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Gattungen und Repertoires

Reinhard Strohm

Dass sich das Gesamtmaterial des spätmittelalterlichen Liedes in unterscheidbare Gattungen und Repertoires aufteilen lässt, ist nicht nur ein Ergebnis heutiger Forschung, sondern entspricht auch dem Bewusstsein damaliger Menschen von einer hierarchisch geordneten und immer nur stückweise zugänglichen Welt. So unterschied man im zentraleuropäischen Raum die Gattungen „Lied“, „Leich“, „Ruf“, „Spruch“ und „Leise“,[3] zusätzlich zu geläufigen lateinischen Gattungen wie „Hymnus“, „Sequenz“, „Tropus“, „Cantio“ oder „Versus“. Informelle Bezeichnungen für weltliche lyrische Gesänge waren auch „Liet“, „Wyse“ (Weise), „Rey(en)“ (Reigen, Tanzlied) oder „Par“ (Bar, von Barform). Im gesellschaftlichen Leben konnten bestimmte Gattungen für bestimmte Zwecke, Gelegenheiten, soziale Schichten oder Bevölkerungsgruppen reserviert sein.[4] Literaturwissenschaft und Musikwissenschaft gehen in der Einteilung des Materials unterschiedlich vor: Die erstere ordnet ihr Material naturgemäß nach Sprachen, wobei die zahlreichen zwischensprachlichen Vermittlungen, wie Übersetzungen (vgl. Kap. Traditionsbildung durch Übersetzung), Kontrafakturen (» B. SL Kontrafaktur) und Melodieentlehnungen, oft erst durch die Beschreibung von Einzelfällen zum Tragen kommen. Die Musikwissenschaft hingegen geht von musiktechnischen Unterscheidungen aus, wie vor allem den Gegensatzpaaren vokale / instrumentale Musik und Einstimmigkeit (Monophonie) / Mehrstimmigkeit (Polyphonie), die unser musikalisches Geschichtsbild des Mittelalters nach wie vor bestimmen. Dies vernachlässigt wichtige Repertoires, in denen einstimmige und mehrstimmige Überlieferung ungefähr gleichberechtigt vorkommen – wie insgesamt das geistliche Lied des 14. –15. Jahrhunderts. Und die Frage, inwieweit bei einstimmiger Überlieferung doch mehrstimmige oder instrumental-klangliche Aufführung zur Wahl stand, ist bisher zu wenig erforscht.[5]

Andreas Haug skizziert einen Überblick von 14 “Corpora“ (umfangreiche Sammlungen oder Quellengruppen) des mittelalterlichen Liedes, die in den Hauptsprachen Lateinisch, Okzitanisch, Französisch, Galizisch-Portugiesisch, Italienisch und Deutsch erhalten sind.[6] Diese Überlieferungskomplexe repräsentieren mehr oder weniger geschlossene Repertoires. Selbstverständlich hängen sie in sich zum Teil dadurch zusammen, dass die einzelnen Lieder durch Formen der Traditionsbildung aufeinander bezogen sind. Für das 14. und 15. Jahrhundert ist dieser Überblick nicht mehr umfassend genug: Es kommen mindestens noch Repertoires in niederländischer, englischer und tschechischer Sprache hinzu; das Repertoire der lateinischen Cantio erstreckte sich über mehrere Sprachgebiete, von Ungarn bis Skandinavien. Doch ist bemerkenswert, dass die heutige Musikgeschichtsschreibung für die Zeit nach ca. 1350 mit Ausnahme der italienischen Lauda nur noch deutschsprachige Überlieferungskomplexe des einstimmigen Liedes ins Auge fasst.

[3] Hier sei “Lied” im engeren Sinn verstanden, z. B. im 14. Jahrhundert als lyrischer Gesang mit Refrain, im Gegensatz zu refrainlosem und eher didaktischem „Spruchsang“ oder „Meistersang“ (vgl. Brunner/Hartmann 2010) und unstrophigen Formen wie Leich und Sequenz. Zu Rufen und Leisen vgl. » B. Geistliches Lied.  

[4] Manche Gattungs- und Repertoiregrenzen sind freilich erst von der modernen Forschung gezogen worden, wie z. B. zwischen „Lied“ und „Chanson“: vgl. Kirnbauer 2011.

[5] Neue Ansätze bietet Lewon 2016.

[6] Haug 2004, 69 f.