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Zum Repertoire der Handschrift A-Wn Mus.Hs. 15495

Birgit Lodes

Bis auf die erste Komposition, Jacob Obrechts Missa Salve diva parens (» D. Obrechts Missa Salve diva parens), sind alle im Wiener Prachtchorbuch >> A-Wn Mus.Hs. 15495 aufgezeichneten Messen hochmoderne Werke, geschaffen von zeitgenössischen Komponisten, die (im engeren oder weiteren Sinn) mit dem französischen Hof assoziiert waren: Antoine Févin, Loyset Compère, Antoine Bruhier, Pierrequin Thérache und – dem berühmten, ebenfalls noch lebenden und am französischen Hof intensiv rezipierten – Josquin Desprez.[12] Im Vergleich zu früheren Handschriften aus dem burgundisch-habsburgischen Handschriftenkomplex, stellt die außerordentlich starke Präsenz von modernem französischem Repertoire einen auffallenden Wandel dar.

Der Grund für diesen Repertoirewandel scheint in den politischen Ereignissen der Jahre 1507/08 zu liegen: Maximilian strebte bereits seit geraumer Zeit entschieden die Kaiserkrone an, was aber von den Franzosen mit ihren Bundesgenossen, den Venezianern, erfolgreich verhindert wurde. Mithin erschien Maximilian ein Krieg als unausweichlich und er zettelte auf dem Reichstag zu Konstanz 1507 (» D. Isaac und Maximilians Zeremonien, Kap. Musik für den Konstanzer Reichstag 1507) eine Hetzkampagne gegen die Franzosen und Venezianer an. Diese hinderten schließlich Maximilian in der Tat am Romzug und damit an der rechtmäßigen Kaiserkrönung, indem sie mit fast zehntausend Mann im Raum Verona lagerten. Letztendlich aber konnte Bischof Matthäus Lang am 4. Februar 1508 in einer feierlichen Zeremonie im Dom zu Trient Maximilian als erwählten Kaiser proklamieren und sein Anrecht auf die Kaiserkrone verkünden. Der Papst bestätigte den neuen Kaisertitel.[13]

Bald darauf, im Juni 1508, begab sich der frischgebackene Kaiser Maximilian in die Niederlande. Seine Tochter Erzherzogin Margarete bereitete dort eine grundlegende politische Wende, die Versöhnung mit Frankreich, vor. Nach wochenlangen Verhandlungen im Herbst 1508 kam es schließlich am 10. Dezember zur Einigung und damit zur „Liga von Cambrai“, die im Rahmen eines Festgottesdienstes in der dortigen Kathedrale verkündet wurde. Maximilian unterzeichnete die Verträge am 26. Dezember 1508 und ratifizierte die Liga am Brüsseler Hof am 5. Februar 1509. Offiziell bedeutete sie einen Pakt gegen die Türken, tatsächlich aber auch einen Angriffspakt (mit dem stärkeren der ehemals verbündeten Feinde) gegen die Venezianer. Für den französischen König Ludwig XII. wie für Maximilian kam dies einer radikalen Umkehrung der bisherigen Bündnispolitik gleich. Das aktuelle „französische“ Repertoire der Handschrift A-Wn Mus.Hs. 15495 scheint diesen grundlegenden politischen Richtungswandel unmittelbar zu spiegeln: Das offenbar während der Verhandlungen mit dem französischen Hof akquirierte und in die Handschrift aufgenommene Repertoire lässt sich als Abbild der neuen politischen und geistigen Ausrichtung verstehen, die das damalige Europa in der Folge jahrelang entscheidend prägte – und angefangen mit A-Wn Mus.Hs. 15495 in den burgundisch-habsburgischen Handschriften noch lange präsent bleiben sollte.

[12] Missa Faisantz regretz und Missa Une mousse de Biscaye – wobei letztere zwar unter Josquins Namen überliefert ist, wahrscheinlich aber nicht von ihm komponiert wurde.

[13] Zum historisch-politischen Kontext, vgl. u. a. Wiesflecker 1971–1986, Bd. 4, 1–27.