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Entstehungsanlässe von (spät-)mittelalterlichen Kompositionen

Birgit Lodes

Für Kompositionen aus der Zeit des (Spät-)Mittelalters ist es selten möglich, genaue Entstehungszeiten oder gar -anlässe nachzuweisen. Am ehesten gelingen solche Verortungen noch im Bereich der sogenannten „Staatsmotette“[1], wenn in den spezifisch für den Anlass gedichteten lateinischen Texten konkrete Namen oder Ereignisse angesprochen werden (» D. Isaac und Maximilians Zeremonien, » I. Isaac’s Amazonas, » D. Albrecht II. und Friedrich III.). Kompositionsanlässe für Vertonungen des Ordinarium Missae („Messvertonungen“) lassen sich hingegen äußerst selten bestimmen. Durch den feststehenden liturgischen Text eignen sie sich grundsätzlich für jedwede Messfeier, die mehrstimmig ausgestaltet werden soll.

Gleichwohl gibt es Möglichkeiten, die Entstehungszeit einer Komposition – etwa codicologisch – einzugrenzen und über die Verwendung von spezifischem textlichem und musikalischem Material Aussagen darüber zu treffen, an welchen Tagen eine Messe passender Weise erklungen sein mag. Die Verwendung einer liturgischen Melodie (z. B. für Ostern, Weihnachten, Marienfeste, bestimmte Heilige) als Cantus firmus, kann auf den gottesdienstlichen Zusammenhang verweisen, für den die Vertonung entstand. Manchmal lässt sich auf diese Weise sogar eine Verbindung zu genau datierbaren Messenstiftungen herstellen.[2]

Auf einem solchen Wege soll im Folgenden eine Kontextualisierung für Jacob Obrechts Missa Salve diva parens vorgeschlagen und das zugrundeliegende Indizienmaterial präsentiert werden – freilich im Wissen um die Tatsache, dass es sich dabei allenfalls um eine gut begründete Hypothese, nie aber um einen „Beweis“ handeln kann. Es soll aber an diesem Beispiel auch demonstriert werden, dass solche (hypothetischen) Verortungen Perspektiven für neue Deutungsmöglichkeiten eröffnen.

[1] Vgl. Dunning 1970.

[2] Grundsätzliches zur symbolischen Beziehung von Cantus firmus-Material und Messkomposition bei Kirkman 2010. Reinhard Strohm kann die Entstehung zweier Obrecht-Messen mit Stiftungen in Brügge plausibel machen (Strohm 1985], 40 f., 146 f.). Zu Obrechts Missa Sub tuum presidium, siehe » J. Körper und Seele.