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Ein zentraleuropäischer Sonderweg?

Reinhard Strohm

Inwieweit außerhalb des deutschsprachigen Raums nach ca. 1350 noch einstimmige Liedcorpora gebildet oder praktiziert wurden, bleibt fraglich. Die vorwiegend weltlichen, einstimmigen Quellen des deutschen Spruchsangs (der ersten Phase des Meistersangs im 14. und frühen 15. Jahrhundert)[7] sowie um und kurz nach 1400 das Schaffen bedeutender Liederdichter im süddeutsch-österreichischen Raum erwecken den Anschein, man habe in diesem Raum den Zug der Zeit verpasst und weiterhin einstimmig komponiert, während andere europäische Regionen zur mensuralen Mehrstimmigkeit übergegangen waren. Offenbar blieb die deutschsprachige Musikkultur der vorangegangenen Epoche stärker verbunden: Sogar bei den führenden Liedautoren – dem Mönch von Salzburg (ca. 1350–ca. 1410; » B. Geistliche Lieder des Mönchs von Salzburg) und Oswald von Wolkenstein (ca. 1377–1445; » B. Oswalds Lieder) – tritt Mehrstimmigkeit noch selten auf, und wenn, dann meist in geborgten Gewändern.[8] Denn zumindest Oswalds mehrstimmige Lieder sind überwiegend Kontrafakte nach fremdsprachigen Vorbildern. Andererseits belegen gerade diese Kontrafakte, und ihre vermittelnden Vorbilder, eine aufmerksame Rezeption der neuesten weltlichen Polyphonie Frankreichs und Italiens: Es war ein Herstellen alternativer Verknüpfungen und Traditionen.[9]

Zu den Liedern ihrer Zeitgenossen, des Vorarlberger Grafen Hugo von Montfort (1357–1423) und des südwestdeutschen Klerikers Heinrich Laufenberg (1391–1460), haben wir nur einstimmige Melodien. Doch befinden sich heute in österreichischen Bibliotheken etwa 20 meist fragmentarische Niederschriften anonymer Liedkompositionen des späten 14. und frühen 15. Jahrhunderts im polyphonen Stil der Ars nova und in Fremdsprachen (» C. Ars antiqua und Ars nova).[10] Man sollte zwischen den autor-orientierten Repertoires des einstimmigen Kunstliedes einerseits und den anonymen, technisch manchmal anspruchsvollen mehrstimmigen Kompositionen nach fremden Vorlagen unterscheiden. Bei den letzteren tritt der literarische Anspruch entschieden zurück. Mensurale Musik wurde schon kurz nach 1400 in manchen Klöstern und Kirchen gepflegt, sei sie nun importiert gewesen oder am Ort selbst entstanden.

In der weltlichen Liedpraxis dieser Region beeindruckt die Kontinuität. Manche Lieder, die man nach 1400 noch gesungen oder jedenfalls aufgeschrieben hat, gehen, z. T. über Zwischenfassungen, auf das 13. oder sogar 12. Jahrhundert zurück (vgl. auch » B. Das Phänomen „Neidhart“). Stücke aus den Carmina Burana (ca. 1230) und andere Beispiele des Minnesangs und der lateinischen Goliardenlyrik erscheinen noch in Quellen des 15. Jahrhunderts. Christoph März bemerkte inhaltliche Parallelen zwischen den Carmina Burana und einer Sammlung von Liedern u. a. des Mönchs, der sogenannten „Sterzinger Miszellaneenhandschrift“ im Stadtarchiv Sterzing/Vipiteno (I-VIP o. Sign., ca. 1410): Beide Handschriften mischen lateinische und deutsche, geistliche und weltliche Lyrik, beide überliefern Gedichte Neidharts und des Marners und in beiden herrscht ein antipäpstlicher oder antiklerikaler Ton.[11] Wenn man davon ausgeht, dass die beiden Handschriften „im selben Raum“ entstanden sind, nämlich in Neustift/Novacella oder dessen Umgebung, wäre auch eine regionalspezifische Kontinuität gegeben. Der von Bernhard Bischoff eruierte Entstehungsort der Carmina Burana am Bischofshof von Seckau (Steiermark) bleibt aber wahrscheinlicher.[12] In jedem Fall ist nach dem sozialen Ort (die Autor-, Hörer- und Leserschaft) solcher Liedpflege zu fragen, der sich zwischen dem 13. und 15. Jahrhundert stark verändert haben kann.

[7] Schanze/Wachinger 1988.

[8] Zur eigenständigen Mehrstimmigkeit vgl. Welker 1984/1985Welker 1990.

[9] Schwindt 2004 stellt die Abhängigkeit der deutschen Liederdichter von der westeuropäischen Kultur der formes fixes dar.

[10] Vgl. auch [Lewon, Marc:] Musikleben-Supplement: News and by-products from the research project “Musical Life of the late Middle Ages in the Austrian Region (1340–1520)”URLhttp://musikleben.wordpress.com/ [02.05.2016]. Der Nachweis, seit wann sich diese Niederschriften in Österreich befanden und ob sie hier musikalisch verwendet wurden, ist oft schwierig.

[11] März 1999, 125.

[12] Hilka/Schumann/Bischoff 1930–1970.