsentanten Wiens im 15. Jahrhundert erscheint das Testament des Chormeisters zu St. Stephan, Jakob Scherhauf, datiert auf den 11. November 1419.[45] Scherhaufs Testament wurde am 20. Juni 1420 dem Rat der Stadt vorgelegt. Der Textwortlaut gibt allerlei Auskunft nicht nur über den materiellen Wert der Bücher, sondern auch über die Absicht des Erblassers, durch den Verkaufsgewinn seiner Bestände eine Stiftung zur Befreiung der Seele aus dem Fegefeuer zu erzielen. Gleich am Anfang seines Testats heißt es:
    „Item meinew pucher sol man ettleiche Verchauffen. Item secundam secunde sancti Thome de Aquino, die ich chaufft hab umb achtzehen guldein. […] Die obegenannten pucher alle schaff ich ze verkauffen und das man mir es alles anleg zu hayl meiner seel, so wie es allerpesst fueg mir mit meinenn lieben geschefftherren, das man mir ze stund und ymerdar mess les, das ich nur aus dem leyden kome des vechfewrs…“
    (Weiters soll man etliche meiner Bücher verkaufen. Weiters das zweite Kapitel des zweiten Buchs des Thomas von Aquin, das ich um 18 Gulden gekauft habe. […] Die oben genannten Bücher bestimme ich alle zum Verkauf, um den Erlös zu meinem Seelenheil anzulegen, so wie es meinen lieben Testamentsvollstreckern am besten erscheint, dass man mir jetzt und auf ewig Messen lese, damit ich nur aus dem Leiden des Fegefeuers entkomme…)
    Lediglich ein einziges Lehrexemplar schafft eine mögliche Verbindung zum Lehrumfeld der Universität. So heißt es zu Beginn des Testats: „Item questiones quarti sentenciarum, als man hie in der schul hat, die ist auch wol funf guldein wert“. Es handelt sich hierbei um die libri sentenciarum von Thomas v. Aquin, die Bestandteil des universitären Curriculums waren.[46] Mit „Schul“ ist hier wohl das Collegium ducale gemeint. Seinen Kollegen, den Chorherren von St. Stephan übergab Scherhauf „das gut diurnale in einner gruen hawtt und ein gemaits chesstel mit messernn“ (das gute Diurnale in grünem Pergamenteinband und ein bemaltes Kästchen mit Messern). Die Büchersammlung Jakob Scherhaufs war für die damaligen Verhältnisse von beachtlichem Umfang, zeichnete sich allerdings durch einen theologischen Schwerpunkt aus und lässt erneut die Erwähnung musikalischer Werke vermissen.

    Besonders interessant ist die Erwähnung eines Thomas von Weitra als einer der Erben am Ende des Testaments: „Item Herrn Thomann von Weithra, der da haisset der Velber, meinem lieben sundernn frewnt und gunner auch meinem gescheftherren, schaff ich ein leffelfueter mit vier oder fumf gueter loffl und den grossen umbhankch, denn die almar ze den puechern“. Es ergibt sich der glückliche Umstand, dass der Name Thomas von Weitra aus Dokumenten aus dem Umfeld der Wiener Universität gut bekannt ist. Aus Weitra stammend, immatrikulierte er 1469 als pauper in Wien und ist als magister regens 1474/75 nachweisbar. Auf der Spiegelseite des Vorderdeckels von A-Wn Cod. 4382 konnte eine bislang nicht edierte Bücherliste von Magister Thomas de Weitra (genannt Velber) identifiziert werden. Darin sind 23 Titel theologischen Inhalts als Legat an das Schottenstift vermerkt: „Hunc librum contulit in monasterio beate marie virginis alias scotorum Wienne honorabilis Dominus Thomas de Weytra presbiterus Pataviensis dyocesis ut Vienna“.[47] Ein weiteres Exemplar konnte seinem Besitz zugeordnet werden. Es handelt sich um die theologische Sammelhandschrift A-Wn Cod. 4173.[48] Dass der Chormeister von St. Stephan dem „magister Thomas von Weitra“ ausgerechnet keine Bücher, sondern wertvolle Alltagsgegenstände wie einen Umhang, Löffel und einen Almar (=armarius?) vermachte, spricht für die gut ausgestattete Bibliothek des Empfängers.

  • Andreas von Weitra

    Aus Weitra stammte auch der Universitätsstudent und spätere Dekan der Artisten- und der Theologischen Fakultät, sowie Kanoniker von St. Stephan, Andreas von Weitra, dessen umfassende Büchersammlung dem Collegium ducale vermacht wurde. Auf fol. 232r ist folgender 1432 datierter Vermerk zu lesen: „Hunc librum cum quiusdam aliis insignibus voluminibus numero 17 liberali ac magnifica donacione inter vivos donavit ad librariam collegii ducalis Wienne venerabilis et eximius pater, magister Andreas de Weytra“ (Dieses Buch, zusammen mit einigen anderen bedeutenden Bänden, 17 an der Zahl, schenkte in einer großzügigen und großartigen Donation zu Lebzeiten der Bibliothek des Collegium ducale zu Wien der ehrwürdige und berühmte Pater, Magister Andreas von Weitra). In den mit der Wiener Universität eng verknüpften Stiften von Seitenstetten (A-SEI Cod. 261, A-SEI Cod. 223, A-SEI Cod. 221) und Göttweig sind weitere Exemplare aus seinem Besitz identifiziert worden. Zusätzliche Exemplare übergab er der Rosenburse (u. a. A-Wn Cod. 4042, A-Wn Cod. 4241, A-Wn Cod. 4487).[49] Die Bibliothek von Andreas von Weitra umfasste demnach mehr als die 17 Exemplare, die er dem Collegium ducale überließ. Eines davon liegt im Pfarrarchiv von Weitra und stellt für die Musikgeschichte Wiens eine äußerst interessante Verbindung dar. Das Fragment eines compendium de virtutibus et vitiis (A-WEI Cod. 1/7) trägt einen Koperteinband (ein flexibler Bucheinband aus Pergament), der aus zwei musik-liturgischen Fragmenten aus dem 12. und 15. Jahrhundert besteht. Das polyphone Fragment des 15. Jahrhunderts (ca. 1440) enthält zwei Unikate: den Hymnus Urbs Beata Iherusalem und ein Kyrie von Guillaume Du Fay.[50]

    Die Tatsache, dass Andreas von Weitra eine zentrale Funktion an der Wiener Universität ausübte und später zum Kanoniker von St. Stephan erwählt wurde, ermöglicht die Verortung des Compendiums zwischen beiden Institutionen. Es ist auch nicht ausgeschlossen, dass das Compendium von der Hand Andreas‘ von Weitra stammte.[51] Das Fragment stellt den einzigen musikalischen Beleg – nur als Makulatur – in der umfassenden Bibliothek von Andreas von Weitra dar, jedoch bietet es einen essentiellen Hinweis auf ein einzigartiges Testimonium der polyphonen Praxis aus dem Wiener Umfeld des 15. Jahrhunderts.

  • Zusammenfassung des Quellenbefunds

    Die erschlossenen Schriftquellen und Überlieferungsbestände betreffen nur zum geringen Teil die musikalische Praxis der Institutionen.[52] Die hier untersuchten Büchersammlungen der Intellektuellen Wiens erklären sich, wie in vielen anderen Chorschulen und Universitäten des damaligen Europas, durch das akademische und/oder berufliche Profil ihrer Besitzer. Neben den grundlegenden Schriften der Artistenfakultät stehen die Lehrschriften des kanonischen Rechts, der Theologie und der Medizin sowie einzelne liturgische Bücher für die eigene Devotion im Mittelpunkt der Büchersammlungen.

    Begriffe wie Cantiones und Sankpuch sind in diesen Sammlungen die einzigen, die auf die Möglichkeit musikalischer – nicht zwingend polyphoner – Praxis hinweisen. Hingegen ist belegbar, dass die Kantorei von St. Stephan und Angehörige des Collegium civium teilweise sogar umfangreiche Sammlungen mehrstimmiger Musik besaßen.[53]

    Selbstverständlich hatte Hermann Edlerawer, der als Komponist bekannt ist und 1440–ca. 1445 Leiter der Kantorei zu St. Stephan war, Zugang zu notierten mehrstimmigen Repertoires. (» G. Hermann Edlerawer, siehe auch » G. Hermann Pötzlinger) Die zwei Fragmente mit polyphonem Repertoire aus dem Umfeld von St. Stephan sind lediglich als Makulatur überliefert: das Fragment in » A-Wda Cod. 4 des Erzbischöflichen Diözesanarchivs und das Fragment aus dem Pfarrarchiv Weitra (A-WEI Cod. 1/7).

    Am Ende dieses Parcours steht zwar das Buch als zentrales Objekt im Bezug auf die Repräsentation, auf die Devotion und nicht zuletzt auf die Wissensgier der immer breiteren Schicht der zivilen und geistlichen Gelehrten und des Wiener „Bildungsbürgertums’ im 15. Jahrhundert. Dennoch müssen die hier erfassten musikalischen Belege durch anderswo überlieferte oder belegte Wiener Musikquellen ergänzt werden.

[3] Zum Stiftungswesen der Wiener Burgkapelle siehe Wolfsgruber 1905. Vgl. zu musikalischen Stiftungen » D. SL Waldauf-Stiftung; » J. Formen der Laienfrömmigkeit; Strohm 2009.

[4] Zum Zeitbewusstsein liturgischer Stiftungen vgl. auch Strohm 2014, 22 ff.

[8] Simader ab 2007. Zur soziologischen Untersuchung der städtischen Gelehrtenkulturen (gens de savoir) und des Wissens als Herrschaftsinstrument siehe Kintzinger 2003.

[9] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 104–118: „Anno ab incarnacione domino MCCCXXX festo nativitatis virginis gloriose registrati sunt libri bibliotece ecclesie Newurgensis a magistro Martino…“. Ab fol. 10r finden sich alle üblichen Lehrbuchtypen eines Schulbetriebes: „libri artis arismetrice, libri musicales, libri Tullii, auctores gramaticales …“. Die Verbindung von Klosterneuburg zur Wiener Universität ist ausreichend dokumentiert.

[10] Katalog von 1483, A-M Cod. 948. Cf. Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 236; siehe auch Glaßner 2000. Zum Inhalt von A-M Cod. 950 vgl. » C. Mensuraltheorie - Didaktische Aufbereitung.

[11] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 142.

[12] Edition des in Versform geschriebenen Mensuraltraktates, einschließlich eines mehrstimmigen Stücks auf fol. 209v–210 r: Gallo 1971.

[13] Siehe hierzu Glaßner 2010.

[14] Ich danke Frau Christine Glaßner für ausführliche Information bezüglich A-M Cod. 749.

[15] Strohm 1984; Cuthbert 2010; hier beschrieben als „Wiener Codex“, » K. Musikalische Quellenporträts. Die Fragmente waren zuvor (ohne Beziehung zu Wien) erwähnt worden in Staehelin 1974, 238, Anm. 4, und Angerer 1972/1973 (mit Abb.).

[17] Die Aufstellung resultiert vorwiegend aus der Untersuchung in Zapke 2012. Zur Beschreibung der einzelnen Handschriften siehe: www.susanazapke.com. Es konnten bezüglich der Musicalia keine weiteren Erkenntnisse aus der Datenbank von Simader ab 2007 und aus der Ausgabe Wagendorfer 2011 gewonnen werden.

[18] Dieses Makulatur-Fragment ist nachgewiesen in Lackner 2000, 390 f. Näheres in Wright 2009. Die Fragmente wurden inzwischen von ihrer Trägerhandschrift abgelöst, siehe Wright 2016.

[19] Hierzu vgl. besonders Zapke 2014, 362 f.

[20] Zu den Musikalien der Kantorei vgl. » E. Musik im Gottesdienst; Strohm 2014, 25 f.

[21] Es gibt derzeit keinen Beleg über eine eigentliche Bibliothek der Bürgerschule.

[22] Details bei Zapke 2014, 364 f.

[24]  Vgl. Zapke 2014, 365–369.

[25] Vgl. Zapke 2014, 370 f.

[26] Die bekannte Liedersammlung Eghenvelders in dieser Handschrift wird besprochen von Marc Lewon in » B. Das Phänomen „Neidhart“; weitere Details in Lewon 2014.

[27] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 267 f. Vgl. » E. Zwei Inventare. 

[28] Die Identifizierung von Melker Musikhandschriften aus dem Umfeld der Wiener Universität und des Stephansdomes ist Gegenstand einer künftigen Untersuchung. Siehe Glaßner 2010. Hier sind lediglich die musiktheoretischen Traktate aus dem 15. Jahrhundert mit Vorbehalt aufgelistet.

[29] Vgl. Zapke 2012, 218.

[30] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 476.

[31] Zur Frage der Buchbestände im Collegium civium vgl. auch Zapke 2014, 252, Anm. 9.

[32] Siehe die Dombibliothek zu St. Stephan in Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 270–282.

[33] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 273.

[34] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 266 f.

[35] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 277.

[36] Büchersammlungen der Wiener Bischöfe sind erst im 16. Jahrhundert attestiert. Erste Ansätze zur Errichtung einer erzbischöflichen Bibliothek gab es unter Bischof Slatkonia (1515–1522), cf. Lackner 2000, 37 f.

[38] Zum Seckauer Cantionarius von 1345 vgl. » A. Weihnachtsgesänge; zu den Cantionalien Johannes Lupis » G. Johannes Lupi; zu jenen des Stephansdomes Strohm 2014 und » E. Musik im Gottesdienst: Wien

[39] Das Wappen der Tirna befindet sich an der Außenseite und die Grabplatte aus rotem Marmor am Eingang der Kapelle. Vgl. Schedl 2009, 48; Kohn, Inschriften.

[40] Freundliche Auskunft von Univ.-Doz. Dr. Barbara Schedl, Projektleiterin des FWF Forschungsprojekts St. Stephan in Wien. Architektur der Schriftquellen.

[41] Acta Facultatis Artium, vgl. Uiblein 1968.

[42] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 272.

[43] Lackner 2000, Bd. 1, 517 f. Die Urkunde ist ediert in Uhlirz 1895, CXXI, Nr. 13299.

[44] Näheres zu dieser Hinterlassenschaft vgl. Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 455.

[45] Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 453.

[46] Siehe Simader ab 2007. Unter vielen anderen Erwähnungen dieses Werkes sei folgende Urkunde von 1438 vermerkt: Ein unbekannter Bürger der Stadt schenkt „ad librariam collegii ducalis (…) multi pretiosi libri“, u. a. ist das „libri sententiarium“ angegeben (http://www.onb.ac.at/sammlungen/hschrift/kataloge/universitaet/Artistenfakultaet.htm [27.05.2016]). Cf. Gottlieb 1915/1974, Bd. 1, 464, und Cod. 10061b, fol. 137r.

[47] Siehe zu A-Wn Cod. 4382 in Zapke, Urbane Musik. Zu Andreas von Weitra siehe ebenda unter Prosopographie.

[48] Vgl. Scriptores possessoresque Codicum medii aevi, Datenbank des Dr. Erwin Rauner Verlags, Bayerische Staatsbibliothek: https://www.nationallizenzen.de/angebote/nlproduct.2007-02-24.7849618050.

[50] Die erste Erwähnung des Fragments (mit Faksimile einer Seite) findet sich in Lackner 2000, 260 f. Beschreibung und Faksimile beider Seiten in Zapke/Wright 2015.

[51] Eine vergleichende Untersuchung der Dekanatsakten seiner Amtsperiode – 1426, 1430, 1441, 1443, 1452 ­–  ist zwar noch ausständig, könnte aber mehr Licht in diesen Zusammenhang bringen. Vgl. auch Prosopographie, Andreas von Weytra in: www.susanazapke.com [27.05.2016].

[52] Dies im Gegensatz zur Bibliothek des Priesters und Universitätsangehörigen Hermann Pötzlinger, beschrieben in Rumbold/Wright 2009, 205–214. Pötzlinger war allerdings kein Mitglied des Stephansklerus.

[53] Vgl. hier » E. Musik im Gottesdienst und » E. Überlieferung der Wiener Kirchenmusik..


Empfohlene Zitierweise:
Susana Zapke: „Universität und Musik. Musikbücher im universitären Umfeld „, in: Musikleben des Spätmittelalters in der Region Österreich <https://musical-life.net/essays/universitat-und-musik-musikbucher-im-universitaren-umfeld> (2016).